Seit über einem Jahr ist der gesetzliche Mindestlohn in Kraft. Die anfänglichen Schlachten sind geschlagen und der deutsche Arbeitsmarkt ist nicht – wie von einigen vorhergesagt – zusammengebrochen. Jetzt verschiebt sich die immer noch kontrovers geführte Debatte auf zwei andere Felder: Zum einen geht es um die Frage, wie die Höhe des Mindestlohns angepasst werden soll, zum anderen darum, ob und wer denn die Einhaltung des Mindestlohngesetzes in der Praxis kontrolliert und mögliche Verstöße sanktioniert.
Wohl nur begrenzte Orientierung an den Tariflöhnen
Die Mindestlohnkommission muss bis zum 30. Juni 2016 darüber entscheiden, welche Höhe der Mindestlohn ab dem 1. Januar 2017 haben soll. Sie hat ihre gesetzliche Grundlage in den Paragraphen 4 – 12 des Mindestlohngesetzes (MiLoG). In der Kommission sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit je drei Mitgliedern paritätisch vertreten. Es gibt einen von beiden Seiten gemeinsam benannten Vorsitzenden. Hinzu kommen zwei Wissenschaftler, die allerdings kein Stimmrecht haben und ebenfalls von den beiden Sozialpartnern als „beratende“ Mitglieder vorgeschlagen und von der Bundesregierung ernannt werden.
Wenn es nach Verdi-Chef Frank Bsirske ginge, müsste der Mindestlohn 2017 von 8,50 auf 10 Euro pro Stunde steigen. Auch die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) verlangt bereits seit Längerem einen Aufschlag von 1,50 Euro.
Medienberichten zufolge wird es dazu aber nicht kommen. 10 Euro pro Stunde sind ohnehin eher eine gewerkschaftliche Wunschzielgröße – mit so gut wie gar keinen Realisierungschancen. Aber selbst für die 9-Euro-Marke wird es wohl nicht reichen.
Dazu muss man wissen, nach welchem Mechanismus die Mindestlohnkommission bei der Anpassung des Mindestlohns arbeiten soll: Maßgeblich für eine mögliche Erhöhung ist die Tarifentwicklung, allerdings die „nachlaufende“, also mit einer entsprechenden Zeitverzögerung. Im § 9 des MiLoG findet man im Absatz 2 diese Formulierung: „Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung.“
Berechnungen des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) hatten im Januar ergeben, dass der Mindestlohn auf Basis der Tarifentwicklung durchaus auf knapp 9 Euro steigen könnte. Demnach stiegen die Tariflöhne in Deutschland 2014 und 2015 um insgesamt 5,5% – was eben diese Erhöhung um knapp 50 Cent rechtfertigen würde.
Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung will sich die Kommission aber nicht an dieser Rechenweise orientieren. „Da der Mindestlohn 2015 in Kraft getreten ist, will das Gremium bei der Anpassung auch erst von 2015 an die Tarifentwicklung berücksichtigen. Hinzu kommt das erste Halbjahr 2016. Was das für Tarifabschlüsse bringen wird, ist noch offen. Es gilt allerdings als sicher, dass nach dieser Rechenmethode nicht fast neun Euro, sondern eher ein Beitrag um die 8,85 Euro herausspringen wird“, so die SZ.
Was zunächst wie ein Verstoß gegen die weiter oben erwähnte Orientierungspflicht an den Tariflöhnen klingt, relativiert sich bei einem genaueren Blick in das Mindestlohngesetz. Denn der zitierte Absatz 2 eröffnet auch noch eine weit über die Tariflöhne hinausreichende Orientierungsdimension: „Die Mindestlohnkommission prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden.“
Und genau diese Passage bildet offenbar auch für die Gewerkschaftsvertreter in der Kommission die Grundlage, um nach unten von der Tariflohn-Orientierung abzuweichen. So sagte IG-Bau-Chef Robert Feiger einem Bericht der Jungen Welt zufolge, dass die Anpassung des Mindestlohnes „keine reine Rechenaufgabe“ sondern vielmehr ein „Gesamtpaket“ zu diskutieren sei.
Die Mindestlohnkommission ist mehr als eine Excel-Tabelle
Das ist ein wichtiger Punkt. Denn würde man tatsächlich die Anpassung des Mindestlohns auf eine statistische Abbildung der vorgängigen Tariflohnentwicklung reduzieren, dann könnte die Arbeit der Mindestlohnkommission auch durch eine Excel-Tabelle geleistet werden.
