Der Begriff „Dark Factory“ ist in Deutschland nicht besonders bekannt – auch wenn solche Fabriken eigentlich hierzulande hätten erfunden werden müssen. In China hingegen sind sie in aller Munde. Es handelt sich dabei um Produktionsstätten, die so vollständig automatisiert sind, dass keine bzw. kaum noch Menschen an den Linien benötigt werden. Man kann also wortwörtlich „das Licht ausmachen“ und Klimaanlagen abschalten. Roboterzellen, autonome Transportsysteme, KI-gestützte Qualitätskontrollen und Fehlerbehebungen, digitale Zwillinge und vernetzte Sensorik bilden das technische Fundament. Dadurch entstehen Produktionsumgebungen, die rund um die Uhr laufen können – ohne Schichtwechsel, ohne Pausen, ohne Beleuchtung.
Deutschland war und ist ein Land der Robotik. Mit etwa 430 Robotern pro 10.000 Beschäftigten liegt es aber gerade (noch) in der Spitzengruppe. Südkorea weist eine Dichte von mehr als 1.000 auf, Singapur von 770, gefolgt von China mit 470. Relativ betrachtet fällt Deutschland Jahr für Jahr zurück. Bezeichnend ist auch, dass das Weltwirtschaftsforum mit seiner Auszeichnung von „Global Lighthouses“ in der Liste der besten zwölf Konzerne stolze sieben aus China aufführt, aber keinen aus Deutschland. Ausgezeichnet werden in dem Ranking Pioniere der nächsten grünen Produktionslogik, also Konzerne, die Automatisierung, Datenanalyse und Energietechnik integrieren.
Von Relevanz ist nicht nur, wie Energie im Produktionsprozess eingespart werden kann, sondern auch mit welcher Energie die Produktionsstätten beliefert werden. Und hier spielt China ebenfalls eine Pionierrolle. Die Financial Times weist bereits seit einiger Zeit darauf hin, dass China sich auf dem Weg befindet, der weltweit erste „Elektrostaat“ zu werden.
Auch wenn bislang in China noch ein Energiemix zu finden ist, in dem sogar der CO2-schädliche Kohleabbau eine relevante Rolle spielt – der technologische Pfad weist gleichwohl in eine andere Richtung. Ein immer größerer Anteil der Energie für Industrieanlagen wird aus Strom erzeugt, der als „grün“ bezeichnet werden kann. In China sind derzeit 42 Ultrahochspannungsleitungen in Betrieb (etwa 80% der weltweit vorhandenen UHV-Leitungen). Diese transportieren aus Sonne, Wind und Wasser gewonnene Energie mit minimalem Verlust aus dem Westen des Landes in die mehrere Tausend Kilometer entfernten Industriezentren im Osten. Damit handelt es sich um eine ursprünglich deutsche Technologie, die China über einen langen Zeitraum hinweg konsequent weiterentwickelt und in die eigene Infrastruktur eingebunden hat.
Die Dynamik zeigt sich auch daran, dass China im ersten Halbjahr 2025 laut Regierungsangaben Kraftwerkskapazitäten von 290 Gigawatt installierte, knapp 90% davon erneuerbar. Das ist mehr, als Deutschland insgesamt an erneuerbaren Energien installiert hat. Die Bundesrepublik kam Ende 2024 laut Bundesnetzagentur insgesamt auf 190 Gigawatt. Das zeigt die Dimension der chinesischen Vorhaben. Bis 2035 möchte China die Kapazität auf 3.600 Gigawatt steigern – das Sechsfache des Niveaus von 2020.
Dark Factories können Entwicklungspfade von Volkswirtschaften verändern
Die ökonomischen Folgen der Koppelung von Dark Factories mit günstiger und grüner Energieeinspeisung reichen weit über Fabrikhallen hinaus – sie betreffen den gesamten Entwicklungspfad von Volkswirtschaften, egal ob in Industrie- oder in Entwicklungsländern: Handelsmuster, Arbeitsmärkte, die Verbreitung digitaler Normen und die Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähige Energiepolitik.
Dark Factories haben im Idealfall eine Anlagenauslastung von 24 Stunden am Tag. Stillstände verschwinden oder sinken massiv, Ausschuss wird durch KI-Inspektion reduziert. Es geht in Richtung einer nahezu fehlerfreien Produktion, die von menschlicher Hand nicht geleistet werden könnte. Man hat also:
- geringere Stückkosten, weil variable Lohnkosten und Ausschuss sinken,
- höhere Qualität, weil Mess- und Prüfprozesse automatisiert und lückenlos sind,
- konstante Lieferfähigkeit, weil Schichtmodelle und Personalengpässe keine oder kaum eine Rolle spielen.
