Neue Serie

Was tun gegen den Fachkräftemangel?

Fast jedes zweites Unternehmen beklagt, dass sein Geschäft durch fehlende Fachkräfte behindert wird – was sich in den kommenden Jahren noch verschärfen dürfte. In einer neuen Serie analysieren wir mögliche Lösungen für das Strukturproblem Fachkräftemangel.

Bild: Pixabay

Das Problem des Fachkräftemangels ist nicht neu. Schon vor über einem Jahrzehnt klagten die Arbeitgeber darüber, dass Stellen nicht besetzt werden können. Allerdings liefen die Diskussionen eher mit Blick auf die Zukunft ab: Beispielsweise ergab eine Prognose des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) aus dem Jahr 2010, dass bis 2025 die Nachfrage nach beruflich Qualifizierten um 660.000 Personen anwachsen wird.

Doch inzwischen ist die Zukunft Gegenwart – und der Fachkräftemangel real. Seit 2016 liegt die Zahl der offenen Stellen bei konstant über einer Million. Die letzten Daten vom November 2022 nennen sogar 1,8 Millionen offene Stellen. Das KfW-ifo-Fachkräftebarometer kommt basierend auf einer Befragung von Unternehmen in Deutschland im Oktober 2022 zu dem Ergebnis, dass annähernd 50% der Betriebe ihre Geschäftstätigkeit derzeit durch Fachkräftemangel behindert sehen.

Der Fachkräftemangel im Detail

Der DIW-Ökonom Karl Brenke konstatiert, dass vor allem durch das duale System oder durch eine Fachschule beruflich Qualifizierte gesucht werden, während bei akademischen Berufen eher weniger Engpässe aufgetreten seien. Dies bestätigt auch die Stellenerhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: mehr als 60% der offenen Stellen beziehen sich auf Arbeitsplätze, die für Bewerber mit gewerblichem, kaufmännischem oder anderem Ausbildungsabschluss (einschließlich Fachhochschulabschluss) vorgesehen sind, während Arbeitsplätze für Ungelernte nur 20% ausmachen. Demgegenüber betrug die qualifikationsspezifische Arbeitslosenquote im Jahr 2021 bei Menschen ohne (anerkannten) Berufsabschluss 20,6%, bei Menschen mit betrieblicher beziehungsweise schulischer Berufsausbildung 3,5% und bei Menschen mit einem akademischen Abschluss 3,2%.

Symptomatisch für die Lage am Arbeitsmarkt ist der Ausbildungsmarkt. Hier konstatieren Andreas Lagemann und Jan Wedemeier ein ausgesprochenes Mismatch: Viele Stellen bleiben unbesetzt, weil sich die Bewerber aus qualifikatorischen Gründen nicht eignen. Sehr schlechte Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben Arbeitsuchende ohne Schulabschluss oder nur mit Hauptschulabschluss. Besonders schwer scheint es für Handwerksbetriebe und die Gastronomie zu sein, geeignete Bewerber zu finden. Aber auch regional passen Bewerber und offene Stellen nicht immer zusammen: Während es beispielsweise in Berlin 140 Bewerber auf 100 Ausbildungsstellen gibt, sind es in einigen Regionen Bayerns oder Baden-Württembergs zum Teil weniger als 50 Bewerber.

Zukünftige Entwicklung des Arbeitsvolumens

Und wie sieht es in Zukunft aus? Das IAB hat in einer Prognose bis 2035 errechnet, dass das Arbeitskräfteangebot allein aufgrund der demografischen Entwicklung, wenn sich der Zugang zum Arbeitsmarkt nicht ändert, um mehr als 7 Millionen Personen sinken würde. Die Erwerbsquoten können nach Auffassung des IAB durch mehrere Maßnahmen erhöht werden: Die Arbeitszeit kann verlängert werden, Arbeitnehmer können später in Rente gehen, die Frauenerwerbsquote kann erhöht werden und Zuwanderer können die einheimischen Arbeitskräfte ergänzen.

Qualifizierte Arbeitskräfte werden aber nicht allein dafür benötigt, den Status quo aufrecht zu erhalten oder die Rentenfinanzierung zu sichern. Die Transformation der Wirtschaft, die Dekarbonisierung und der technologische Wandel erfordern auch eine Neuausrichtung der Arbeitskräfte. „Durch den Strukturwandel werden dabei in einigen Branchen und Regionen Arbeitsplätze abgebaut, während andernorts zunehmend Fachkräfte gesucht werden, teilweise mit gänzlich neuen Qualifikationen“, gibt die Bundesregierung in ihrem Bericht zur Fachkräftestrategie zu bedenken. Wenn zudem Importe substituiert werden sollten, um Probleme aufgrund der derzeit akuten Lieferengpässe zu mildern, werden auch dafür zusätzliche Arbeitnehmer benötigt.

Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel

Die einfachste und marktwirtschaftlichste Lösung für einen Mangel wäre die Preiserhöhung. Man könnte also erwarten, dass in den Berufen, in denen die Nachfrage nach Arbeitnehmern hoch ist, auch die Löhne steigen. Eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft hat untersucht, inwieweit Mangelberufe von 2013 bis 2019 überdurchschnittliche Lohnzuwächse zu verzeichnen haben. Dies ist tatsächlich der Fall, aber nicht in jedem Beruf. Zudem scheint sich auch die Bereitschaft und/oder die Möglichkeit, den Wohnort zu wechseln, positiv auf die Verhandlungsposition des Arbeitnehmers auszuwirken. Diese Bereitschaft ist bei hochbezahlten Arbeitsplätzen höher als bei Niedriglöhnern.

Sollte das inländische Arbeitsangebot ausgeweitet werden, richtet sich der Fokus zunächst auf die Frauenerwerbsquote. Sie ist in den letzten 30 Jahren von 57% auf 72% gestiegen, was aber immer noch um 7 Prozentpunkte weniger als bei Männern ist. Das ist zwar ein gewaltiger Fortschritt – 1991 betrug der Unterschied 20 Prozentpunkte. Dennoch wirkt sich die Erwerbstätigkeit der Frauen nicht so stark auf das Arbeitsvolumen aus: So arbeiteten 2020 66% der Mütter in Teilzeit, aber nur 7% der Väter. Und auch bei den Frauen ohne Kinder ist die Teilzeitquote deutlich höher als bei Männern.

Dass hier das Erwerbstätigen-Potenzial nicht voll ausgeschöpft werden kann, liegt möglicherweise auch daran, dass sich für viele „Zweitverdiener“ aufgrund des Ehegattensplittings Arbeit angesichts der hohen Grenzbesteuerung nicht lohnt. Die Begünstigung von Teilzeitbeschäftigung in Minijobs ist ein weiteres Hemmnis vor allem für Frauen: Es hindert sie daran, sich einerseits zu qualifizieren und andererseits ihr Arbeitsangebot auszuweiten. Die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit flexibel zu gestalten oder im Homeoffice zu arbeiten, dürfte es Frauen zudem erleichtern, ihre Arbeitszeit zu verlängern. Letztlich ist aber für Eltern die entscheidende Voraussetzung für eine Teilnahme am Arbeitsleben, dass ihre Kinder in Kitas betreut werden. Wenn der Zugang zu Kitas erschwert wird oder zu teuer ist, bleibt den Eltern nichts anderes übrig, als zu Hause zu bleiben.

Das Arbeitsvolumen könnte auch erhöht werden, wenn mehr Rentner ins Arbeitsleben integriert würden. Dies lässt sich natürlich durch eine Erhöhung des Renteneintrittsalters erzwingen. Es lässt sich aber auch dadurch erreichen, dass ältere Beschäftigte fortgebildet werden und ihnen die Unternehmen eine Perspektive im Betrieb bieten. Tatsächlich hat es eine Entwicklung hin zu einer höheren Erwerbstätigenquote Älterer gegeben: Bei den 60- bis unter 65-Jährigen stieg die Quote von 44% (2011) auf 61% (2021), bei den 65- bis 70-Jährigen im gleichen Zeitraum von 10% auf 17%. Dies führt das Statistische Bundesamt darauf zurück, dass der Anteil Hochqualifizierter an der Erwerbsbevölkerung zugenommen hat. Die oben genannte iab-Prognose ergab für das Jahr 2035, dass 70% des zusätzlichen Erwerbspersonenpotenzials aus der steigenden Erwerbsbeteiligung Älterer resultiert.

Eine weitere Erhöhung des Arbeitsvolumens ist durch eine stärkere Zuwanderung möglich. Im Jahr 2021 kamen rund 1,9 Millionen Menschen aus dem Ausland, um hier zu arbeiten. Das sind ca. 4% der Erwerbstätigen in Deutschland. Die meisten stammen aus EU-Staaten, viele weitere aus europäischen Staaten außerhalb der EU. Allerdings war die Arbeitslosigkeit unter Ausländern mit 12,5% im März 2022 auch besonders hoch, wobei vor allem Asylbewerber mit 30,2% eine deutlich höhere Arbeitslosenquote aufwiesen als Erwerbspersonen aus der EU (7,9%). Hier zeigt sich das große Potenzial, das allerdings nur dann genutzt werden kann, wenn ausländische Arbeitskräfte qualifiziert und integriert werden. Um es Fachkräften zu erleichtern, nach Deutschland einzuwandern, wurde das Fachkräfteeinwanderungsgesetz Ende 2022 liberalisiert. Fachkräfte mit beruflicher, nicht-akademischer Ausbildung können leichter einwandern. Bereits bestehende Regelungen für Fachkräfte mit Hochschulabschluss werden fortgeführt und teilweise weiter erleichtert.