Die nicht abschließende Aufzählung der zu berücksichtigenden Faktoren eröffnet einen bunten Strauß an möglichen Bewertungskriterien für die Bestimmung der Mindestlohn-Höhe, deren Lösung alles andere als trivial ist. Allein die Bedingung, dass der Mindestlohn die „Beschäftigung nicht gefährden“ dürfe, eröffnet einen volkswirtschaftlichen Grundsatzkonflikt: Aus einer angebotsorientierten Perspektive ist der Mindestlohn vor allem ein Kostenproblem, der die Angebotsbedingungen auf der Unternehmensseite verschlechtert (woraus die Mainstream-Ökonomen ihre pessimistischen Arbeitsmarktprognosen abgeleitet haben). Dagegen stellt die nachfrageorientierte Perspektive darauf ab, dass die Lohneinkommen das Rückgrat des Konsums und damit des wichtigsten Bestimmungsfaktors für die Nachfragebedingungen der Unternehmen darstellen.
Aus letzterer Perspektive kann man einen höheren Mindestlohn legitimieren, selbst wenn dadurch einige betriebliche „Grenzanbieter“ möglicherweise durch Geschäftsaufgabe aus dem Markt ausscheiden würden. Denn insgesamt verbessern sich die Nachfrage- und damit die Absatzbedingungen für das Gesamtaggregat der Unternehmen, die dann durch diesen Impuls ihre Beschäftigungsmenge ausweiten – und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen eines höheren Mindestlohns. Das gilt umso mehr, weil vor allem die Haushalte, für die der Mindestlohn überhaupt relevant ist, in der Regel eine marginale Konsumquote von 100 Prozent haben, also jeder Euro mehr auch tatsächlich in den Konsum fließt und damit die Binnennachfrage stärkt.
Wie immer im volkswirtschaftlichen Leben sollte allerdings klar sein, dass das Optimierungsproblem an dieser Stelle deshalb so komplex ist, weil es eben gerade keine klar erkennbare Verlaufskurve gibt, bei der bis zur Höhe x ein Mindestlohn beschäftigungsförderlich oder mindestens beschäftigungsneutral ist und bei einem Überschreiten ein Abfall in den negativen Bereich zu erwarten ist. Das kann letztendlich nur durch Ausprobieren festgestellt werden.
Wann ist der Mindestlohn „existenzsichernd“?
Aber man kann natürlich auch einen anderen Bezugspunkt für Höhe des Mindestlohns wählen – und zwar die Frage, ab wann ein Mindeststundenlohn „existenzsichernd“ ist. So heißt es wie erwähnt in § 9 Abs. 2 des MiLoG, „die Mindestlohnkommission prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen.“
Auch diese Frage ist alles andere als einfach zu beantworten. So ist die Antwort unter anderem davon abhängig, welchen Existenzsicherungsbegriff man zugrunde legt, ob eine alleinstehende Person der Maßstab ist oder vielleicht sogar eine „Haushaltsgemeinschaft“ (also z. B. zwei Erwachsenen mit einem oder mehreren Kindern).
Eine vertiefende Auseinandersetzung mit dieser höchst komplexen Angelegenheit verdeutlicht, dass man auch noch weitere Bezugsdimensionen im Auge behalten muss. Die folgende Tabelle zeigt, wie unterschiedlich die Berechnungsergebnisse für unterschiedliche „existenzsichernde“ Stundenlöhne ausfallen.
Besonders deutlich ist der Unterschied der erforderlichen Stundenlöhne bei der Differenzierung nach Arbeit und Rente. Die deutlich höheren Beträge für einen erforderlichen Stundenlohn, um eine Existenzsicherung nach dem „Renten-Modell“ erreichen zu können, reflektiert die Sozialpolitikern gut bekannte Problematik eines seit den „Rentenreformen“ vor allem um die Jahrtausendwende absinkenden Rentenniveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung, so dass man schlichtweg mit höheren Stundenlöhnen gegensteuern müsste, nur um den erreichbaren Gegenwert aus den Beiträgen stabilisieren zu können. Legt man diese Messlatte an, dann wird klar, dass in allen Fallkonstellationen, selbst bei den niedrigsten Existenzsicherungsdefinitionen, schon der heutige Mindeststundenlohn nicht ausreicht, um im „Rentenmodell“ die Vorgabe einer Existenzsicherung erreichen zu können.
Wer kontrolliert eigentlich den Mindestlohn?
