Fremde Federn

Weltordnungsmacht, Türkei-Wahl, Silicon-Valley-Soap

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Musk vs. Altman, warum Prometheus in den Ruhestand geht und wie sich die Berichterstattung über die Klimakrise verändern sollte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Braucht die Weltwirtschaft eine hegemoniale Ordnungsmacht?

piqer:
Antje Schrupp

Die Rolle der USA als Weltordnungsmacht wird brüchig. China wird die USA vermutlich bald in Punkto Wirtschaftskraft überholen, und die USA und ihre Verbündeten sind nicht länger in der Lage, systemische Krisen abzuwenden. Der chinesische, in den USA lehrende Ökonomieprofessor Minqi Li stellt in diesem Text die Frage, wie es mit dem Kapitalismus wohl weitergeht, wenn die USA in ihrer Rolle als global agierende Ordnungshüter seiner äußeren Existenzbedingungen bald womöglich vollständig ausfallen.

Die Grundthese des Textes ist, dass es eine prinzipielle Spannung gibt zwischen dem Kapitalismus als Prinzip, das von der Konkurrenz unterschiedlicher Akteure lebt, aber gleichzeitig auf einer systemischen Ebene einen verlässlichen Rahmen braucht, den nur eine hegemoniale Ordnungsmacht garantieren kann. Das sind zum Beispiel halbwegs stabile äußere politische und ökologische Verhältnisse. Wenn aber die Konkurrenzsituation keine solche Einhegung mehr findet – und das deutet sich derzeit an –, kann das System keinen Bestand haben.

Li zählt sich zur „Neuen Linken“ in China, was man dem Text in seiner Rhetorik anmerkt, doch viele seiner Beobachtungen sind interessant, ebenso der historische Abriss zur Entwicklung der Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg, an dessen Ende die USA als hegemoniale Kraft aufgestiegen sind.

Viel Raum für Optimismus in Bezug auf die Zukunft enthält der Text allerdings nicht: Weder die Kontrolle von Atomwaffen noch die Begrenzung der Klimakrise erscheinen wahrscheinlich, wenn die Akteure in der globalen politischen Arena sich nur auf die Konkurrenz untereinander konzentrieren.

Erdoğan ist nicht allein – Dunkle Schatten

piqer:
Achim Engelberg

Erdoğan bleibt im Amt. Und viele in der Türkei werden sich fragen, ob sie emigrieren sollen.

Natürlich waren es keine fairen Wahlen, worauf viele Beobachter hinweisen, etwa Lenz Jacobsen und Marion Sendker auf Zeit.de

Im staatlichen Sender TRT bekam der Präsident im April 1.920 Sendeminuten, sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu nur 32. Erdoğan ist überall, seine Gegner unsichtbar, entlassen, eingesperrt, aus dem Land gejagt. Seine Anhänger wiederum, zumindest ein Teil davon, folgen ihm fast mit religiöser Treue, sie sind emotional von Erdoğans Erfolg abhängig – und oft auch finanziell, weil sein Regime längst eine Günstlingswirtschaft aufgebaut hat.

Im Hauptteil dieses piqs findet man eine sehenswerte Doku, in der am Beispiel des türkischen Journalisten Can Dündar Widersprüche des heutigen Landes wie auch der internationalen Politik dargestellt werden:

Dafür begeben sich Can Dündar und der Grimme-Preisträger Hauke Wendler auf eine investigative Reise: von Berlin über Frankfurt und Düsseldorf bis nach Stockholm, Paris und weiter nach Buenos Aires.

Bereits ganz am Anfang des Films sehen wir Bilder aus dem Jahr 2016, auf denen zu sehen ist, wie auf offener Straße auf Dündar geschossen wird. Er verlässt die Türkei und flieht nach Deutschland. Doch auch hier steht er unter Polizeischutz, sein Leben wird weiterhin bedroht, auch die Dreharbeiten finden teilweise unter Polizeischutz statt. Dündar landet auf »Erdoğans Terrorliste« (so auch der Titel des Films), einer Zusammenstellung von Personen, gegen die Haftbefehle bestehen und für deren Inhaftierung offenbar Belohnungen ausgesetzt sind. »Die haben Geld auf meinen Kopf ausgesetzt, wie im Wilden Westen«, sagt Dündar und zeigt die im Internet zugängliche Seite mit Fotos der Gesuchten.

