Fremde Federn

Suisse Secrets, digitaler Euro, Wasserstoffwelle

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Der Zauberberg des Neoliberalismus, warum ein CO2-Preis der Königsweg zum Klimaschutz ist und wieso der digitale Euro ein Flopp zu werden droht.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Warum ein CO2-Preis der Königsweg zum Klimaschutz ist

piqer:
Ralph Diermann

Der Umweltökonom Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), erläutert im Interview mit den Spiegel-Redakteuren Gerald Traufetter und Michael Sauga kurz und knapp, warum die CO2-Bepreisung der Königsweg zum Klimaschutz ist, warum sie ordnungsrechtlichen Maßnahmen überlegen ist – und warum wir trotzdem nicht ganz ohne Verbote und Vorgaben auskommen werden.

Besonderes Gewicht legen die Interviewer auf die Frage des sozialen Ausgleichs. Denn ein Preisaufschlag auf fossile Brenn- und Kraftstoffe trifft einkommensschwächere Haushalte überproportional stark, weil sie dafür einen größeren Anteil ihres Einkommens ausgeben müssen. Edenhofer plädiert unter anderem für eine Rückerstattung der CO2-Einnahmen an die Bürger per Kopfpauschale. Wichtig sei zudem ein langfristiger, spürbarer Preispfad, sodass die Bürger diese Kosten bei ihren Kaufentscheidungen, etwa bei Autos, berücksichtigen können.

Wer sich tiefer mit diesem Thema auseinandersetzen will: Vor einigen Monaten hat Edenhofer in einem Interview für die Zeitschrift „Perspektiven der Wirtschaftspolitik“ seinen Blick auf die CO2-Bepreisung sehr detailliert dargelegt (hier verpiqd).

Auch Belgien surft auf der Wasserstoffwelle

piqer:
Jürgen Klute

Eigentlich beansprucht die Bundesregierung, die deutsche Wirtschaft zur weltweit führenden Wasserstoffökonomie machen zu wollen. Wie so oft wird in Deutschland aber mehr darüber geredet, als dafür getan. Doch nicht nur das. Auch Belgien will ab 2026 an exponierter Stelle auf dem Wasserstoffmarkt mitmischen.

Wie Rainer Lütkehus auf dem deutschsprachigen belgischen Expat-Portal Belgieninfo schreibt, soll der bereits in Zeebrügge bestehende NLG-Hub zu einer internationalen Drehscheibe für den Import und den Transit von erneuerbarem Wasserstoff werden. Der grüne Wasserstoff soll aus dem Sultanat Oman kommen, zu dem das belgische Königshaus gute Beziehungen unterhält.

Allerdings sind an diesem belgisch-omanischen Projekt auch deutsche Unternehmen beteiligt. Was genauer hinter diesem Projekt steht, beschreibt Rainer Lütkehus in seinem Artikel.

Keine Osterweiterung der NATO: Was genau wurde 1990 besprochen?

piqer:
Dirk Liesemer

Es ist eines der Argumente von Wladimir Putin im Konflikt um die Ukraine: 1990 habe der Westen zugesagt, seine Militärallianz nicht nach Osten auszudehnen. Tatsächlich haben US-Außenminister James Baker, der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher und der NATO-Generalsekretär Manfred Wörner damals derartige Aussagen von sich gegeben. Doch was genau meinten sie mit Osten, worum ging es in den Diskussionen, welche Rolle spielen solche Äußerungen – und warum gräbt Putin die alten Debatten aus? Diesen Fragen geht Hannes Adomeit in dem hier empfohlenen Text nach. Adomeit arbeitet als Senior Fellow am Institut für internationale Sicherheitspolitik an der Universität Kiel.

Der digitale Euro – eine Schnapsidee?

piqer:
Jannis Brühl

Kryptowährungen mögen nur ein Hype sein – und möglicherweise überhaupt keine Währungen, sondern nur Zockerzeug –, doch die Debatte über digitales Geld geht gerade erst los. Die Europäische Zentralbank bastelt am digitalen Euro, in China gibt es den e-Yuan schon. Sehr viele Staaten wollen digitales Geld schaffen, das analog (haha!) zum Bargeld über einen virtuellen Geldbeutel benutzt werden kann. Jedermann hätte dann ein Notenbankkonto und Zugriff auf digitales Notenbankgeld – im Unterschied zum Giralgeld der Banken, welches wir derzeit zum Beispiel über unser Bankkonto oder auch Paypal benutzen.

