Man kann Andrea Nahles sicher nicht vorwerfen, dass sie die Lage der europäischen und der deutschen Sozialdemokratie schönreden würde. „Es (ist) uns bisher nicht gelungen, genügend Antworten auf die Zukunft zu geben, den Leuten die Ängste zu nehmen und mehr Vertrauen zu generieren“, so die SPD-Chefin auf einem Parteitag Anfang des Jahres.
Und mit dieser Einschätzung ist Nahles keinesfalls allein – Wissenschaft, Journalismus und selbst betroffene Politiker/innen scheinen sich einig in ihrem Befund, dass der Sozialdemokratie ein Narrativ für das 21. Jahrhundert fehle. Dies ziehe einen Mangel an konkreten Zielen und glaubwürdigen politischen Botschaften nach sich, womit die Sozialdemokratie für Intellektuelle, Parteivolk und Elektorat gleichermaßen an Anziehungskraft verliere.
Die Globalisierung zähmen
Dieser Befund erstaunt in Anbetracht dessen, dass die Spitzen der europäischen Sozialdemokratie eigentlich eine recht plausible Story parat haben. Diese lässt sich aus diversen Reden (hier eine Übersicht) konstruieren. Das Narrativ lautet in etwa:
„Die Globalisierung ist die Ursache für zunehmende Ungleichheit und einen Kontrollverlust staatlicher Steuerung. Um das Primat der Politik über die Wirtschaft zurückzugewinnen, müssen die Staaten in einer globalisierten Welt transnational politisch kooperieren. Der europäische Beitrag besteht darin, die EU sowohl intern als auch extern politisch handlungsfähiger zu machen, was eine Vertiefung der Integration der EU erfordert.“
Das Narrativ unterscheidet sich vom alten Marktliberalismus, weil es eine politische Steuerung des gesellschaftlichen Geschehens betont. Es unterscheidet sich von neuen Nationalismen à la „America first“, weil es multilateral angelegt ist und niemanden übervorteilen möchte. Es handelt sich um den kooperativen Versuch, das Primat der Politik über die globalisierte Wirtschaft zurückzugewinnen. Dieses lupenrein sozialdemokratische Narrativ wird sogar von einem Liberalen wie Emmanuel Macron und von „Marktdirigisten“ wie dem chinesischen Regierungschef Xi Jinping aktiv forciert. Selbst die konservative britische Premierministerin Theresa May grenzte sich letztes Jahr von der alten Orthodoxie ab, die den Rückzug des Staates predigt. Der wachsenden Ungleichheit gelte es mit einer aktiven Rolle der Politik in der Wirtschaft zu begegnen.
Kluft zwischen Erzählung und Programm
Im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Befund gibt es offenkundig also doch ein wirkmächtiges Narrativ, das sogar weit über die sozialdemokratischen Parteien hinausstrahlt. Doch diese sozialdemokratische Erzählung verfängt nicht, weil die Übereinstimmung von Rhetorik und Programm nur gering ist – und einmal geschürte Erwartungen, die dann aber nicht eingehalten werden, wirken enorm frustrierend.
Die Europawahl 2014 war diesbezüglich sehr illustrativ. Der damalige sozialdemokratische Spitzenkandidat Martin Schulz hatte zum Wahlkampfauftakt die „nochmalige Bändigung des Kapitalismus“ in einer rhetorisch beeindruckenden Rede angekündigt.
Doch das Programm von Martin Schulz war inhaltlich handzahm und nicht wirklich geeignet, als Alternative zum marktliberalen Mainstream zu fungieren. Die Arbeitslosigkeit wollte Schulz dadurch bekämpfen, dass Unternehmen leichteren Zugang zu Krediten bekommen und mehr investieren. Schulz war überdies mit Einschränkungen für das Freihandelsabkommen TTIP, damit Europa wettbewerbsfähiger wird. Ebenso wurde die Notwendigkeit einer digitalen Agenda mit dem Ziel von mehr Wettbewerbsfähigkeit argumentiert. Lediglich die Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerflucht sowie die Finanztransaktionssteuer betrafen wirklich substantielle politische Antworten auf die Probleme unserer Zeit.
