Laut den aktuellen Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist Indien inzwischen weltweit die am stärksten wachsende Volkswirtschaft. 2016 soll das Land demnach um einen vollen Prozentpunkt mehr wachsen als China. Damit hat Indien eine bemerkenswerte Wende geschafft, insbesondere vor dem Hintergrund einer stagnierenden Weltwirtschaft.
Noch im 2. Quartal 2011 schien sich die indische Wirtschaft in einer Abwärtsspirale zu befinden. Über zwölf Quartale hinweg war die Wachstumsrate gesunken, in sieben Quartalen lag sie unter der Marke von 5%. Doch dann gab es innerhalb eines Jahres einen Regierungswechsel, eine Veränderung des Basisjahres für den Verbraucherpreisindex, eine Anpassung der Datenerhebung und eine Reform der Methodologie für die Wachstumsmessung. Die revidierten Wachstumsschätzungen zeigten, dass die Wirtschaft seit 2012/13 um über 6% und seit 2014/15 um über 7% wuchs.
Verständlicherweise gab es unter anderem bei der indischen Zentralbank Zweifel, ob die neuen Schätzungen tatsächlich verlässlich waren – immerhin schienen sie nicht zu zahlreichen anderen Konjunkturindikatoren zu passen, etwa zum Index für die Industrieproduktion oder zu den Wachstumsraten für den Export, die Investitionen oder das Kreditvolumen, die sich allesamt schwach entwickelten.
Obwohl immer noch einige Fragen offen sind, gibt es über die Eigenarten dieser neuen Wachstumsmessung doch inzwischen etwas mehr Klarheit. Erstens ist Indien ein Rohstoff-Importeuer. Das bedeutet, dass der starke Fall der Rohstoff- und insbesondere der Ölpreise das Bruttoinlandsprodukt steigert, weil den produzierten Waren ein höherer Wert im Inland hinzugefügt wird.
Zwar sanken die Exporte während dieser Periode, aber die Importe gingen noch viel stärker zurück. Das ließ das indische Leistungsbilanzdefizit von über 6% auf unter 2% des BIP sinken, was wiederum das Nationaleinkommen gesteigert hat. So ist Indiens (Noch-)Zentralbank-Gouverneur Raghuram Rajan auch der Meinung, dass die neuen Berechnungsmethoden – wenn überhaupt – höchstens zu einer Überschätzung des indischen Wachstums in einer Größenordnung von 1% geführt hätten – was bedeuten würde, dass Indien immer noch so stark wächst wie China.
Produktivitätswachstum und Binnennachfrage
Es gibt einige gute Gründe zu glauben, dass Indien jene neue Wachstumslokomotive sein könnte, die die stagnierende Weltwirtschaft so dringend braucht. Daten des Conference Board zeigen, dass die indische Arbeitsproduktivität steigt, während sie in anderen Ländern zurückgeht. Das ist das Ergebnis von Indiens wachsender und junger Erwerbsbevölkerung sowie der großen Zahl von Menschen, die inzwischen die unproduktiven Jobs im Agrarsektor hinter sich lassen.
Indiens Binnennachfrage ist mit 70% des BIP die höchste aller großen Schwellenländer. Sie mag zwar nicht so hoch sein wie die der fortgeschrittenen Volkswirtschaften (75 bis 80%), aber viel größer als die Chinas (50%) oder des Durchschnitts der Entwicklungsländer (65%). In einer Zeit, in der die wichtigsten Exportmärkte in den unter niedrigen Wachstumsraten leidenden fortgeschrittenen Volkswirtschaften liegen, ist das ein extrem wichtiger Faktor. Das Beispiel Chinas zeigt sehr deutlich, dass es nicht leicht ist, sein Wachstumsmodell umzugestalten, um dieser Export-Falle zu entgehen.