Wenige westliche Politiker wollen sich vor der Kamera äußern; eine Ausnahme ist der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul, der die „Zurückhaltung“ der Politik offen benennt:

Man darf nicht vergessen, dass die türkische Politik uns auch in der Frage Flüchtlingsströme geholfen hat, dass die Belastung für die Bundesrepublik Deutschland nicht so groß geworden ist, wie sie hätte werden können.

Dieser Film ist erschreckend, erhellend und sehenswert, aber ihm fehlt historische Tiefenschärfe. Im oben verlinkten Artikel auf Zeit.de gibt es die in wenigen Zeilen:

Sinem Adar, Türkei-Expertin bei der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik, sagt: Nationalismus sei „das Meer selbst“. Heißt: Türkischer Nationalismus prägt das Land jenseits von links und rechts, er ist seit der Gründung des Landes vor hundert Jahren immanent. Mit dieser Wahl drängt er aus der Tiefe an die Macht.

Was aber bedeutet das? Wenige Abschnitte aus meinem Buch AN DEN RÄNDERN EUROPAS, seien deshalb hier zitiert. In einem Abschnitt über die Türkei vergleiche ich das Land heute mit dem, in das mein Vater Ernst Engelberg (1909-2010) vor der Nazidiktatur floh – und dort als Spezialist an der Universität arbeiten durfte.

Was für ein Glück! Denn damals stauten sich so viele Flüchtlinge an den türkischen Grenzen wie an keinem anderem Land. Es war eine spiegelverkehrte Situation zu heute, wo das innerhalb der Türkei geschieht.

Nie mehr sollen Menschen Knechte von Menschen sein!

Die Erde sei weit ohne Grenzen, wir laden Euch ein,

kommt bald!

Leben, einzeln und frei wie ein Baum

Und brüderlich wie ein Wald,

ist unser Traum

Nâzım Hikmet

Als Ernst Engelberg von seinem Balkon übers Marmarameer schaute, war auf der anderen Seite der oft in allen Blautönen schimmernden See Nâzım Hikmet inhaftiert, und zwar von 1938 bis 1950. Das Motto am Beginn dieses Kapitels entstammt seinem gewaltigen mehrbändigen epischen Gedicht „Menschenlandschaften“, das er weitgehend im Gefängnis geschrieben hat. Die Freilassung nach langen zwölf Jahren erfolgte aufgrund internationaler Proteste unter anderen von Picasso aus dem französischen Exil. »Manche Menschen kennen die Arten der Gräser, manche die der Fische, ich die der Trennungen«, so formulierte es der 1963 verstorbene Nationaldichter, der erst 2009 – also unter Erdoğan – seine türkische Staatsbürgerschaft zurückerhielt. Sein Grab bleibt aber im Exil: auf dem Moskauer Nowodewitschi-Friedhof, nah bei denen von Tschechow und Gogol.

Ein Gericht in Istanbul verurteilte Can Dündar am 22. Dezember 2020 zu 18 Jahren und 9 Monaten Haft wegen Spionage und zu weiteren 8 Jahren und 9 Monaten wegen Terrorunterstützung; also zu insgesamt 27 Jahren und 6 Monaten. Das entspricht in der Höhe ziemlich genau der Strafe gegen Nâzım Hikmet, der 1938 zu 28 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Für Dündar, der von dem Richterspruch im Berliner Exil erfuhr, bedeutet das, dass er nur nach einem fundamentalen Wandel in seine Heimat zurückkehren kann und er mehr als zuvor der Gefahr von Entführungen oder Anschlägen ausgesetzt ist. Die Welt, die einst seine war, ist äußerlich zerschlagen und lebt nur noch in seinem Innern fort. Erinnerungen ersetzen Erleben.