Freihandelsabkommen sind ein anschauliches Beispiel für den inhärenten Widerspruch: Der Investitionsschutz im Rahmen von TTIP oder CETA räumt die Möglichkeit ein, gegen eine politische Regulierung zu klagen, die profitmindernd wirkt und erst nach einer getätigten Investition beschlossen wurde. Diese Abkommen sind nichts anderes als ein Primat wirtschaftlicher Interessen gegenüber politischer Regulierung und eine offenkundige Limitation demokratischer Spielräume – und damit das genaue Gegenteil von der „Zähmung der Globalisierung“.
Ähnliches gilt für die „Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“. Bei einer solchen „Standortpolitik“ ist schon konzeptionell ein Unterbietungswettbewerb bei Löhnen, Steuern oder ökologischen Standards angelegt, der am Ende des Tages eine Einschränkung politischer Handlungsfähigkeit und keine Ausweitung derselben bringt.
Einige konkrete Maßnahmen sind also nicht nur ungeeignet, in die Richtung des Narrativ von der „Zähmung der Globalisierung“ zu wirken, sie dienen vielmehr der weiteren Einschränkung demokratischer, transnationaler Steuerung gegenüber den sogenannten „wirtschaftlichen Interessen“. Insofern handelte es sich bei der offiziellen Rhetorik des Martin Schulz über weite Strecken um eine Täuschung, die zwangsweise Enttäuschungen produzieren muss. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass große Teile des Mitte-links-Spektrums regelmäßig eine durchaus gute Geschichte kapern, um in deren Schatten programmatisch einen „Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz“ voranzutreiben.
Aus der Sicht eines sozialdemokratischen Spitzenkandidaten wirkt die Strategie kurzfristig gewinnbringender als eine riskante, offene Konfrontation mit dem marktliberalen Establishment. Mittel- und langfristig erodiert aber damit natürlich die Glaubwürdigkeit der gesamten politischen Bewegung. Und noch gravierender: Die im Kern taugliche „große Erzählung“ wird nachhaltig beschädigt.
Die Erzählung vom Wirken der demokratischen Nation
Die historische Vorlage für die aktuelle „große Erzählung“ ist jene von der Bändigung des Kapitalismus auf nationaler Ebene. Denn vor 150 Jahren gab es innerhalb der europäischen Staaten kaum festgelegte Normen für die Produktion und den Verkauf von Waren. Die politische Regulierung war minimal, die wirtschaftliche „Freiheit“ maximal – die katastrophalen Bedingungen der frühen Industrialisierung sind hinlänglich bekannt.
Wer dagegen heute innerhalb eines europäischen Staates Waren produziert und verkauft, muss das Arbeitsrecht, Arbeitnehmerschutzbestimmungen, Umweltauflagen, abgabenrechtliche Bestimmungen oder den Konsumentenschutz berücksichtigen. Diese sozioökonomischen Regulierungen haben sozial-, gesundheits- und umweltpolitische Motive, dienen dem Schutz von VerbraucherInnen oder entsprechen einfach dem Gerechtigkeitsempfinden einer Gesellschaft. Wir bezeichnen Regulierungen dieser Art in Folge als „Sozialnormen“.
Sozialnormen sind das Resultat normativer Vorstellungen. Wird eine Sozialnorm in einer Demokratie von ausreichend vielen Leuten als richtig empfunden, hat sie gute Chancen auf Umsetzung. Den Rahmen dafür bot der Nationalstaat, der sich im 20. Jahrhundert als sehr wirksames Instrument der Demokratie entpuppte. Durch die demokratische Implementierung normativer Vorstellungen im Rahmen des Nationalstaates wurde aus der frühkapitalistischen Herrschaft des Faustrechts eine zivilisierte, ökosozial regulierte Marktwirtschaft. Der hohe Standard sozialer Normen von heute ist ein Ergebnis aus 150 Jahren demokratischer Domestizierung des Kapitalismus.
