Kürzlich haben verärgerte Isländer ihren Premierminister zum Rücktritt gezwungen und drohen nun damit, bei Neuwahlen selbsternannte Piraten an die Macht zu bringen. Aber während die Wähler in anderen europäischen Ländern traditionelle Parteien aus einer Position der Schwäche heraus abstrafen, vollzielt sich die Rebellion in Reykjavik aus einer Position der Stärke. Im Gegensatz zu den Eurostaaten, die sowohl in der Peripherie, als auch im Kern durch eine extrem hohe Auslandsverschuldung eingeschränkt werden, hat Island jüngst seine ausländischen Verpflichtungen um 61 Milliarden US-Dollar reduziert und wieder auf das sichere Niveau von 2006 gebracht.
Island hatte 2009 proportional den weltweit größten finanziellen Kollaps erlitten. Jetzt steht das Land vor einem erneuten Boom, nachdem es sein Wirtschaftsmodell (Fisch, Tourismus, Aluminium) durch Erneuerbare Energien und Informationstechnologie diversifiziert hat. Das Bruttoinlandsprodukt, das pro Kopf bereits zu den höchsten weltweit zählt, liegt wieder über dem Vorkrisenniveau und dürfte laut Prognosen der Zentralbank 2016 und 2017 um 4% wachsen – das ist doppelt so viel wie in der Eurozone und in Großbritannien.
Obwohl die viel zu großen isländischen Banken einer der Gründe für die globale Finanzkrise waren, hat Island auf deren Kernschmelze vollkommen anders als der Rest Europas reagiert – und entgegen dem Rat der meisten Ökonomen gehandelt. Es hat seiner Währung erlaubt, massiv abzuwerten – eine Option, die den Euro-Mitgliedsstaaten nicht zur Verfügung stand und die ihre Löhne und Preise kappen mussten („interne Abwertung“). Island hat die mit nicht-tragfähigen Schulden belasteten Großbanken verstaatlicht und den kleinen Teil gerettet, der der heimischen Wirtschaft diente. Es hat Kapitalverkehrskontrollen eingeführt, so dass die Kreditgeber der Banken und andere ausländische Investoren ihr Geld nicht abziehen konnten. Einheimische Investoren, darunter auch Pensionsfonds, konnten nicht mehr im Ausland investieren.
Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen
Außerdem hat die Zentralbank ihre Geldpolitik gestrafft. Der Leitzins stieg 2009 auf 18% und liegt jetzt immer noch bei 5,75%. In Großbritannien, der Eurozone und in den USA haben die Zentralbanken ihre Leitzinsen fast auf null gesenkt und Quantitative Easing-Programme gestartet. Island hat der Austeritätspolitik getrotzt, die Europa fest im Griff hatte, und der Fiskalpolitik erlaubt, die ökonomischen und sozialen Lasten zu tragen. Insbesondere wurden öffentliche Gelder verwendet, um die Schuldenlast der Privataushalte zu senken, die ansonsten jede konsumbasierte Erholung zunichtegemacht hätten.
Der Ökonom Paul Krugman, der womöglich durch einen Nobelpreis vor der Orthodoxie geschützt ist, hat wiederholt die Aufmerksamkeit auf die Politik gelenkt, die es dem regelbrechenden Island ermöglichte, sich viel schneller von der Krise zu erholen, als es den Kollegen in der Eurozone gelungen ist – sogar viel schneller als Irland, dem Posterboy für die konventionelle „Anpassungspolitik“.
Bis heute haben die Kritiker immer wieder ein mächtiges Argument gegen diesen unerwarteten nordischen Sonnenschein angeführt: Sie sagten, dass es sich dabei um eine trügerische Hoffnung handeln würde. Sie haben argumentiert, dass die gesamte Erholung nur durch drakonische Kapitalverkehrskontrollen errungen wurde, die seit November 2008 in Kraft sind.
Diese aufzuheben wäre demnach sehr schmerzhaft, aber sie bestehen zu lassen, würde genauso fatale Konsequenzen haben. Ausländische Investoren würden verzweifelt versuchen, ihr in der Falle steckendes Geld zurückzubekommen – und es den Isländern unmöglich machen, sich sogar für lohnenswerte Investitionen außerhalb des Bankensektors einen Kredit zu besorgen. Die Kritiker sagten, dass die Ersparnisse der heimischen Investoren mangels Alternativen zu Blasen im ohnehin schon starken Tourismussektor und auf den Aktienmärkten führen und deren Platzen noch mehr Probleme auslösen würde.