Die Einsparpotenziale von Dark Factories sind regional verschieden, und es existiert eine Vielzahl von teils sehr unterschiedlichen Schätzungen, die sich in der Tendenz aber einig sind: In Hochlohnländern dürften die Lohnkosten-Einsparungen mindestens 30% betragen (wahrscheinlich mehr), die Ausbringung pro Anlage zwischen 20 – 30% steigen, die Fehlerquote in der Präzisionsbearbeitung um 80 – 90% sinken und die Effizienz in der Flächennutzung um 20% anwachsen. Wenn man dies mit den vorhandenen Energiekosten für die Industrieproduktion korreliert, wird das Gesamtbild zumindest für Industriestandorte wie Deutschland beinahe dramatisch. In den USA werden derzeit etwa 8 ct/kWh abgerufen, in China 8,5 ct/kWh (Tendenz schnell fallend und zudem im grünen Bereich), in Deutschland fast 17,9 ct/kWh (ohne Entlastungen, wie sie künftig z.B. für den Stahlsektor vorgesehen sind).
Es ist offensichtlich, dass sich an solchen verbundenen Entwicklungen die globale Wettbewerbsfähigkeit von Standorten entscheiden wird. Die alte Formel, dass Massenproduktion keine Qualität erstellen kann, wird zunehmend obsolet. Besonders in Branchen mit großen Standardvolumina – z. B. Batterien, Elektronik, Metallteile, Sanitärtechnik, Haushaltsgeräte – sind hochautomatisierte Werke nicht nur kosten-, sondern auch qualitätsseitig konkurrenzfähig. Der Punkt geht schon heute an China und erzeugt globalen Preisdruck. Länder oder Unternehmen, die den Automatisierungsgrad nicht erhöhen, geraten in eine defensive Position. Sie müssen höhere Löhne, hohe Energiekosten und teure Lieferketten kompensieren, was zunehmend schwer wird.
Implikationen für die deutsche Außen- und Wirtschaftspolitik
Selbst für Industrieländer wie Deutschland ist nicht klar, wie man sich diesen Herausforderungen am besten stellen sollte. Voraussichtlich werden sich die herkömmlichen Vorstellungen einer globalen Arbeitsteilung schnell verändern. Wenn der Geist aus der Flasche ist und vollautomatisierte Produktionslinien verbunden mit günstigen grünen Energiekosten den Standard setzen, müssen alle Länder sich der neuen Konkurrenz stellen und neue Strategien verfolgen.
China und die USA sind derzeit die eigentlichen Wettbewerber um die Vorherrschaft im Zuge der „kreativen Zerstörung“ (Joseph Alois Schumpeter), wenn es darum geht, große Cluster mit standardisierten Hochvolumenprodukten aufzubauen. Deutschland und Europa insgesamt sind im Hintertreffen, weil sie sich durch ein problematisches Verständnis von bürokratischer Regulierung und zu geringe Investitionen in die eigene Infrastruktur selbst blockieren. Wie will man gegen ein wirtschaftliches Kraftzentrum wie der Greater Bay Area – die Wirtschaftsregion im Süden Chinas in der Provinz Guangdong um Hongkong, Shenzhen, Guangzhou – konkurrieren, das über massive Investitionen Skaleneffekte in der Produktion aufgebaut hat und über eine quasi lückenlose sogenannte „upstream and downstream supply chain“ verfügt, und die sich weder um Zuliefernetzwerke noch um den Verkauf ernsthaft Sorgen machen muss?
Aussichtsreicher ist eher der Aufbau regionaler, stark automatisierter Fertigungsstätten direkt in den Absatzmärkten – oft mittelgroß, flexibel, kundennah. Hier verfügt die EU als größter Markt der Welt über komparative Vorteile. So kann den Hürden von Lieferzeit oder Zollrisiken entgegengewirkt werden. In jedem Fall verlangt die neue Geografie der Produktion ein schnelles Umschalten, das sich nicht vor die Schrotflinte des Großkonflikts zwischen den USA und China spannen lässt.
Deutschland und Europa haben gute Voraussetzungen, um im Wettbewerb mit China und den USA zumindest nicht abgeschlagen zu werden. Dark Factories bedeuten nicht einfach „keine Menschen mehr“. Menschen werden nur anders gebraucht: als Robotik-Spezialisten, Instandhaltungs- und Automatisierungsingenieure, als Datenanalysten, IT- Sicherheitsfachkräfte, als Produktionsplaner für KI-gestützte Abläufe und vieles mehr. Aus- und Weiterbildung in diesen Bereichen im Verbund mit der Wirtschaft ist ein Schlüssel zum Erfolg. Die halbe Welt bewundert Deutschland für genau diese Fähigkeiten.