Wirtschaftliche Freiheit und Sozialnormen in der EU
Die Europäisierung, die nichts anderes ist als eine regionale Globalisierung, brachte eine erste Irritation in diese Erzählung. Sie hat das im 20. Jahrhundert erwirkte (und ökologisch bereits prekäre) Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Norm verschoben.
In der EU gelten vier Grundfreiheiten: freier Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr. Die Grundfreiheiten sind primär wirtschaftlicher Natur, während die Sozialnormen schwächer ausgeprägt sind. Es gibt arbeitsrechtliche Mindeststandards durch die EU (z.B. vier Wochen Mindesturlaub) sowie einige umweltpolitische Richtlinien. Eingriffe in die Steuerpolitik (nationale Kompetenz) sind selten, bei Löhnen und Sozialversicherung gibt es keine Mindeststandards.
Insgesamt sehen wir auf EU-Ebene ein erhebliches Ungleichgewicht zwischen ökonomischen Freiheiten und sozialer Norm. So hat beispielsweise eine Händlerin die Freiheit, Waren aus Portugal in beliebiger Menge nach Deutschland zu importieren. Es gelten für die Produktion, abseits nationaler Regelungen im Herkunftsland, nur die EU-Mindeststandards. Die in Deutschland gültigen Auflagen müssen nicht erfüllt worden sein. Die europäische Dichte an Sozialnormen ist nicht so hoch wie innerhalb Deutschlands. So beträgt beispielsweise der Mindestlohn in Rumänien nur 400 Euro. Die Anwendung der EU-Grundfreiheiten bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Integration Osteuropas verdeutlich das Spannungsfeld. Freier Handel, bei sehr unterschiedlichen Lohnniveaus und Standards, sorgt automatisch für Druck. Der Historiker Philipp Ther interpretiert die marktliberale Agenda 2010 in Deutschland sogar als „Ko-Transformation“, die aus Osteuropa angestoßen wurde.
Seit den 1990er Jahren gab es neben der Ostöffnung eine parallele Entwicklung, die Druck auf Sozialnormen begünstigte: die von der EU-Kommission forcierte Politik zur „Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“. Meistens sind damit Absatzsteigerungen im Außenhandel sowie höhere Exportmarktanteile gemeint. Das Problem ist nur, dass die wichtigsten Handelspartner der einzelnen EU-Länder die anderen EU-Länder sind. Wenn nun alle versuchen, höhere Exportmarktanteile zu gewinnen, muss es Verlierer und Gewinner geben. Viele Länder – allen voran Deutschland – haben versucht, sich für diese Auseinandersetzung zu „rüsten“, indem Löhne eingefroren, Unternehmenssteuern gesenkt und über die Deregulierung des Arbeitsmarkts ein Niedriglohnsektor geschaffen wurde, um Kostenvorteile im Export zu generieren. Dadurch wurden Sozialnormen unter EU-Ägide eingeschränkt.
Freier Handel & globaler Unterbietungswettbewerb
Die außereuropäische Globalisierung wurde primär durch Freihandelsabkommen vorangetrieben. Die politischen Konsequenzen von TTIP oder CETA wurden bereits weiter oben beschrieben. Doch auch ohne Investitionsschutz hat Freihandel gravierende Implikationen. Internationale Freihandelsabkommen bedeuten im Prinzip, dass die vier EU-Grundfreiheiten international verwirklicht werden (wobei der freie Personenverkehr auf spezifische Fachkräfte beschränkt bleibt).
