Analyse

Wer ist mächtiger – Staaten oder Konzerne?

Die Globalisierung hat eine transnationale Struktur hervorgebracht, in der Staatsmacht längst nicht mehr das exklusive Wirkungsprinzip in der internationalen Politik ist – die momentane politische Macht der globalen Konzerne gegenüber anderen Akteuren ist historisch einmalig. Aber auch die Staaten nutzen Unternehmen, um in einer zunehmend feindlicheren Umgebung geopolitische Ziele zu erreichen.

Wer sitzt an den Schalthebeln der Macht in der internationalen Politik? Die meisten Menschen würden wahrscheinlich sagen: die größten Staaten. Die momentane Lage der internationalen Beziehungen scheint diese Intuition zu bestätigen: Nach Jahrzehnten der Globalisierung hat offenbar der Staat wieder das Sagen, wie man etwa aus der neuen russischen Geopolitik, „America First“ und der vom Staat geführten globalen Expansion Chinas ableiten könnte.

Allerdings besitzen multinationale Konzerne wie Apple oder Starbucks immer noch  phänomenale Macht. Sie kontrollieren gewaltige Wertschöpfungsketten, verkaufen ihre Produkte überall auf der Welt und gestalten die internationale Politik gemäß ihren Interessen mit. In mancher Hinsicht tanzen Regierungen nach der Pfeife der Multis – wie etwa deren anhaltender Erfolg bei der Verringerung ihrer Steuerlast zeigt. Geben also die Staaten in der internationalen Politik wirklich den Ton an?

Um uns einer Antwort anzunähern, haben wir verglichen, wie tief die Taschen von Staaten und Unternehmen sind. Die folgende Tabelle zeigt die Umsätze bzw. Einkünfte der 100 größten Konzerne und Länder auf Basis ihrer Einkünfte im Jahr 2016. Im Fall der Staaten bestehen die Umsätze größtenteils aus Steuereinnahmen.

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Forbes Fortune Global 500 Liste 2017 und des CIA World Factbook 2017.

Die Staaten besetzen die Spitzenplätze. Die USA liegen auf Platz 1, gefolgt von China und Japan (wenn wir die Eurozone als politische Einheit betrachten würden, läge sie mit mehr als 5,6 Billionen US-Dollar auf dem ersten Platz). Aber zahlreiche Konzerne befinden sich gleichauf mit einigen der größten Volkswirtschaften. Beispielsweise übertreffen die Einnahmen von Walmart die von Spanien oder Australien – 71 der ersten 100 Plätze werden von Konzernen besetzt. Bemerkenswert ist auch, dass die „Nationalitäten“ der topplatzierten Unternehmen die gleiche Reihenfolge wie die Staaten haben. Amerikas Walmart folgen drei chinesische Konzerne. Es gibt bereits 14 chinesische Firmen in den Top 100, die USA haben 27.

Die führenden multinationalen Konzerne sind politische Akteure und nicht bloß Zaungäste in globalen Angelegenheiten

Dieser Vergleich ist natürlich etwas grob. Aber er legt doch nahe, dass die ökonomische Macht von Konzernen und Staaten im Wesentlichen vergleichbar ist, wenn man einmal von den allergrößten Volkswirtschaften absieht. Dies hat uns dazu angespornt, in einer kürzlich erschienen Untersuchung die Macht der Konzerne in der internationalen Politik zu überdenken. Wir kommen darin zu dem Schluss, dass die Globalisierung eine transnationale Struktur hervorgebracht hat, in der Staatsmacht längst nicht mehr das exklusive Wirkungsprinzip in der internationalen Politik ist.

Führen wir uns etwa die private und öffentliche Macht von globalen Giganten wie Google oder Apple vor Augen. Als sich Donald Trump unlängst mit Apple-Chef Tim Cook traf um zu diskutieren, wie ein Handelskrieg mit China Apples Interessen beeinträchtigen würde, zeigte dies vor allem eins: die führenden multinationalen Konzerne sind politische Akteure  und nicht bloß Zaungäste in globalen Angelegenheiten. Es hat schon immer große und mächtige Weltkonzerne gegeben – beispielsweise dominierte im 16. und 17. Jahrhundert die Dutch East India Company den europäischen Handel. Aber die momentane politische Macht der globalen Konzerne gegenüber anderen Akteuren ist mit Blick auf ihre schiere Größe und ihr ökonomisches Potential historisch einmalig.

Wie globale Macht funktioniert

Die Macht von Staaten ist mit der Globalisierung nicht verschwunden, aber sie  wurde transformiert. Sie steht nun mit globalen Unternehmen im Wettbewerb um Einfluss und politische Macht. Staaten benutzen Konzerne und andersherum, wie die folgenden Beispiele illustrieren: Das Offshore-Finanzwesen und transnationale Staatskonzerne.

Beginnen wir mit dem Offshore-Finanzwesen. Globale Unternehmen nutzen verschiedene Rechtsräume, um eine Besteuerung oder Regulierung in ihrem Heimatland zu vermeiden. Schätzungen zufolge gehen Staaten so weltweit rund 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr an Steuereinnahmen verloren. Wenn Staaten sich selbst als Steueroasen positionieren, untergraben sie die Fähigkeit von „Onshore“-Staaten, Unternehmen und reiche Einzelpersonen zu besteuern – was ein Grundpfeiler von Staatsmacht ist.

