Ich habe gerade einen Artikel über die Mangelversorgung und den ökonomischen Kollaps in Venezuela gelesen. Den Grund für die langen Schlangen vor den Geschäften kennt jeder Student sozialistischer Volkswirtschaften: Staatliche Geschäfte verkaufen stark subventionierte Waren, und die Nachfrage nach diesen Waren übersteigt das Angebot bei weitem. Dann kaufen viele Menschen wesentlich mehr, als sie eigentlich brauchen und verkaufen die Waren zu höheren Preisen an Leute, die es sich leisten können oder die das Pech hatten, dass das Angebot aufgebraucht war, bevor sie an der Reihe waren.
Die Käufer und Weiterverkäufer von Waren werden in Venezuela laut der New York Times Bachaqueros genannt. In diesem Artikel zitiert die Times den früheren venezolanischen Planungsminister und heutigen Harvard-Professor Ricardo Hausmann mit folgenden Worten: „Das ist das Verrückte an dem System. Eine Menge Menschen stecken viel Mühe [in den Kauf und Weiterverkauf von Gütern], und nichts davon erhöht das Angebot von irgendetwas. Das ist absolut unproduktive Arbeit.“
Diese Aussage hat mich anhalten lassen. „Absolut unproduktive Arbeit“? Aber diese „unproduktive Arbeit“ verbessert doch die Allokation von Gütern, wie jeder Ökonom weiß. Die Waren wandern zu denen mit dem größeren Zahlungspotential. Und weil wir dazu neigen, das größere Zahlungspotential mit einem höheren Nutzen zu assoziieren, werden diese Waren besser zugeteilt. Wenn man also sagt, dass die Tätigkeiten der Bachaqueros unproduktiv wären, weil sie nicht „das Angebot von irgendetwas“ erhöhen würden, dann sollte man auch sagen, das jede Handelsaktivität oder Intermediation unproduktiv ist, weil sie keine neuen Waren produziert, sondern einfach nur bestehende Güter neu verteilt.
Das gleiche Argument könnte man auch für den gesamten Finanzsektor verwenden, angefangen bei der Wall Street. Die Aktivitäten der Wall Street haben noch kein einziges Pfund Mehl oder ein Brot oder ein Sofa produziert. Allerdings glauben wir, dass die Finanzintermediation produktiv ist, weil sie ermöglicht, dass Geld von Orten, wo es weniger effizient ist, dorthin fließt, wo es gebraucht wird. Oder von Konsumenten, die nicht viel bezahlen können, zu denen, die es können. Genau dieser Tätigkeit gehen auch die Bachaqueros nach.
Hausmanns Meinung ist identisch mit dem (falschen) marxistischen Verständnis von produktiven und unproduktiven Aktivitäten, das sich in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen sozialistischer Länder widerspiegelt und „materielles Nettoprodukt“ (net material product, NMP) genannt wird. Der Ansatz der sozialistischen Länder bestand darin, dass alle Dienstleitungen (inklusive dem Gesundheits- und Bildungssystem sowie der öffentlichen Verwaltung) unproduktiv waren, weil sie keine neuen physischen Güter produziert haben. Spekulanten wie die Bachaqueros sind demnach der Inbegriff von Unproduktivität, „sozial schädlich“ und machen eine „verabscheuungswürdige“ Arbeit.
Dieser Ansatz hatte praktische Konsequenzen für die Berechnung des Nationaleinkommens. Denn im Vergleich zum VGR-System der Vereinten Nationen wurde das Nationaleinkommen in den sozialistischen Ländern immer unterschätzt. Dagegen wurde die Wachstumsrate überschätzt, weil die Produktivitätszuwächse bei der Produktion von Gütern gewöhnlich größer waren als im Dienstleistungssektor.
Marx selbst verwendete eine durchdachtere Trennung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit. Produktiv war jede Arbeit, die zur Produktion eines Mehrwerts führte. In einem bekannten Beispiel zeigte Marx, dass ein Sänger (also der Prototyp von jemandem, dessen Betätigung nichts Materielles hervorbringt) so lange einer produktiven Arbeit nachgeht, wie er von einem Unternehmen oder einer Einzelperson beschäftigt wird und seinem Arbeitgeber einen Profit bringt. In Marx` Auffassung war der Gegensatz zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit also nicht auf ewig gegeben, sondern veränderte sich abhängig von den sozioökonomischen Gegebenheiten.