Für den Handel mit Staaten außerhalb der EU gelten nicht einmal die lückenhaften EU-internen Bestimmungen. Wer als Händler eine Ware aus Bangladesch in die EU importiert, muss kaum Auflagen beachten (max. Konsumentenschutz). Für die Produktion dieser Ware bestehen also genauso wenig Regulierungen wie für die Produktion in einer europäischen Nation vor 150 Jahren – die Sozialnormen sind minimal, die wirtschaftliche „Freiheit“ maximal. 150 Jahre Durchsetzung zivilisatorischer Standards spielen im internationalen Handel plötzlich keine Rolle mehr. Freihandel ohne Sozialnormen bedeutet, dass international wirtschaftliche Freiheiten ohne Flankierung jener Regulierungen gewährt werden, die national selbstverständlich sind.
Die Implikationen dieser Erkenntnis sind weitreichend: Umso stärker eine Volkswirtschaft in die internationale Wirtschaft integriert ist, umso mehr kommen ihre nationalen Standards unter Druck. Drei Kanäle sind dafür verantwortlich:
Umfangreiche Importe erhöhen den Druck auf heimische Unternehmen, die im Gegensatz zu ihren ausländischen Mitbewerbern auf heimische Standards achten müssen. Die Unternehmen, die ihre Marktanteile am Heimmarkt verteidigen möchten, geben den Druck an die Politik weiter. Eine solche defensive Forcierung der Wettbewerbsfähigkeit kann zu einem Unterbietungswettbewerb bei Sozialnormen führen.
Umfangreiche Exporte setzen heimische Unternehmen der internationalen Konkurrenz auf globalen Absatzmärkten aus. Die Unternehmen sind dann leicht dazu geneigt, Druck auf die Politik auszuüben, ihre Wettbewerbsbedingungen zu verbessern. Eine solche offensive Forcierung der Wettbewerbsfähigkeit kann zu einem Unterbietungswettbewerb bei Sozialnormen führen.
Umfangreiche Direktinvestitionen multinationaler Unternehmen sollen sich rasch amortisieren. Investitionsfreudige Unternehmen sind dann leicht dazu geneigt, Druck auf die Politik auszuüben, Standortbedingungen zu verbessern. Eine solche offensive Forcierung der Standortkonkurrenz kann zu einem Unterbietungswettbewerb bei Regulierungen führen.
Durch die internationale Wirtschaftsverflechtung entstehen Sachzwänge, durch die politische Regulierungen, die sich bisher als nützlich erwiesen, plötzlich kontraproduktiv wirken können. Demokratische Entschlüsse, die bis dahin als unumstößlich galten, können somit ausgehebelt werden. Freihandelsgetriebene Globalisierung bedeutet demnach automatisch mehr Markt und weniger Staat (hier haben wir dieses Argument am Beispiels Österreichs noch detaillierter ausgeführt).
Diese Standortargumente, die bereits seit Jahrzehnten die stärkste rhetorische Figur von Marktliberalen und Wirtschaftsverbänden sind, werden umso glaubwürdiger, umso stärker eine Volkswirtschaft globalisiert ist. Die zunehmende Globalisierung wirkt dann wir ein Regulierungshemmnis: Regierungen werden sich hüten, Sozialnormen durchzusetzen, die (tatsächlich oder vermeintlich) zu Wohlstandsverlusten führen könnten. Insofern nimmt mit Zunahme der Außenhandelsverflechtung die Souveränität des demokratischen Nationalstaates ab.
Außenhandelsverflechtung und politische Souveränität
Länder wie die USA, die einen großen Binnenmarkt und gemessen an ihrer gesamten Wirtschaftsleistung eine geringe Außenhandelsverflechtung aufweisen, nennt man „geschlossene Volkswirtschaften“. Länder, die wie die EU-Staaten Belgien, die Slowakei oder Österreich, kleine Binnenmärkte haben und stark in den internationalen Handel verflochten sind, bezeichnet man hingegen als „offene Volkswirtschaften“. Frankreich und Deutschland liegen dazwischen.