Im Zentrum der Kritik an solchen Plänen stehen oft Fragen nach Überwachung oder die Theorie von der Abschaffung des Bargelds. In diesem Beitrag auf dem Blog des Vereins Finanzwende erklärt der Wirtschaftsprofessor und ehemalige „Wirtschaftsweise“ Peter Bofinger aber, dass er er den digitalen Euro schon aus praktischen Gründen für eine ziemliche Schnapsidee hält:

  • Erstens sollen maximal 3.000 Euro auf so einem digitalen EZB-Konto liegen, um den Geschäftsbanken nicht zu schaden (sonst setzt es Strafzinsen). Somit bringt der Schutz vor einer Bankpleite, den die EZB bietet, wenig – denn bei den Geschäftsbanken greift ja die Einlagensicherung bis 100.000 Euro.
  • So ein EZB-Konto soll absichtlich ohne weitere Dienstleistungen und Features auskommen – um nicht in Konkurrenz zur Privatwirtschaft zu stehen. Dann aber stellt sich die Frage, wer so ein primitives Konto überhaupt haben will.
  • Die Funktion „digitalen Bargelds“ übernehmen bereits Kreditkarten, Google-Pay, Apple-Pay und PayPal – aber sie bieten dabei eben viele zusätzliche Dienstleistungen an. Einziger Grund könnte hier also ein grundsätzliches Misstrauen gegen private Finanzfirmen sein.

Bofinger resümiert:

„Es drängt sich der Eindruck auf, dass es Notenbanken schwerfällt, sich in die Perspektive der Nutzer digitalen Geldes und digitaler Zahlungsplattformen hineinzuversetzen. Das überrascht nicht, da sie als Monopol-Anbieter von Bargeld bisher keinem echten Wettbewerb ausgesetzt waren.“

Fazit: Das digitale Geld wird wohl kommen, aber wozu man es braucht, ist wohl selbst den Verantwortlichen noch nicht so ganz klar.

Der Zauberberg des Neoliberalismus

piqer:
Achim Engelberg

Der Neoliberalismus ist eine Selbstbezeichnung – das unterscheidet ihn von vielen anderen geistigen Strömungen, die von anderen im Nachhinein benannt worden sind. Theresia Enzensberger, die einige noch hier von Piqd kennen, nähert sich dieser wirkmächtigen Ideologie in Form einer Reportage.

Sie reist dorthin, wo alles begann:

Hier, im ehemaligen «Hôtel du Parc» trafen in der Oster­woche 1947 39 Wirtschafts­wissenschaftler, Journalisten, Historikerinnen und Philosophen zusammen – eine Gruppe bedeutender Köpfe, die auf den weiteren Lauf der Weltgeschichte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss haben sollte.

Wenige dachten außerhalb dieses Zirkels wie wirkmächtig der Neoliberalismus einmal werden würde; bald gehörten der Mont Pèlerin Society fünf Regierungs­chefs und etliche Finanz- und Wirtschafts­minister an, ihre Mitglieder berieten und beraten in internationaler Thinktanks die Politik vieler Staaten.

Der sogenannte Wirtschaftsnobelpreis ist anders als die anderen Auszeichnungen nicht von Alfred Nobel gestiftet, was aber meist untergeht. Eigentlich heißt diese von Neoliberalen gestiftete Auszeichnung „Alfred-Nobel-Gedächtnis­preises für Wirtschafts­wissenschaften“. Kein Wunder, das bislang acht Mitglieder der Mont Pèlerin Society einen Nobelpreis erhielten. Diese Verschleiungstaktik ist originär diesem Zirkel, der nur intern Klartext redet. So befand Friedrich Hayek, der den „Wirtschaftsnobelpreis“ erhielt:

Die Frage, wie die Macht von Gewerkschaften angemessen eingeschränkt werden kann, sowohl rechtlich als auch tatsächlich, ist eine der wichtigsten Fragen, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken können.