Abgesehen von den Steueroasen sind zahlreiche Regierungen von EU-Staaten für ihre „Amigo-Geschäfte“ berüchtigt geworden, die die Steuerlast für bestimmte Konzerne in drastischem Ausmaß reduziert haben. Des Weiteren hat unsere CORPNET-Forschungsgruppe an der Universität  Amsterdam kürzlich fünf Länder identifiziert, die eine zentrale Rolle bei der Beförderung von Steuervermeidung spielen: Großbritannien, die Niederlande, die Schweiz, Irland und Singapur. Jedes dieser Länder ermöglicht es multinationalen Konzernen, Investitionen zu minimalen Kosten zwischen Steueroasen und Onshore-Staaten zu verschieben.

Zum zweiten Beispiel: Staaten sind in den letzten Jahren vermehrt zu Eigentümern von globalen Unternehmen geworden. Sie kontrollieren inzwischen fast ein Viertel der Firmen auf der Fortune Global 500 Liste. Staaten gewinnen an strategischem Einfluss gegenüber anderen Staaten oder Akteuren, in dem sie in staatlich kontrollierte Unternehmen im Ausland investieren – Russlands Besitzanteile an Gaspipelines in Osteuropa über den Gazprom-Konzern ist dafür ein gutes Beispiel. Aufgrund dieser Entwicklung diagnostizieren manche Beobachter eine potenzielle Transformation der liberalen Weltordnung hin zu einem neuen „Staatskapitalismus“.

Das folgende Diagramm zeigt die Gesamtzahl von transnationalen Staatskonzernen (transnational state-owned enterprises, TSOE), die sich im Besitz eines Staates befinden. Die Knotenpunkte repräsentieren die Staaten als Eigentümer: Je größer und zentraler ein Punkt, desto mehr Unternehmen kontrolliert dieser Staat im Ausland (wenn Sie auf die Grafik klicken, öffnet sich eine interaktive Version).

Die Illustration basiert auf Daten der ORBIS-Datenbank des Bureau van Dijk, die von der Corpnet-Forschungsgruppe ausgewertet wurden.

China nimmt eine herausragende Position ein. Der chinesische Staat kontrolliert über 1.000 TSOEs, darunter solche globalen Giganten wie Sinopec und ICBC China. Staaten wie Frankreich und Deutschland sind ebenfalls prominente Eigentümer, aber ihre Verbindungen zu China signalisieren, dass sie gleichermaßen auch ein Ziel von TSOE-Investitionen sind.

Die Globalisierung hat die Konzerne gestärkt, aber auch der Staatsmacht durch neue transnationale Beziehungen zwischen Staaten und Unternehmen ein Comeback verschafft

Es ist offensichtlich, dass die internationalen Beziehungen alles andere als eine Geschichte von staatlicher oder unternehmerischer Macht sind – die Globalisierung hat die Spielregeln verändert: Sie hat die Konzerne gestärkt, aber auch der Staatsmacht durch neue transnationale Beziehungen zwischen Staaten und Unternehmen ein Comeback verschafft. Die internationalen Beziehungen sind zu einem gigantischen dreidimensionalen Schachspiel geworden, wobei Staaten und Unternehmen komplex miteinander verflochtene Akteure sind.

Diese Transformation des globalen Spielfeldes dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach anhalten oder sich sogar noch beschleunigen. Beispielsweise hat Washington kürzlich dem großen chinesischen Telekommunikationskonzern ZTE den Zugang zu wichtigen US-amerikanischen Zuliefern verwehrt, um in den Handelsgesprächen mit Peking Vorteile zu bekommen. Fast zeitgleich zog der chinesische Staatsfonds angesichts der von Donald Trump angestoßen Wirtschaftssanktionen gegen China seine seit langem bestehenden Investitionen in die US-amerikanische Blackstone-Gruppe zurück.

Wir leben in einer Zeit, in der das Wechselspiel der Macht von Staaten und Konzernen die Realität der internationalen Beziehungen mehr als jemals zuvor prägt. In Kombination mit den momentanen nationalistischen und protektionistischen Rückschlägen in großen Teilen der Welt könnte dies zu einem Wiederaufleben globaler Rivalitäten führen: Staaten nutzen Unternehmen, um in einer zunehmend feindlicheren Umgebung geopolitische Ziele zu erreichen. Und im Gegenzug könnten mächtige Konzerne noch aggressivere Strategien nutzen, um globale Profitraten zu sichern. Sollte diese Entwicklung anhalten, könnte dies einen dauerhaften Einfluss auf die liberale Weltordnung haben.

 

Zu den Autoren:

Milan Babic ist Doktorand an der Universität von Amsterdam. Auf Twitter: @mbabic_1

Eelke Heemskerk ist Associate Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Amsterdam.

Jan Fichtner ist Postdoctoral Researcher an der Universität von Amsterdam. Auf Twitter: @fichtner_jan

Alle drei Autoren sind Teil der CORPNET-Forschungsgruppe, die sich mit den globalen Netzwerken von Unternehmen im zeitgenössischen Kapitalismus befasst. Das Projekt wird vom European Research Council (ERC) finanziert.

 

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Dieser Artikel wurde zuerst von The Conversation in englischer Sprache veröffentlicht und von der Makronom-Redaktion unter Zustimmung von The Conversation und der Autoren ins Deutsche übersetzt.The Conversation