In einer geschlossenen Volkswirtschaft ist die Spielanordnung zwischen Politik und Wirtschaft prinzipiell anders als in einer offenen. Das betrifft alle drei der zuvor aufgezeigten Kanäle: Erstens sind weniger Branchen von Importkonkurrenz betroffen, was den Druck auf heimische Standards verringert. Zweitens spielt das Argument der Wettbewerbsfähigkeit nicht so eine starke Rolle, da nur ein relativ kleiner Sektor der Wirtschaft von Exporten abhängig ist. Drittens kann ein multinationales Unternehmen, das z.B. den US-Markt beliefern möchte, mit seinem Produktionsstandort nicht problemlos ausweichen.* Das Argument, dass die Regulierung von Löhnen, Steuern, Umweltauflagen oder arbeitsrechtlichen Standards negative Auswirkungen auf den Standort hat, ist insgesamt deutlich weniger plausibel. In einer großen geschlossenen Volkswirtschaft mit einem starken eigenen Binnenmarkt hat die Demokratie prinzipiell mehr Durchschlagskraft gegenüber der Wirtschaft, als in einer kleinen offenen.
Der entscheidende Punkt aus europäischer Perspektive ist: Die einzelnen EU-Staaten sind isoliert betrachtet sehr stark in den internationalen Handel verflochten. Die gesamte EU als Einheit ist jedoch eine relativ geschlossene Volkswirtschaft. Wie die USA kann die EU fast alles selbst produzieren, was sie benötigt. Darum werden laut WTO-Daten jeweils nur ca. 15 Prozent der EU-Produktion exportiert und des Konsums importiert. Das bedeutet: Für die EU gilt zwischen Politik und Wirtschaft theoretisch die Spielanordnung einer geschlossenen Volkswirtschaft.
Die EU muss auf ausländische Konzerne gar keine Rücksicht nehmen und auf nationale Schlüsselindustrien nicht so viel wie die Regierungen der betroffenen Staaten. Wenn die Slowakei mit Konzernen verhandelt, dann wackelt der Schwanz mit dem Hund. Wenn die EU mit Konzernen verhandelt, könnte es umgekehrt sein.
Die EU ist trotz Schwächen ein Hebel für sozialen Fortschritt
Für eine Politik, die offensiv Sozialnormen durchsetzt, fehlen in der EU aktuell die Mehrheiten. Überdies ist die Regulierungskompetenz der EU in Fragen der Lohn-, Sozial-, Steuer- oder Umweltpolitik lückenhaft oder inexistent. Dabei wäre die EU jene Ebene, die definitiv die Durchsetzungskraft hätte, demokratische Regulierung und normative Vorstellungen – auch gegen Lobbyinteressen – durchzusetzen. Das zentrale, zu behebende Problem ist also der mangelnde Handlungsrahmen, über den die Union derzeit verfügt.
- Das erste und älteste Hindernis dafür besteht im Widerstand der Nationalstaaten gegen Kompetenzverluste. Das Problem kann die EU nur indirekt durch Attraktivität adressieren.
- Das zweite Hindernis ist hausgemacht und Folge des obsessiven Fokus auf „Wettbewerbsfähigkeit“. Wenig überraschend unterläuft ein wirtschaftlicher Wettbewerb zwischen den EU-Staaten die politische Integration. Jede Form des Unterbietungswettbewerbs auf Kosten von Löhnen, Arbeitsbedingungen oder Wohlfahrtsstaat schürt den Wunsch nach nationaler Protektion – ein nationaler Wirtschaftswettbewerb wird immer auch einen politischen Nationalismus entfachen.
- Das dritte Hindernis ist ebenfalls hausgemacht und Folge der von der EU aktiv forcierten Globalisierung unter dem Banner des Freihandels. Dies erzeugt ein permanentes Klima der existentiellen Verunsicherung. Das ist der Nährboden, auf dem die kulturelle Verunsicherung besonders gedeiht und wiederum Wasser auf die Mühlen des Nationalismus. Dabei wäre eine andere EU der denkbar effektivste Schutz vor den Risiken der Globalisierung.