Theresia Enzensberger bringt viele sinnliche Details, die uns die Entstehung des Neoliberalismus plastisch vor Augen führen:

Wie Ola Innset in seinem Buch «Reinventing Liberalism» beschreibt, erinnert sich Dorothy Hahn, die junge Studentin aus dem ausgebombten London, noch heute daran, dass es beim Mittagessen Orangen gab. Sie hatte in ihrem Leben noch keine Orange gegessen und wusste nicht, wie man sie schält. Hayek kam ihr zu Hilfe, was Hahn ungemein peinlich war. Diese Anekdote sagt viel darüber aus, wie sehr die Tage am Mont Pèlerin von den Realitäten der Nachkriegs­zeit geprägt waren.

Heute gehört das ehemalige „Hôtel du Parc“ dubiosen Geschäftsleuten, die aber gut dazu passen:

Eine kasachische Oligarchen­familie, die der Geldwäsche bezichtigt wird. Der ehemalige Bürger­meister von Almaty, der sich während der rapiden Privatisierung postsowjetischer Staaten massiv bereichert haben soll. Ein russischer Mobster, der mit Donald Trump Immobilien­geschäfte macht.

Ein Belle-Époque-Hotel, das entkernt wird und als Kopie seiner selbst im Plattform­kapitalismus wieder­aufersteht.

Ihr Fazit, da der Neoliberalismus sich im Strom der Geschichte wandelte:

Eines jedenfalls ist sicher: «An der Macht befindliche Verrückte», wie es bei Keynes heisst, nehmen keine Rücksicht auf die Feinheiten akademischer Differenzierung. Das intellektuelle Erbe ist unkontrollierbar. Selbst die ernsthaften, Zigarre rauchenden Begründer der Mont Pèlerin Society waren dazu nicht in der Lage. Denn die Macht der Ideen liegt ja gerade in ihrer Veränderlichkeit.

Eine Idee ist kein Fixpunkt, sie existiert nicht im luftleeren Raum, sie ist angewiesen auf Auslegung und Interpretation. Und so spiegeln sich die Ideen des Neoliberalismus in allen glänzenden Oberflächen des «Pèlerin Palace».

Für diese ungewöhnliche Darstellung kam Theresia Enzensberger auf die Shortlist des WORTMELDUNGEN-Literaturpreis 2022. Wer es stärker analytisch haben will, ist im Beitrag HAYEKS BASTARDE. DIE NEOLIBERALEN WURZELN DER RECHTSPOPULISTEN gut aufgehoben, der ebenso in der Reihe in der „Republik“ erschien, in der auch Theresia Enzensbergers essayistisch angereicherte Reportage erschien.

Der Wirtschaftswissenschaftler Quinn Slobodian erläutert darin die Verbindungen zwischen Neoliberalen und Rechtsextremen.

Vielmehr stellten sie (die Neoliberalen, A. E.) fast ein Jahrhundert lang Über­legungen an, wie der Staat neu gedacht werden muss, um die Demokratie einzuschränken, ohne sie abzuschaffen, und wie nationale und überstaatliche Institutionen benutzt werden können, um Wettbewerb und Handel zu schützen.

Wenn wir Neoliberalismus als ein Projekt verstehen, den Staat umzubauen, um den Kapitalismus zu retten, dann beginnt sich sein angeblicher Wider­spruch zum Populismus der Rechten aufzulösen.

Die Schweiz und das schmutzige Geld: Was sind die #SuisseSecrets?

piqer:
Mohamed Amjahid

Welche Klischees fallen einem ein, wenn es um die Schweiz geht? Käse? Berge? Pünktliche Züge? Ein Vorurteil hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder als Fakt bestätigt, eine neue investigative Recherche in einem internationalen Verbund von Redaktionen: Die Schweiz ist Lagerort für gestohlenes Geld, das windige Geschäftsmänner und Diktatoren aus der ganzen Welt in der Alpenrepublik aufbewahren – und das Schweizer Bankensystem samt Staat bestärkt diese bösen Kräfte noch darin.