Von zentraler Bedeutung wäre auch ein verstärkter Dialog mit den USA und China über Normen. Nicht die moralischen Normen, mit denen die deutsche Außen- und Entwicklungspolitik seit Jahren durch die Welt reist. Die Welt der Dark Factories ist nicht nur Hardware, sondern vor allem Software: Sensorprotokolle, Datenmodelle, KI-Engines, 5G-Netze, Standards für Robotersicherheit. Wer diese Standards setzt – egal ob Europa, USA oder China – prägt die Exportchancen der eigenen Anbieter und schafft Pfadabhängigkeiten. China sucht den Dialog und will gemeinsame Leitfäden für intelligente Fertigung aufbauen. Das mag strategisch nicht uneigennützig sein, aber die Erwartung ist nicht, dass Deutschland und Europa die Vorstellungen aus China kritiklos annehmen. Insofern ist unverständlich, dass besonders die deutsche Politik sich einem offenen Dialog bislang kaum stellt.
Implikationen für Entwicklungsländer
Dark Factories stellen die klassische internationale Arbeitsteilung in Frage. Länder, wie etwa Äthiopien oder Bangladesch hofften lange Zeit, ihren industriellen Aufstieg durch ihren Lohnvorteil in arbeitsintensiven Industrien (Textilien, Elektronikmontage, einfache Metallbearbeitung) zu ermöglichen und wurden darin durch die internationale Entwicklungszusammenarbeit (EZ) in Form von Regierungsberatung und beruflichen Begleitmaßnahmen etc. bestärkt. Dark Factories stellen diese Strategie in Frage – denn selbst bei Monatslöhnen von 30 US-Dollar sind solche Produktionen auf Dauer kaum noch konkurrenzfähig.
Noch ist der Geist der Dark Factories nicht aus der Flasche, aber ein „Überspringen“ des arbeitsintensiven Stadiums scheint unausweichlich. Gerade in Bangladesch, Tunesien oder Vietnam, die die Weltmärkte mit Textilien und Elektronikprodukten, Möbeln und Pharmazeutika beliefern, wird diese Herausforderung für die industrielle Entwicklung genau beobachtet. Sie setzen alles in Bewegung, um im Wettbewerb mitzuhalten, auch durch automatisierte Produktion. Länder, die sich wie Äthiopien oder Kamerun weiter im bisherigen Modell industrialisieren wollen, sind dem Konkurrenzdruck aus den Dark Factories ausgesetzt – und werden ihm kaum gewachsen sein.
Möglicherweise kann die deutsche Wirtschaft in Entwicklungsländern gemeinsam mit lokalen Unternehmen kleinere, aber gewinnbringende flexible Dark-Factory-Einheiten zur Bedienung lokaler Nachfrage aufbauen, etwa in der Medizintechnik, Elektronikreparatur oder Agrar-Verarbeitung. Oder auch digitale Produktionsplattformen, die Eigentum an Daten, Software-Updates, Ersatzteile und Wartung herstellen und damit die digitale Abhängigkeit der Länder reduzieren.
Fazit
Dark Factories sind keine Industrierevolution, sondern das Produkt einer industriellen Revolution, die durch den atemberaubenden Aufstieg der Künstliche Intelligenz entstanden ist. Dennoch: Verbunden mit der Bereitstellung günstiger grüner Energie und den hohen Einsparungspotenzialen in der Produktion werden sie auch in Deutschland und den Entwicklungsländern entstehen.
Deutschland sollte mit seiner Ingenieurskultur und seinem Fokus auf Qualität und Effizienz eigentlich ein Vorreiter bei der Implementierung von Dark Factory-Konzepten sein – ist es aber nicht, zumindest nicht im Vergleich mit China und den USA. Gleichwohl sollte nicht außer Acht bleiben, dass es in Deutschland hochinteressante Ansätze von Siemens, Bosch, MBDA, Trumpf und anderen Firmen gibt, die sehr weit sind. Man gewinnt manchmal den Eindruck, dass andere Länder das besser erkennen als wir selbst.
Zum Autor:
Thomas Bonschab ist Gründer und Managing Director des TiNC International. Zudem betreibt er gemeinsam mit Robert Kappel den Blog Weltneuvermessung, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist.







