Selbst wenn es gelänge, eine handlungsfähigere europäische Ebene zu etablieren, bedeutet dies noch lange nicht, dass sich dort wirklich Mehrheiten finden, um das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft durchzusetzen.
Umgekehrt ist aber auch klar: Ohne die europäische Ebene haben höchstens große EU-Staaten eine Chance auf partiellen sozialen Fortschritt. Große Veränderungen werden sie aber auch nicht alleine stemmen können. Mittlere und kleinere EU-Staaten haben ohne Zusammenschluss wenig Handlungsspielraum. Ohne EU ist hingegen durchaus vorstellbar, dass die hohen nationalen Standards in (West-)Europa im Zuge der Globalisierung noch stärker unter Druck kommen. Der große, relativ geschlossene europäische Binnenmarkt, kann potentiell einen effektiven Schutz gegen einen Unterbietungswettbewerb in den einzelnen Mitgliedsstaaten bieten. Die EU ist keine Garantie für sozialen Fortschritt – aber ohne EU ist der soziale Fortschritt garantiert stark limitiert.
Das Primat der Politik durch Europa erlangen
Die Programmatik sozialdemokratischer Spitzen bestand bisher darin, unter Zähmung der Globalisierung zu verstehen, dass eine objektiv notwendige internationale Wirtschaftsverflechtung durch moderate soziale Flankierungen abgefedert werden kann. Diese Strategie ist politisch nicht tragfähig. Mittlerweile vertrauen schon mehr Menschen nationalistischen Antworten, garniert mit Rassismus und Reaktion, als der sozialdemokratischen Schein-Zähmung. Wie aber könnte die sinnvolle große Erzählung von der „Zähmung der Globalisierung“ mit einem in sich konsistenten, in der Stoßrichtung eindeutigen und wirksamen Programm versehen werden? Zu einer solchen Durchsetzung des Primats der Politik in Europa sind folgende Maßnahmen nötig:
- Globalisierungspause
Die EU ist fast gleichauf mit China und deutlich vor den USA der zweitgrößte Exporteur der Welt. Es gibt aus europäischer Sicht keine objektive wirtschaftliche Notwendigkeit, weitere Freihandelsabkommen oder eine Vertiefung der globalen Wirtschaftsverflechtungen voranzutreiben – im Gegenteil: Jede weitere Verflechtung in den Welthandel unterminiert die politische Souveränität der Europäer/innen. Globalisierungspause bedeutet das Einfrieren aller Verhandlungen über weitere Freihandelsabkommen.*
- Zivilisierter Handel
Globalisierungspause bedeutet auch, den Rückstand an politischer Regulierung aufzuholen. Die EU kann versuchen, bestehende Handelsabkommen in Bezug auf soziale, ökologische und steuerrechtliche Standards nachzujustieren (einige Linzer Ökonomen haben ein Konzept für einen solchen „zivilisierten Markt“ entwickelt). Über neue Handelsabkommen kann erst nachgedacht werden, wenn der zivilisierte Handel ein durchgesetzter Standard ist.
- Sozialer Binnenmarkt
Das innereuropäische Ungleichgewicht zwischen wirtschaftlichen Grundfreiheiten und politischer Regulierung muss beseitigt werden. Der Binnenmarkt soll erhalten bleiben, aber sozial reguliert werden. Um einen innereuropäischen Unterbietungswettbewerb rund um Sozialnormen zu unterbinden, braucht es viel akzentuiertere Mindeststandard für Steuern auf Unternehmen und Kapital, für Löhne sowie für ökologische Auflagen und zulässige Emissionen.
Derlei Sozialnormen können in Relation zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Mitgliedslandes durchaus unterschiedlich sein und Korridorlösungen aufweisen. Hierbei sollten die europäischen Sozialpartner aktiv eingebunden werden. Diese „Zähmung der Globalisierung“ innerhalb der EU könnte man als sozialen Binnenmarkt bezeichnen. Der soziale Binnenmarkt wäre als demokratisch gestaltbarer Raum ein Gegenmodell zur „marktkonformen Demokratie“ (Angela Merkel), in der die Politik nur noch nachträglich und unvollständig unbefriedigende Marktergebnissen korrigiert.