Die #SuisseSecrets sind Informationen zu mehr als 18.000 Konten von mehr als 30.000 Kunden der Schweizer Großbank Credit Suisse. Sie wurden Süddeutschen Zeitung von einer anonymen Quelle zugespielt. Es ist das erste bedeutende Leak aus einer großen Schweizer Großbank.
Die Quelle hat uns ein Statement zu ihrer Motivation überlassen: „Der Vorwand, die finanzielle Privatsphäre zu schützen, ist lediglich ein Feigenblatt, um die schändliche Rolle der Schweizer Banken als Kollaborateure von Steuerhinterziehern zu verschleiern.“

Die Liste der Kunden der Credit Suisse ist lang. Darin finden sich heikle Kundennamen wie jener des jemenitischen Geheimdienstchefs oder des jordanischen Königs. Die Namen von verurteilten Kriminellen, Ministern in autokratischen Regimen oder Diktatoren selbst finden sich auf der Liste: der frühere algerische Machthaber Bouteflika, die Söhne des früheren ägyptischen Diktators Mubarak oder die Töchter des kasachischen Autokraten Nasarbajew. Die Spur führt auch zum deutschen Siemens-Konzern.

In Deutschland berichtet die Süddeutsche Zeitung über die #SuisseSecrets. In diesem Twitter-Thread wird die ausführliche Recherche des Verbunds (hinter Bezahlschranke) gut zusammengefasst und auf weiterführende Links verwiesen. In der Schweiz dürfen Redaktionen nicht über diesen Fall berichten. Ihre Pressefreiheit wird von einem speziellen Gesetz beschnitten. Bei Berichterstattung droht Journalist*innen dort Gefängnis.

Die unsichtbare Hand des Plans im digitalen Kapitalismus

piqer:
Thomas Wahl

Mit der zunehmenden Computerisierung und Vernetzung unserer Gesellschaften und Wirtschaften wird eine Idee wiederbelebt, die man eigentlich für erledigt gehalten hatte – volkswirtschaftliche Planung bzw. Planwirtschaft. So fragt sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung:

Gleichzeitig ist zu prüfen, inwieweit bestehende Elemente Solidarischer Ökonomie nicht nur nach innen, in der Organisation ihrer Beziehungen innerhalb des Unternehmens, sondern auch in den Außenbeziehungen ihren solidarischen und alternativen Charakter bewahren können. Sind dies schon „Vorboten“ der Planwirtschaft? Muß ein Plan den Markt ersetzen? Was bedeutete der „Marktsozialismus“? Was sind überhaupt „Planung“ und „Markt“? Warum sind die Planwirtschaften gescheitert? Wo könnte der Platz eines linken Planungskonzeptes zwischen den eher technokratisch anmutenden Vorstellungen des „Computersozialismus“ und den Vorstellungen eines unendlich scheinenden basisdemokratischen Abstimmungsprozesses einer „partizipativen Ökonomie“ nach M. Albert zu finden sein? Wie hängen Planung und Wirtschaftsdemokratie zusammen?

Die Idee der grundsätzlichen Planbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft scheint intuitiv als so bestechend, dass sie selbst (oder gerade?) in ihrer simplen Version und trotz der Erfahrungen mit dem Plan im real existierenden Sozialismus viele Menschen weiter fasziniert.

„Soziopolis“ hat vor einigen Monaten eine Rezension zu einem Sammelband veröffentlicht, der sich der Diskussion zu diesem Thema widmet: Die unsichtbare Hand des Plans. Koordination und Kalkül im digitalen Kapitalismus. Sicher geht es nicht einfach um einen Rückgriff auf das klassische Modell einer Planwirtschaft oder genauer auf die Zentralverwaltungswirtschaft, wie sie Walter Euken mal genannt hat, vereinfacht gesagt, eine Wirtschaftsordnung,

in der das gesamte wirtschaftliche Geschehen von einer zentralen Stelle nach politischen und wirtschaftlichen Zielvorstellungen geplant, gelenkt und verwaltet wird. Der Staat bzw. staatliche Planungsbehörden auf allen Planungsebenen bestimmten die gesamte Produktion (d. h., wer welche Güter womit herstellt), die Verteilung (d. h., wer welche Güter wo erhält) und die Preise aller Güter und Dienstleistungen.