Mittlerweile ist Dündar durch seine Medienpräsenz zum Gesicht des neuen türkischen Exils geworden und kann dank der Digitalisierung anders als seine Vorgänger in die türkische wie die deutsche Öffentlichkeit wirken und für eine andere Türkei kämpfen.

Dies ist nicht rein zufällig und natürlich keine Gleichsetzung, aber ohne Kenntnis der Fälle von gestern kann man das Heute nicht voll erfassen. In einem anderen Abschnitt im Buch erzählt der große Musiker und Erzähler Zülfü Livaneli, warum er in den 1970er Jahren lieber nach Schweden als nach Westdeutschland floh.

Hier gibt es wieder eine Verbindung zum aktuellen Film, da Can Dündar einen verfolgten Kollegen in Schweden besucht. Nicht zuletzt, weil Auslieferungen aus diesem Rechtsstaat schwierig sind, versucht Erdoğan die NATO-Mitgliedschaft Schwedens zu verhindern.

Selbst wenn in fünf Jahren – nach einem Vierteljahrhundert – Erdoğans Epoche zu Ende gehen sollte, bleibt eine türkische Demokratie schwierig. Sie ist möglich, was sich auch darin zeigt, dass immer wieder demokratische Aufbrüche entstanden – so gab es das Frauenwahlrecht in der Türkei nicht nur vor dem im Nachbarnland Griechenland, sondern auch vor dem in Frankreich.

Das Ziel einer demokratischen Türkei bleibt wie das sprichwörtliche Bohren ganz dicker Bretter. Wer die dunklen Schatten jenseits von Erdoğan nicht wahrnimmt, kann aber keine realistische Politik machen. Es ist zu befürchten, dass bald mehr gebildete Türken emigrieren und die Vielzahl von Flüchtlingen – die Türkei ist nach UN-Angaben das Land mit den meisten weltweit –, als Druckmittel angewendet wird.

Energiewende – Deutschland ist nicht Prometheus

piqer:
Thomas Wahl

Bei den „Salonkolumnisten“ setzt Bernd Rheinberg unseren Wirtschaftsminister und sein Handeln in einen interessanten historischen Rahmen. Und bleibt dabei fair gegenüber Habeck. Wie Rheinberg richtig sieht, haben wir alle den Komfort des zivilisatorischen Fortschritts genossen, der mit dem Feuer des Prometheus angetrieben wurde.

… nicht nur Kapitalisten, sondern auch Sozialisten. Wer zum Beispiel Ernst Bloch mit seinem „Prinzip Hoffnung“ liest, wird in der propagierten Entfesselung der Maschinenwelt und der Naturwissenschaft eine Linke erkennen, die mit ihrer Euphorie die Kapitalisten in jeder Hinsicht noch übertreffen will.

Gewissermaßen aber hat „Prometheus … zu triumphal gesiegt.“ Denn durch die massive Förderung und Verbrennung der fossilen Rohstoffe gehen die natürlichen Springquellen unseres Wohlstandes unwiederbringlich verloren, und die Atmosphäre erwärmt sich bedrohlich, vielleicht sogar gefährlich für das Überleben der Menschheit.

Obwohl dieses Problem global ist, spielt es nirgends eine größere politische Rolle als in Deutschland. Rufen wir hier nicht die üblichen, wenn auch nicht unbedingt falschen Erklärungsmuster von postromantischem Idealismus und „German Angst“ auf – aber die Geschichte ökologischen Denkens ist vor allem eine deutsche Geschichte. Und das hat auch mit der Partei Die Grünen zu tun. Und ihrem Erfolg.

Einer globalen Befragung (im April 2022 durch das französische Marktforschungsunternehmen IPSOS) zufolge, ist die Angst vor einer durch den Klimawandel ausgelösten Apokalypse weltweit höchst unterschiedlich verteilt. Ganz vorne lag die Inflation. Der Klimawandel, in Deutschland seit Jahren das dominierende Thema in den Medien und der Politik, kam global gerade einmal auf Platz zehn.

Aber es waren nicht nur die Grünen. Der amerikanische Historiker Stephen Gross zählt in Deutschland nicht weniger als fünf immer umstrittene Energiewenden, die er Sonderwege einer nervösen Nation nennt.