Makroökonomische Ungleichgewichte
Wie stehen also die Chancen, dass Indien seine Wachstumsraten von derzeit 7 bis 7,5% aufrechterhalten oder sogar noch steigern kann? Aufgrund seiner stark wachsenden Mittelschicht ist Indien eine durch die heimische Entwicklung angetriebene Volkswirtschaft. Somit liegen die das Wachstum bremsenden Faktoren eher auf der Angebots- als auf der Nachfrageseite – angesichts des derzeitigen globalen Umfelds stellt Indien also eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Zudem ist zu erwarten, dass Indiens momentaner Rohstoff-Zyklus die verfügbaren Einkommen der Mittelschicht deutlich erhöhen und in Kombinationen mit der bevorstehenden Lohnerhöhung für die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst den Konsum weiter ankurbeln wird.
Für Indien entsteht der wahre Druck auf das Wachstum durch makroökonomische Ungleichgewichte, wie etwa hohe Haushalts- und Leistungsbilanzdefizite und Inflationsdruck, und ein unsicheres politisches Umfeld. Bisher hatte Indien Glück, dass der starke Verfall der Rohstoffpreise das Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit sowie die Inflation hat sinken lassen. Außerdem wurde die Wirtschaft durch eine sehr restriktive Zinspolitik der Zentralbank unterstützt, die sich mehr auf das Inflationsziel als auf die Steigerung der Wachstumsraten um jeden Preis fokussiert hat. Und der große Bestand an Devisenreserven schützt das Land vor externen Schocks, wie etwa einem – ohnehin sehr unwahrscheinlichen – Anstieg der globalen Zinsen.
Aber das weltweite wirtschaftliche Umfeld spricht nicht dafür, dass die aktuellen Wachstumsraten weiter gesteigert werden können. Raten von um die 7% dürften für die indische Volkswirtschaft zum „New Normal“ werden. Und weil Indiens Wachstumskräfte hauptsächlich in der Binnenwirtschaft liegen, hängt der Erfolg von Initiativen wie „Make in India“ und „Start Up India“ nicht so sehr von der Exportnachfrage, sondern von der Schaffung eines investitionsfreundlichen Klimas ab. Daher wird es entscheidend sein, Indiens Defizite bei der (physischen wie auch der sozialen) Infrastruktur zu verringern, die Rigidität der Grundstücks- und Arbeitsmärkte zu lockern, die Unternehmens- und Bankbilanzen von früheren Exzessen zu säubern und die Steuerverwaltung zu reformieren.
An allen diesen Fronten gab es unter der seit 2014 amtierenden Regierung von Premierminister Narendra Modi einige Fortschritte. Ergebnis dessen war, dass Indien China 2016 den Spitzenplatz für ausländische Direktinvestitionen abringen dürfte. Aber mit Blick auf die Zukunft müssen die gemachten Zusagen auch in tatsächliche Investitionen übersetzt werden. Obwohl Indien seit Anfang der 90er in der Lage war, seinen hohen Wachstumspfad aufrechtzuerhalten, hat die jüngere Geschichte doch gezeigt, dass das Land auch immer wieder darin versagt hat, sein wahres Potential zu realisieren. Ein erfolgreicher Umgang mit dem verbitterten und feindseligen politischen Klima und den spalterischen Tendenzen innerhalb der Regierungspartei sind entscheidend, um das aktuelle Momentum aufrechtzuerhalten.
Zum Autor:
Alok Sheel ist Ökonom und Kolumnist für zahlreiche internationale Zeitungen. Er hatte verschiedene Positionen innerhalb der indischen Regierung und Verwaltung inne und war unter anderem bis Dezember 2014 Mitglied des Prime Minister´s Economic Advisory Council (PMEAC), eines unabhängigen Expertengremiums, das die indische Regierung in ökonomischen Fragen beraten soll.
Hinweis:
Dieser Artikel wurde zuerst vom East Asia Forums (EAF) auf Englisch veröffentlicht. Das EAF ist eine Plattform für Analyse und Forschung zu Politik, Wirtschaft, Unternehmen, Recht, Sicherheit, internationalen Beziehungen und zu gesellschaftlichen Fragen, mit einem Fokus auf die Asien-Pazifik-Region. Dieser Beitrag wurde von der Makronom-Redaktion ins Deutsche übersetzt und mit Zustimmung des East Asia Forums veröffentlicht.