Die zentrale Idee ist heute eher die, dass moderne Informations- und Kommunikationstechnologien, globale digitale Netze und Algorithmen eine wesentlich besser funktionierende demokratische, nichtkapitalistische und nachhaltige Form der Wirtschaftsplanung ermöglichen könnten. Jedenfalls im Vergleich mit den planerischen Möglichkeiten des Realsozialismus. Und dass es damit auch gelingt, einen autoritären Zentralismus à la Realsozialismus zu umgehen.

Die Rezension bescheinigt den Autoren, über-optimistische Erwartungen an die emanzipatorischen Potenziale digitaler Technologien vermieden zu haben.

Der im Buch vertretene Ansatz ist nüchterner: Es will Vergangenheit, Gegenwart und mögliche Zukünfte des Planungskonzepts darstellen und mit offenem Ende diskutieren.

Klar ist auch, dass große Unternehmen selbst Planinstrumente nutzen – sei es zur Finanzplanung, zur Steuerung der Logistik, von Absatz und Produktion. Das Ganze zunehmend digitalisiert über Algorithmen. Sicher ist es richtig, eine gewisse Skepsis gegenüber diesen algorithmischen Systemen zu behalten. Ob es aber die ist, die im Sammelband angesprochen wird, darüber wäre zu diskutieren:

Diejenigen Informationen, die der Markt und mit ihm die Preise liefern, seien, anders als Mises und Hayek behauptet hatten, nicht objektiv, sondern würden eine Umgebung schaffen, „in welcher der ‚Profitinstinkt‘ handlungsleitend werden kann“. Die Informationstechnologien, Logistikapparate und Datensammlungen eines Plattformunternehmens wie Amazon stünden daher eher für einen perfektionierten Kapitalismus, wie ihn Hayek nicht für möglich gehalten hatte, anstatt für einen „Cybersozialismus“ nutzbar zu sein.

War doch die Effizienz der kapitalistischen Wirtschaft für Marx die eigentliche Voraussetzung für den Sozialismus. Also die Fähigkeit, mit möglichst geringem Aufwand zu produzieren, schnell und flexibel auf Nachfrage zu reagieren und dabei Überschüsse für weitere Investitionen zu generieren. Um vielleicht einmal zu ermöglichen:

Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!

Das nicht zu beherrschen, ist dem real-existierenden Sozialismus und seinen planenden Akteuren fürchterlich auf die Füße gefallen. Ich meine, ein „Cybersozialismus“, der dem Gewinn skeptisch gegenübersteht, ist sicher wieder nicht überlebensfähig. Insofern stimmt es wahrscheinlich, was Autoren des Bandes konstatieren:

dass es nicht darum gehen könne, ob Wirtschaftsplanung sinnvoll in einer Kombination verschiedener ökonomischer Institutionen zur Anwendung kommen kann oder nicht. Die eigentliche Frage sei vielmehr, welche Form der demokratischen Deliberation man der postkapitalistischen Planung zugrunde lege – was zuallererst eine komplexe politische Problemstellung sei, während technologische Aspekte nachrangig wären.

Also die Frage, was konkret will, soll und kann die Gesellschaft eigentlich planen? Wer sind die Planakteure, mit welchen Befugnissen (Macht?), Rechten und Pflichten. Wie findet man Konsens? Wie wird der Staat in einem „Cybersozialismus“ aussehen, gibt es ihn dann noch?

Denn es ist kaum davon auszugehen, dass sich eine einzige alternative Ökonomie, organisiert nach einem auf allen Ebenen umsetzbaren Prinzip, herausbilden könnte.

So etwa das Problem, dass sich

Commons als nichtexklusive Eigentumsformen zur kollektiven Verwaltung oder Bewirtschaftung von (natürlichen) Ressourcen … meist auf die lokale Ebene (beziehen), während die Planungsdebatte häufig gesamtgesellschaftliche Maßstäbe anlegt.