Aber es gibt noch eine andere „Baustelle“ des gesetzlichen Mindestlohnes: „Stell Dir vor, das Mindestlohngesetz tritt in Kraft, und keiner kann’s kontrollieren.“ Vor diesem Szenario warnte die IG BAU bereits im November 2014, also vor Einführung des Mindestlohnes am 1. Januar 2015. IG Bau-Chef Feiger forderte damals: „Das Bundesfinanzministerium muss effektive Überprüfungen sicherstellen, indem sie die Finanzkontrolle Schwarzarbeit mit ausreichend Personal ausstattet. Die derzeit 6700 Stellen müssen auf mindestens 10 000 aufgestockt werden.“
Feigers Forderung wurde offenbar nicht erhört. Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Grünen geht hervor, dass die Zahl der Lohnkontrollen im letzten Jahr deutlich zurückgegangen ist – von 63.014 im Jahr 2014 auf 43.637 Kontrollen in 2014.
Da wird man schon stutzig, denn eigentlich könnte man ja erwarten, dass die Zahl der Kontrollen in 2015 schon ganz grundsätzlich deutlich angestiegen sein müsste, angesichts der Tatsache, dass vor dem 1. Januar 2015 zwar die Branchenmindestlöhne schon in der Welt waren, aber der gesetzliche Mindestlohn dazu gekommen ist und die Grundgesamtheit der zu beobachtenden Unternehmen enorm angestiegen ist.
Von der FKS durchgeführte Lohnkontrollen
Diese an sich schon überraschende Erkenntnis wird noch kurioser, wenn man sich die ebenfalls in der Grafik dargestellten Zahlen für die einzelnen Branchen anschaut. So sind die Kontrollen vor allem im Bauhaupt- und -nebengewerbe drastisch zurückgegangen. 2014 wurden noch 30.729 Unternehmen auf Lohnbetrug geprüft, 2015 waren es nur noch 16.681. Ebenfalls rückläufig waren die Kontrollen bei Leiharbeitsfirmen, Pflegedienstleister und Gebäudereiniger – genau wie das Baugewerbe allesamt Branchen, die besonders anfällig für Lohndumpingversuche und missbräuchliche Arbeitsbedingungen sind.
Die Gründe für diese Entwicklung liegen auf der Hand: Der dafür zuständigen Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zollverwaltung (FKS) fehlt schlichtweg das Personal. Laut der Antwort der Bundesregierung „standen der FKS in 2015 6.865 Planstellen und Stellen zur Verfügung“. Von denen waren aber 600 unbesetzt. Eine Aufstockung der Prüfer – angedacht sind 1.600 weitere Stellen – soll erst in den Haushaltsjahren 2017 – 2022 vorgenommen werden. Und weiter schreibt die Bundesregierung: „Die Sollstärke des für die Umsetzung der Kontrolle des Mindestlohngesetzes erforderlichen Personals wird voraussichtlich in 2019 erreicht.“
Hinzu kommt: Vor einiger Zeit wurde aus den Reihen der Regierung gefordert, dass die Zollbeamte, die sich gerade in der Ausbildung befinden bzw. demnächst fertig werden, zur Bewältigung der vielen Zuwanderer („Flüchtlingskrise“) abgestellt werden sollen. Dann fehlen sie aber faktisch für die Mindestlohnkontrollen.
Wir halten fest: Die Zahl der Kontrollen hat deutlich abgenommen, obgleich sich das Kontrollfeld wie auch die zu kontrollierende Menge erheblich ausgeweitet haben. Die Verantwortlichen können sich übrigens nicht rausreden mit dem Hinweis, man habe den Personalengpass nicht voraussehen können oder gar unterschätzt. Das Thema wurde frühzeitig diskutiert (etwa hier und hier).
Gerade am Anfang der flächendeckenden Implementierung einer Schutzregelung wie einer absoluten Lohnuntergrenze muss man das Einhalten dieser Regelung verstärkt und durchaus offensiv nach außen kontrollieren, um ein Zeichen zu setzen. Das kann dann später durchaus runtergefahren werden, wenn sich die Akzeptanz der Mindestlohngrenze in den Köpfen der Arbeitnehmer und der Arbeitnehmer festgesetzt hat und man schon besondere kriminelle Energie an den Tag legen muss, um diese Grenze zu unterschreiten.
In Deutschland hingegen ist man genau den anderen Weg gegangen – und das wird sich möglicherweise bitter rächen. Wobei abschließend darauf hingewiesen werden sollte, dass die Kontrolle eines so wichtigen Instruments wie des Mindestlohns nicht auf die reinen Prüfungen seitens des Zolls reduziert werden darf, die aber alleine schon nicht ausreichend funktionieren.
Zum Autor:
Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell das Portal Aktuelle Sozialpolitik, auf dem dieser Beitrag zuerst erschienen ist.