  • Die erste Energiewende (zwischen 1958 und 1970) begann unter Ludwig Erhard und war der Übergang von der Kohle zum Erdöl.
  • Die zweite war eine Halbwende hin zur Atomenergie. Es begann unter Adenauer, aber der größte Ausbau von Atomkraftwerken passierte unter Willy Brandt.

Die Sozialdemokraten waren sehr für Atomenergie. Die Atomkraft barg für sie das Versprechen billiger Energie. Denn billige Energie würde Wirtschaftswachstum ermöglichen, und auf der Grundlage des Wachstums konnten sie dann ihre sozialen Programme verwirklichen. Atomkraft war mit enormem Geschichtsoptimismus verbunden … Atomenergie sollte (etwa nach Meinung von Ernst Bloch) Meinung nach Wüsten in üppige Gärten verwandeln. Außerdem sollte Atomenergie für die Medizin verwendet werden, für den öffentlichen Nahverkehr. Was die SPD und die CDU dann aber noch mehr interessierte, war die Aussicht auf den Export.

  • Die dritte Energiewende war der Versuch der Grünen und der SPD, das Einsparen von Energie zu einer Energiequelle zu machen. In der Zeit nach 1973 begann die Anti-Atomkraftbewegung stärker zu werden und man setzte u. a. auf die Reduzierung von Verbrauch und Verschwendung.
  • Die vierte Energiewende war die Wende hin zum Erdgas, vor allem aus der Sowjetunion.
  • Die Wende zu erneuerbaren Energien und zu weiteren Einsparungen ist nun die fünfte ihrer Art. Mit langen Wurzeln bis in die späten 80er-Jahre.

Kommen wir zurück zu Robert Habeck. Bernd Rheinberg meint zu dessen aktuellen Zwangslage zunächst:

Es ist natürlich keine so gute Idee des Wirtschaftsministeriums, sich beim Heizungsgesetz auf die Wärmepumpe zu versteifen und die Umstellung an sehr enge Fristen zu binden. Die Technik ist zwar ausgereift, gute Modelle sind auch leise, bei Neubauten ist sie leicht zu installieren. Aber im Bestand sieht die Sache anders aus, da geht es gewaltig ins Geld, ….. Selbst das Fraunhofer Institut geht davon aus, dass längst nicht so viele Gebäude wie gewünscht derart beheizt werden können. Nur sind die Alternativen wegen der langen Untätigkeit der Merkel-Regierung und der korrumpierenden Auslieferung an Putins fossile Energieträger auch kaum vorhanden – das Nichtstun zu verlängern wäre sicher die schlechteste aller Alternativen.

Aber in der Politik zählt letztendlich allein die praktische Umsetzung. Politik muss funktionierende Lösungen finden. An dieser konkreten Moral, so die NZZ, scheitert der Wirtschaftsminister und Literat Habeck gerade:

Ohne den sehr deutschen Spleen des Atomausstiegs würde Deutschland heute deutlich weniger CO2 produzieren. Indem die Grünen den Atomausstieg (unter Mithilfe der Merkel-CDU) unbeirrt durchgesetzt haben, gewichteten sie das Ideal höher als das praktische Ergebnis. Genau das ist in der Politik amoralisch.“

Die Salonkolumnisten konstatieren da auch einen Grund für das Überperformen des Wirtschaftsministers:

Robert Habeck wollte nach der Großen Koalition eine neue Seriosität, einen neuen Republikanismus, eine neue Zukunftsorientierung und Dringlichkeit in die Politik bekommen – etwas, was sich von den Mehltaujahren unter Merkel deutlich abhebt. Er war es, der ein Dreivierteljahr vor der russischen Invasion in die Ukraine gereist war, um Solidarität mit dem damals schon bedrängten Land zu zeigen.