Das eigentlich Interessante wäre also der Übergangsprozess hin zu einer postkapitalistischen Gesellschaft. Und ein solcher Evolutionsprozess ist, genau wie im 20. Jahrhundert, nicht planbar. Es gäbe höchstens empirische Erfahrungen und Analogien aus der damaligen Geschichte, die m.E. leider zu wenig genutzt werden, wurden doch viele Fehler schon mal begangen. Es bleibt Versuch und Irrtum, Aushandlungsprozesse ohne Schaum vorm Mund – was gerade Linken oft schwer fällt. Meist scheitert ja eine Idee nicht an ihrer Größe, sondern am Streit über Details bzw. an scheinbaren „Kleinigkeiten“. Es bleibt spannend.

Europäische Union und Afrikanische Union: Zwei ungleiche Partner

piqer:
Jürgen Klute

Am Freitag (18.02.2022) endete ein zweitägiges Gipfeltreffen der EU mit der Afrikanischen Union (AU) in Brüssel. Gegenstand des Treffens waren vor allem die Themen Infrastrukturprojekte, ein Investitionspakt zur Förderung des ökologischen Wandels („Global Gateway“) sowie Gesundheitspolitik.

Thorsten Fuchshuber hat für die Luxemburger Zeitung woxx die Hintergründe und Konfliktpunkte dieses Treffens analysiert und beschrieben. Angesichts der Energiewende wächst die Bedeutung Afrikas für die Europäische Union. Zum einen kommt aus Afrika ein Großteil der Rohstoffe und Bodenschätze, die derzeit zur Batterieproduktion gebraucht werden, um eine europäische Verkehrswende umzusetzen. Und auch das Thema grüner Wasserstoff spielt eine Rolle. Zum anderen hat der Green New Deal der EU erhebliche Auswirkungen für die Wirtschaft vieler afrikanischer Staaten, etwa der Ausstieg aus fossiler Energiegewinnung (im Blick auf Afrika geht es vor allem um Erdöl) oder der CO2-Grenzausgleichsmechanismus für Importe.

Afrikanische PolitikerInnen haben allerdings aufgrund bisheriger Erfahrungen einen eher nüchternen Blick auf die Zusammenarbeit mit der EU, wie Fuchshuber schreibt:

In Afrika selbst jedoch betrachtet man den „Global Gateway Africa“ mit Skepsis. Es ist kein Geheimnis, dass sich die gesamte Initiative der EU nicht zuletzt gegen den zunehmenden Einfluss Chinas im Globalen Süden richtet, das seit Jahren mit dem Ausbau einer „Neuen Seidenstraße“ beschäftigt ist. Während dabei Umweltschutz und Menschenrechte missachtet werden, will die Europäische Union gerade auf diesem Terrain punkten. Man verfolge mit der Initiative einen „demokratischen, werteorientierten Ansatz“, so von der Leyen auf einer Pressekonferenz. Die EU-Kommission verspricht, „Afrika bei einem starken, integrativen, umweltfreundlichen und digitalen Aufschwung und Wandel zu unterstützen“, unter anderem mit der „Beschleunigung des nachhaltigen Wachstums und der Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze“.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass bei der Vorbereitung des Gipfeltreffens die afrikanische Seite kaum eingebunden war. Das gilt nicht nur für die politische Ebene, wie Fuchshuber feststellt, sondern auch für die zivilgesellschaftliche.

Wer sich für die Ergebnisse dieses afrikanisch-europäischen Gipfeltreffens interessiert, dem sei hier noch der Artikel „EU-Afrika-Gipfel: Beziehungsstatus: Es ist kompliziert“ aus der taz (dem deutschen Pendant der woxx) vom 18.02.2022 empfohlen. Er kommt aus der Feder von Christian Jakob und entstand unter der Mitarbeit von piqer Eric Bonse.

Von der Herrschaft im Metaverse

piqer:
Jörn Klare

In der FAZ widmet sich Stefanie Diemand in einem Essay der Gegenwart und Zukunft des Metaversum. Letztere ist – das sei vorweggenommen – nicht abzusehen, was eine alles andere als beruhigende Nachricht ist. Denn das jetzt und hier, bzw. dort der virtuellen Realität ist irritierend genug.