- Steuerflucht, Steuerhinterziehung, Steuerumgehung unterbinden
Alle innereuropäischen Steueroasen müssen trockengelegt werden, der Kapitalverkehr mit dem außereuropäischen Ausland muss steuerrechtlich kontrolliert werden. Das Bankgeheimnis muss in der gesamten EU aufgehoben werden. Sonderdeals multinationaler Konzerne mit einzelnen Mitgliedsstaaten müssen unterbunden werden. Die EU-Steuer auf Internetkonzerne muss zur Durchsetzung kommen.
- EU-Lobbyismus bekämpfen
Es braucht ein europäisches Lobbyregister, wie NGOs es schon lange fordern. Der übergangslose Wechsel zwischen Politik und Wirtschaft („Drehtüreffekt“) muss gesetzlich stark eingeschränkt werden. Das Outsourcen des Verfassens von Gesetzestexten an Private muss unterbunden werden. Bei den Einkünften von Abgeordneten, Kommissionsmitgliedern und Spitzenbeamten muss völlige Transparenz herrschen.
- Die Finanzmärkte abkühlen und regulieren
Verbote sind auf den Finanzmärkten schwer durchzusetzen, weil viel Kreativität für Umgehung besteht. Die konsequentere Lösung ist daher eine Gebotsliste: Finanzprodukte, die nicht auf dieser Liste stehen, sind automatisch verboten. Überdies bedarf es einer Finanztransaktionssteuer. Beide Maßnahmen sollen helfen, die Finanzmärkte abzukühlen und sie weniger risikoanfällig zu machen.
- Europäisierungsschub
Die erwähnten innereuropäischen Regulierungslücken müssen geschlossen werden und näher an die Regulierungsdichte von Mitgliedsstaaten wie Deutschland oder Österreich herankommen. Die EU muss in der Lage sein, in allen relevanten Politikfeldern Mindeststandards zu definieren. Dafür müssen jedoch die demokratischen und institutionellen Voraussetzungen gegeben sein. Die EU braucht eine institutionelle Neuaufstellung der Legislative durch eine Stärkung des Europäischen Parlaments gegenüber der Kommission und dem Europäischen Rat (v.a. in Bezug auf das Initiativrecht). Das Parlament ist die Bühne der Demokratie, eine Stärkung desselben ist nichts anderes als eine Demokratisierung der EU.
Vor der Zähmung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert erschien der Verlauf der Welt als schicksalhaft und nicht beinflussbar. Nach dem Scheitern der sozialistischen Planwirtschaften und wegen vermeintlicher Sachzwänge in Folge der Globalisierung ist dieser Eindruck heute wieder weit verbreitet. Das Versprechen der Wirksamkeit der Demokratie verliert zunehmend an Glaubwürdigkeit. Das nutzen reaktionäre Kräfte aus, die suggerieren, die „gute alte Ordnung“ mit Hilfe des Nationalstaates wiederherstellen zu können.
Doch nur weil die Lösungen der Rechtspopulisten falsch sind, dürfen die progressiven Kräfte das Problem nicht länger ignorieren. Die Steuerungsfunktion der Demokratie muss zurückgewonnen werden. Die Zähmung der Globalisierung mittels Europa ist dafür der womöglich wichtigste Hebel.
Es ist die Aufgabe der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert, das Primat der Politik in Europa wiederherzustellen.
Zu den Autoren:
Nikolaus Kowall hat mit Unterstützung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Wien promoviert und ist Vertretungsprofessor für „International Economics“ an der Hochschule für Wirtschaft und Technik in Berlin.
Max Lercher ist Absolvent der Politikwissenschaften an der Universität Wien und Mitglied des Steiermärkischen Landtags für die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ). Von Dezember 2017 bis September 2018 war er Bundesgeschäftsführer der SPÖ.