Er war sich nicht zu schade, vor den Gashändlern am Golf einen Kotau zu machen. Und wirkte dabei ein wenig wie „ein Musterschüler unter Beweislast vor sich selbst und den Wählern“. Er handelt, so die Einschätzung, mit einer Unbedingtheit, einem Überanspruch an sich selbst, die keiner Sache und keinem Amt gut bekommt. Und schnell zur Überlastung führt. Genährt wird dieser Überanspruch

durch die in der Öffentlichkeit ständig wiederholte Autosuggestion, Deutschland könnte das Klima, die Welt, die Menschheit retten. Aber keine Regierung, keine Partei, kein Ministerium kann die Welt retten. Jedes Land muss entsprechend seinem Anteil die notwendigen Anstrengungen unternehmen, mit denen man Klimawandel, Ressourcenerschöpfung und den katastrophalen Verlust biologischer Vielfalt Einhalt gebieten kann. Mehr geht nicht. Eine globale Aufgabe ist nur global zu lösen.

Und man muss sich realpolitisch innerhalb der globalen Entwicklungen bewegen und auch sein nationales Überleben sichern. Doch die deutsche Debatte wird immer wieder von den Rändern, von „Aufhaltern und Apokalyptikern“ bestimmt. Das magische Denken überwiegt. Man billigt der kapitalistischen Ökonomie keine Evolution zu, keine innovativen Entwicklungen hin zu einer ökologischen Marktwirtschaft.

Kein Fortschritt ohne Risiko – Prometheus wusste das wohl. Man kann nicht alles blockieren, was einem Angst macht, aber bei den eigenen favorisierten Lösungen alle Probleme ausblenden.

Näheres erfahren wir vielleicht, wenn Peter Sloterdijk mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) über die Reue des Prometheus diskutiert: auf der Phil.Cologne am 9. Juni, um 18 Uhr im WDR-Funkhaus in Köln.

Aufbruch in die Vier-Tage-Woche statt Arbeitspflicht

piqer:
Ole Wintermann

In einem aktuellen Computerwoche-Podcast mit Martin Gaedt geht es um die Vier-Tage-Woche als Lösungsansatz für Fachkräftemangel, erhöhte Produktivität und Work-Life-Balance. Die Vier-Tage-Woche führt aber zu weiteren positiven Folgen: Sie führt auch zu drastisch sinkenden Krankenständen, Firmen werden offener für Menschen, die kein Interesse an klassischen Vollzeittätigkeiten haben.

Dabei gibt es nicht die eine Blaupause für die Einführung der Vier-Tage-Woche. Vielmehr gibt es jeweils unternehmensspezifische Lösungen, die die jeweiligen Bedürfnisse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern adressieren: Welcher Tag wird gestrichen? Wer entscheidet dies?

Ganz maßgeblich ist in allen Fällen konsequenterweise die durchgängige Digitalisierung der Arbeitsprozesse. Der Nettoeffekt, so Gaedt, ist eindeutig positiv. Die Produktivität steigt, obgleich weniger Nominalstunden abgesessen werden.

Martin Gaedt hat 151 Praxisbeispiele aus der DACH-Region zusammengetragen und zeigt auf, wie positiv und innovativ dieser Ansatz sein kann und wie etwaige Hürden überwunden werden können. Die Beispiele stammen aus etlichen Branchen, sodass die Ausrede, dass es in der eigenen Branche nicht ginge, nicht zählt. Hörenswert.

Es ist erfrischend, der positiven Aufbruchsstimmung zuzuhören, die so deutlich im Widerspruch steht zur blockierenden Haltung der Arbeitgeberlobbyverbände und der FDP.

Eine brasilianische Stadt testet ein Grundeinkommen

piqer:
Rico Grimm

Eines vorweg: Die brasilianische Stadt Maricá testet zwar ein Grundeinkommen, aber nicht das Grundeinkommen, das bedingungslos in auskömmlicher Höhe gezahlt werden sollte. Dennoch lohnt ein Blick nach Südamerika. Denn Maricá ist etwas Einzigartiges gelungen: Es zahlt 42.500 Bürger:innen eine monatliche Grundsicherung – in einer Währung, die es nur vor Ort gibt und nur dort ausgegeben werden kann. Mumbuca heißt die Währung und das erklärte Ziel dahinter ist es, das Geld, das ausgezahlt wird, in der Stadt zu halten. Das funktioniert sehr gut, wie dieser Text zeigt.