Ein großes Problem bleibt die Qualifizierung hier lebender Menschen mit Migrationshintergrund. Vor allem die Schulen, aber auch andere Weiterbildungsinstitutionen sind hier in der Pflicht. Im Jahr 2020 hatten nach dem Mikrozensus 11,9% der Personen mit Migrationshintergrund keinen Schulabschluss und 38,2% keinen beruflichen Abschluss. Diese Zahlen beziehen sich auf die Gesamtzahl der Zugewanderten. Wenn man aber die Kompetenzen der zukünftigen Arbeitskräfte betrachtet, sieht es auch nicht gut aus: So hat der IQB-Bildungstrend 2021 festgestellt, dass sich das Kompetenzniveau von Viertklässlern durch die Schulschließungen in der Corona-Pandemie seit 2016 bzw. 2011 in allen untersuchten Bereichen signifikant verringert hat, dass aber bei Kindern mit migrantischem Hintergrund dieser Rückgang deutlich ausgeprägter war. Wenn der zukünftig steigende Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften aus diesem Potenzial befriedigt werden sollte, müssen jetzt die Weichen dafür gestellt werden.

Wenn die Zahl der Erwerbstätigen sinkt und damit auch die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung, könnte einer bessere Digitalisierung helfen: Die Arbeitsabläufe und Arbeitsprozesse könnten arbeitssparender mithilfe von digitaler Technik organisiert werden. Sollten allerdings die Finanzierungsprobleme in der Rentenversicherung gelöst werden, müsste die in Zukunft kleinere Zahl von Arbeitnehmern einen höheren Lohn erhalten, aus dem dann die höheren Rentenbeiträge gezahlt werden. Dies ist dann nicht einfach, wenn die Arbeitskräfte beispielsweise in der Pflege beschäftigt werden. Dort ist eine Digitalisierung vorläufig noch schwer vorstellbar. Und hier wird auch deutlich, dass eine höhere oder zumindest gleichbleibende Wertschöpfung bei weniger Arbeitskräften nur dann erreichbar ist, wenn die Arbeitsproduktivität steigt. Aber gerade hier hat sich in jüngster Vergangenheit gezeigt, dass in Deutschland die Arbeitsproduktivität mit durchschnittlich 1,1% p.a. (1995-2018) nur langsam gewachsen ist, langsamer als man es von der deutlichen Digitalisierung in diesem Zeitraum erwartet hätte. Als Hauptursache wird die zunehmende Beschäftigung im Dienstleistungssektor angesehen.

Handelnde Institutionen

Wenn es tatsächlich einen Mangel an Fachkräften gibt, so sind die Unternehmen in der Pflicht, für Berufstätige den Arbeitsplatz attraktiv zu gestalten, durch höhere Löhne und gute Arbeitsbedingungen. Vor allem im Handwerk ist es entsprechend auch erforderlich, Ausbildungsplätze bereitzustellen. Ältere Arbeitnehmer müssen beständig weiter qualifiziert werden. Das gleiche gilt für Arbeitslose. Hier muss sich die Bundesagentur für Arbeit stärker engagieren.

Aber auch in Bereichen, die nicht direkt mit Arbeitsplätzen verbunden sind, kann viel für die Zunahme der Erwerbstätigen getan werden: Der Gesetzgeber sollte die Steuergesetzgebung unter dem Aspekt der Frauenerwerbsquote überdenken und Teilzeitarbeit weniger stark begünstigen. Auch die Gesetzgebung zur Zuwanderung sollte liberalisiert werden, was derzeit ja auch mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz angeschoben wird.

Aber auch Länder und Kommunen können zur Erhöhung und Qualifizierung der Erwerbstätigkeit beitragen: Zum einen dadurch, dass günstige Plätze für die Kinderbetreuung bereitgestellt werden. Zum anderen aber dadurch, dass Kinder und Jugendliche vor allem in sozialen Brennpunkten und in Bereichen mit einer hohen Migrantenquote in den Schulen besser qualifiziert werden.

Dieser kurze Überblick über verschiedene Aspekte des Themas bedarf an vielen Stellen der Ergänzung und einer eingehenderen Analyse – was wir in einer neuen Makronom-Serie tun werden. Wie schon frühere Serien wird auch die Fachkräftemangel-Serie einen „offenen“ Charakter haben: Wir haben bereits einige AutorInnen für verschiedene Beiträge gewinnen können. Es besteht aber die Möglichkeit, noch eigene Akzente zu setzen oder mit Repliken auf bereits erschienene Beiträge zu reagieren. Themenvorschläge schicken Sie bitte an [email protected].

 

Zur Autorin:

Susanne Erbe ist Redakteurin beim Makronom. Bis Ende 2020 war sie stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift Wirtschaftsdienst. Auf Twitter: @susanneerbe