Es ist bekanntermaßen schwierig, Kapitalverkehrskontrollen wieder aufzuheben, vor allem dann, wenn diese seit acht Jahren in Kraft sind und es sich um eine kleine, offene Volkswirtschaft mit einer auf Fischern und Walbeobachtern basierenden Produktionsbasis handelt. Und so haben die Pessimisten immer wieder angedeutet, dass die komplette märchenhafte Erfolgsstory in die Brüche gehen würde, sobald die Kontrollen aufgehoben werden.
In diesem Albtraum-Exit-Szenario wird die isländische Währung kollabieren, weil das ausländische Kapital die Flucht ergreifen und niemals zurückkommen wird. Die Zinsen werden noch stärker steigen, um den Wechselkurs zu retten, so die Investitionen zum Erliegen bringen und die galoppierende Inflation trotzdem nicht stoppen können, weil die Importe sich enorm verteuern werden. Die schwache Krone wird es dem Land enorm schwierig machen, seine verbleibenden Auslandsschulden trotz der jüngsten Reduzierung zu bedienen.
Der Auszug aus dem Goldenen Käfig
In der Realität hat Island seine wirtschaftliche Stärke innerhalb des Goldenen Käfigs zurückgewonnen – und zwar in einem derartigen Ausmaß, dass es dem Land nun möglich ist, wieder aus dem Goldenen Käfig herauszukommen, das Gold einzuschmelzen und es weiter zu verkaufen. Dank der durch die Abwertung erzielten Leistungsbilanzüberschüsse und der verstaatlichten Banken, die nach der Rückkehr zum Wachstum erneut an Wert gewonnen haben, konnte Island so viel Auslandsschulden zurückbezahlen, dass der verbliebene Rest wieder zu bewältigen ist, sogar dann, wenn die Krone an Wert verlieren sollte. Das ist ein starker Gegensatz zur Eurozone und vor allem zu Griechenland, dass seine Gläubiger um einen Schuldenerlass bitten musste, der nicht vor 2018 beginnen wird.
Die Wahrscheinlichkeiten für einen Kronen-Crash sind ohnehin sehr stark gesunken, weil die Leistungsbilanz wieder im Plus liegt (Transaktionen mit dem Ausland bringen mehr Geld ins Land, als sie herausziehen). Außerdem ist Island wieder attraktiv für ausländische Investoren. Sie mögen die hohen Zinsen, sehen Wachstumsperspektiven und Investitionsgelegenheiten. Die isländischen Privathaushalte können mit den höheren Kreditkosten leben, weil sie ihre Schulden reduziert haben und die Einkommen stark gestiegen sind.
Obwohl eine abgelegene Insel mit einer Bevölkerung von gerade einmal 300.000 Menschen und einzigartigen natürlichen Ressourcen natürlich als Sonderfall abgetan werden könnte, ist die bemerkenswerte isländische Renaissance eine ernsthafte Herausforderung für die orthodoxe Lehre. Krugman ist nicht der einzige, der in der nordischen Sage nützliche Lehren sieht. Der IWF, für den die Kapitalverkehrsfreiheit einst eine Vorbedingung für Hilfen war, hat Forschungsarbeiten veröffentlicht, die Kapitalverkehrskontrollen eine wertvolle Rolle für den Erhalt von Stabilität in einer Welt volatiler internationaler Finanzströme zusprechen.
Kehrt die neoliberale Orthodoxie zurück?
Der Kern dieses ungewöhnlichen Märchens ist dabei ein politischer, und nicht ein finanzieller. Der Grundstein für die wirtschaftliche Erholung wurde von der Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen zwischen 2009 und 2013 gelegt, und durch die Koalition aus Unabhängigkeitspartei und Progressiven komplettiert. Allerdings scheinen die isländischen Wähler jetzt einen Bogen um alle politischen Gruppen zu machen, die zuvor in der Regierung und in der Opposition waren. Die Piratenpartei, die in Island 2012 als eine Kampagne für mehr Demokratie und Informationsfreiheit gestartet war, liegt in den jüngsten Umfragen bei 40% und hat gute Chancen, nach den Neuwahlen im Herbst die nächste Regierung anzuführen.
Die neoliberale Orthodoxie könnte jedoch immer noch zurückkehren – und zwar in der Gestalt von David Oddsson, der (als Finanzminister, Premierminister und Zentralbank-Governeur) einer der Architekten der Finanzmarkt-Liberalisierung vor dem 2008er Crash war und sich jetzt um das Amt des isländischen Präsidenten bewirbt. Aber wenn die normale Politik restauriert wird, dann nur, weil eine hochgradig unnormale Wirtschaftspolitik die früheren Fehler der Eliten gerade gebügelt hat.
Zum Autor:
Alan Shipman ist Dozent an der Open University.
Dieser Artikel wurde zuerst von The Conversation in englischer Sprache veröffentlicht und von der Makronom-Redaktion unter Zustimmung von The Conversation ins Deutsche übersetzt.