Aber Kernfrage ist natürlich: Woher kommt das Geld? Maricá hat Glück: Vor der Küste liegt ein großes Ölfeld, die Steuereinnahmen sprudeln. Das könnte man nun abtun, aber „es sei eine politische Entscheidung, was man mit dem Geld macht“, sagt ein lokaler Politiker.

In vielen anderen Gemeinden wurde Öl vor den Küsten entdeckt. Doch in diesen ‚kleinen Emiraten‘ nutzten sie das Geld anders, zogen Luxusprojekte hoch, oder es versickerte im Korruptionssumpf. Einige seien reich geworden, aber das Gros der Bevölkerung ging leer aus.

Der Konflikt Musk vs. Altman

piqer:
Jannis Brühl

Open AI ist derzeit eines der faszinierendsten Unternehmen der Welt, das konnte man auch an dem Aufruhr während des Besuches von Firmenchef Sam Altman in Deutschland am Donnerstag sehen (über den ich mit Kollegen hier berichtet habe). Das Unternehmen hat mit Chat-GPT das wohl am schnellsten wachsende Programm überhaupt veröffentlicht, und dabei gerät etwas in Vergessenheit, dass Elon Musk bei der Gründung von Open AI eine tragende Rolle spielte.

Dieser Semafor-Artikel schlüsselt den Konflikt nach Gesprächen mit Insidern noch einmal auf: Der Interessenkonflikt zwischen Musks Hauptfirma Tesla – die genau wie Open AI die besten KI-Entwickler holen wollte – , Musks Pläne, die Führung von Open AI zu übernehmen – was ein Teil der Führungsgruppe unterstützte – , dann der seltsame Abschied von Musk, der Mitarbeiter irritierte. 2018 ging Musk im Streit, seitdem attackiert er Altman, weil der aus dem Nonprofit ein Milliardenunternehmen gemacht hat.

Der Artikel hat, typisch Semafor, eine klare Struktur und die perfekte Länge, um die Gemengelage zu durchdringen – für die Eiligen, die zwischen all dem Chat-GPT-Prompten mal wieder ein bisschen Silicon-Valley-Soap lesen wollen.

„Wir haben Lösungen für die Klimakrise“

piqer:
Michaela Haas

Bestsellerautorin Rebecca Solnit hält hier ein leidenschaftliches, wirklich lesenswertes Plädoyer dafür, neue, andere Geschichten zur Klimakrise zu erzählen. Sie argumentiert, dass es bereits gelungen sei, das Bewusstsein für den Klimawandel zu schärfen – mehr als zwei Drittel der Menschen in Amerika und Europa sind davon überzeugt, es müsse mehr für das Klima getan werden. Nun sei der nächste Schritt, über wirklich effektive Lösungen zu berichten, mit all ihren komplexen Facetten.

In order to do what the climate crisis demands of us, we have to find stories of a livable future, stories of popular power, stories that motivate people to do what it takes to make the world we need.

Zu oft, meint sie, falle Berichterstattung in den Medien in die Extreme Doomsday-Journalismus oder Greenwashing. Als ein Beispiel nennt sie die Kritik an Bergbau:

We still lack stories that give context. For example, I see people excoriate the mining, principally for lithium and cobalt, that will be an inevitable part of building renewables – turbines, batteries, solar panels, electric machinery – apparently oblivious to the far vaster scale and impact of fossil fuel mining.

Als zweites Beispiel nennt sie den Fokus auf individuelle Verantwortung und die Macht des Geldes. Die Veganerin auf dem Fahrrad, die ihre Rente bei der US-Bank Chase anspart, einem der größten Geldgeber der Ölindustrie, schade dem Klima womöglich mehr als der Autofahrer, der sein Geld den Financiers der Klimakrise entzogen hat. Menschen bräuchten mehr Informationen darüber, welche Entscheidungen den größten Unterschied in der Klimakrise machten.

Our greatest power lies in our roles as citizens, not consumers, when we can band together to collectively change how our world works.