Schon im März 2019 verkaufte das Unternehmen „The Fabricant“ ein digitales Kleid für 9500 Dollar. Bodenlang, Farben wie die einer Seifenblase, es ist ein Statement. Doch es ist ein Kleid, das seine Käuferin niemals tragen kann, niemals in den Schrank hängen wird oder aufgrund von Flecken in die Reinigung bringen muss – denn Rotwein wird die Trägerin in diesem Kleid sowieso nicht trinken. Das Kleid existiert physisch nicht, es lässt sich aber auf Fotos tragen. Das „Iridescence“-Kleid war das erste rein digitale Kleidungsstück, das jemals verkauft wurde. Heute sind die virtuellen Kollektionen von The Fabricant in weniger als zehn Minuten ausverkauft. Kein Wunder, dass selbst große Modekonzerne wie Nike oder Luxusmarken wie Gucci und Balenciaga es wagen, damit zu experimentieren.

Virtuelle Grundstücke werden bereits für einige Millionen realer Dollar verkauft. Die großen Auktionshäuser setzen im letzten Jahr weit über 100 Millionen solcher Dollar mit Non-Fungible-Token (NFT), Kunst die sich an keine Wand und in keinen Raum stellen lässt, um. Auch sexuelle Belästigung gibt es dort schon.

Diemand spricht dazu mit dem Digitalökonomen Jörn Lengsfeld, der erst einmal klar stellt, dass es das Metaversum im Grunde noch gar nicht gibt, dass es aber sicher kommen wird.

Er sagt, die Entwicklungen, die kommen werden, seien gewaltig und tiefgreifend. Damit meint er die Entstehung eines Metaversums und einer virtuellen Ökonomie in Verbindung mit neuen Technologien und Themenfeldern wie Big Data, Robotik, Sensorik und vielem mehr. Nein, das, was auf uns zurollt, wäre nicht mit der Entwicklung des heutigen Internets zu vergleichen.

Neben der Frage, wie sich diese noch kaum zu definierende Parallelwelt weiter ausbildet, wird es vor allem darum gehen, wer dort die Regeln bestimmt.

Doch wer wird in Zukunft über diese neuen Welten herrschen? Die großen Tech-Konzerne? Dann könnten sie in Zukunft nicht mehr nur Marktteilnehmer werden, sondern einen eigenen Markt generieren. Und: Wollen wir das? Wenn wir bedenken, dass Unternehmen wie Facebook schon heute durch Falschinformationen oder Hetze von sich reden machen, sollte die Antwort eigentlich klar sein.

Lesenswert.

Glück angehen wie ein Rentenportfolio

piqer:
Theresa Bäuerlein

Jahre lang ist Dan Buettner um die Welt gereist, um die gesündesten aller Menschen zu treffen und herauszufinden, was man von ihnen lernen kann. Sein nächstes Projekt war, statistische Faktoren für Glück zu finden, sein Buch „The Blue Zones of Happiness“ ist 2017 erschienen. Dabei wendet sich Buettner – und das macht seine Arbeit interessant – ab von bloßer Selbstoptimierung, ohne sie zu negieren.

Mir gefällt der Gedanke, das Glück auf dieselbe Weise zu betrachten, wie Sie es bei Ihrem Rentenportfolio tun. Sie wollen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen kurz- und langfristigen Anlagen, Aktien und Anleihen. Das verbissene Streben nach einem Ziel verliert ein wenig den Sinn, denn die Summe der positiven Emotionen, die wir jeden Tag erleben, ist wertvoll. Wenn Sie also nur Ihre Ziele verfolgen oder wenn alles, was Sie tun, sehr zielorientiert ist, verzichten Sie heute auf Freude für eine vermeintlich bessere Zukunft. Wir wissen inzwischen, dass Menschen zuverlässig falsch vorhersagen, was sie in der Zukunft glücklich machen wird. Sie könnten sich den Arsch aufreißen, Ihr Ziel verfolgen, finanziell unabhängig werden und am Ziel ankommen und feststellen: „Oh, mein Leben ist scheiße.“

Zu diesem Portfolio gehört es auch, das ist ein zweiter wichtiger Punkt, seiner Umgebung Aufmerksamkeit zu schenken: In der Nähe von Wasser zu leben ist eine gute Idee, mittelgroße Städte auch, Erfahrungen statt Dinge kaufen. Und man sollte sich möglichst wenig Werbung aussetzen (gar nicht so leicht im Internet).