Das Problem mit den sozialistischen Regierungen in Osteuropa war, dass sie Schwierigkeiten damit hatten zu bestimmen, was im Sinne von Marx eine produktive bzw. unproduktive Arbeit war. Sie wählten dann den einfachen Weg und erklärten jede Tätigkeit als unproduktiv, die keine materiellen physischen Güter hervorbrachte.
In den 70er Jahren führte Anne Krueger die Kategorisierung zwischen „direkt-unproduktiven“ oder „auf Rent-Seeking ausgerichteten Aktivitäten“ ein. Unter diesen Überschriften wurden alle Aktivitäten klassifiziert, deren Ziel darin bestand, von der Regierung Zugeständnisse zu bekommen, die zu einer Erhöhung der Einkommen von erfolgreichen Lobbyisten führten. Hunderte Lobbyisten, die von Pharma- und IT-Unternehmen bezahlt werden, würden heute in diese Kategorie fallen – obwohl Kruegers Klassifizierung ursprünglich den Zweck hatte, die Regierungen von Entwicklungsländern dahin zu drängen, weniger interventionistisch zu sein (Krueger wendete sich vor allem gegen die indische „Licence Raj“).
Demnach ist Lobbyismus unproduktiv, weil er zu der Erschaffung von politischen Erträgen führt. Und diese sind natürlich ein Einkommen, dass entfernt werden kann, ohne dass es das Angebot und die Allokation von Gütern beeinflusst.
Das führt uns schließlich zum Thema Diebstahl. Es ist nicht leicht, den Diebstahl von Dingen in der Volkswirtschaftslehre richtig einzuordnen. Nehmen wir den Diebstahl zum privaten Gebrauch: Wenn ein armer Mensch einem Reichen Brot stiehlt, wird dies ziemlich sicher die soziale Zufriedenheit erhöhen.
Komplizierter wird es bei Diebstählen mit Wiederverkaufsabsicht: Der Überfall eines Juweliergeschäfts und der anschließende Weiterverkauf der Juwelen mag den gesamtwirtschaftlichen Wohlstand erhöhen, wenn der Dieb sehr arm und der Juwelier sehr reich ist. Aber der Überfall kann nicht aus Gründen der besseren Allokation gerechtfertigt werden, weil die Juwelen gleichermaßen von potenziellen Käufern erworben werden können, egal ob sie vom Dieb oder vom Juwelier verkauft werden. Weder das Angebot an Gütern, noch deren Allokation werden verbessert. Das einzige Argument für die Tätigkeit von Dieben besteht darin, dass sie zu mehr Maßnahmen zum Schutz von Eigentum verleitet, was zu mehr Investitionen führen und das langfristige Wachstum erhöhen dürfte.
Aber das ist natürlich eine sehr verschachtelte Rechtfertigung, anhand derer man auch argumentieren könnte, warum ein Diebstahl, selbst wenn er kurzfristig den Wohlstand verbessert, langfristig schädlich ist – ein Standpunkt, den bereits Adam Smith vertreten hat.
Es ist also nicht immer leicht zu kategorisieren, was in einer kapitalistischen Volkswirtschaft produktiv und was unproduktiv ist. Noch einmal viel schwieriger wird es, wenn wir einen Blick in die Wirtschaftsgeschichte werfen: Wie sollen wir Priester und Mönche klassifizieren, die durch Zwangsabgaben bezahlt wurden? Man könnte Robin Hood durch das Prinzip der Nutzenmaximierung verteidigen, aber ihn dafür kritisieren, dass er dem langfristigen Wachstum abträglich war. Und Francis Drake wiederum hat den Spaniern Waren gestohlen, die sie durch Sklavenarbeit produziert haben…
Zum Autor:
Branko Milanovic ist Professor an der City University of New York und gilt als einer der weltweit renommiertesten Forscher auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Milanovic war lange Zeit leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank. Er ist Autor zahlreicher Bücher und von mehr als 40 Studien zum Thema Ungleichheit und Armut.
Hinweis:
Dieser Beitrag ist zuerst in Branko Milanovic´Global Inequality-Blog erschienen. Die deutsche Übersetzung erfolgte durch die Makronom-Redaktion mit Genehmigung des Autors.