Demnächst wird ein Jahr zu Ende gehen, das in vielfacher Hinsicht außergewöhnlich war: für Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und das menschliche Miteinander. Das Coronavirus hat unser Leben verändert. Es traf die Menschheit global, und es traf sie unvorbereitet.
Das zeigte sich unter anderem in der ersten Welle im März 2020, als die europäischen Staaten verzweifelt versuchten, Schutzausrüstung zu beschaffen – unkoordiniert und in Konkurrenz zueinander. Die Situation fiel eindeutig in die Kategorie „schwarzer Schwan“ – verbunden mit der größtmöglichen Unsicherheit.
Um die Lage nicht außer Kontrolle geraten zu lassen, musste gehandelt werden, und zwar schnell. Dies ist die Stunde für „gutes Regieren“, was oft eher mit Demokratien in Verbindung gebracht wird. Tatsächlich hat aber ein autokratisches System wie China mit am erfolgreichsten auf die Krise reagiert. Infektionen werden vermieden, wenn soziale Begegnungen eingeschränkt werden. Dafür sind tiefe Eingriffe in die Grundrechte erforderlich. China hat drastische Lockdowns verhängt, die in demokratischen Gesellschaften kaum durchsetzbar wären. In Demokratien benötigt die Regierung hingegen das Vertrauen der Bevölkerung. Die Verantwortlichen müssen den Ernst der Lage transparent und verständlich vermitteln und möglichst evidenzbasiert handeln.
Ob dies der deutschen Politik in der zweiten Welle gerade gelingt, muss infrage gestellt werden. Die Vorschriften, die in jedem Bundesland alles bis ins Einzelne unterschiedlich regeln, wirken keineswegs vertrauensbildend. Manche Eingriffe beispielsweise in den Datenschutz hätten womöglich dazu geführt, dass sich die Corona-Warn-App als nützlich erwiesen hätte. Ohne Kenntnisse darüber, an welchen Orten die meisten Ansteckungen geschehen, muss eben alles geschlossen werden. Am 12. März 2020 ordnete die Bundesregierung weitreichende Einschränkungen für den Einzelnen, aber auch für das Wirtschaftsleben an. Da sich das Virus global ausgebreitet hatte und Grenzen geschlossen wurden, kam es zu enormen Exportrückgängen. Lieferketten brachen zusammen – für ein international stark verflochtenes Land wie Deutschland eine ökonomische Bedrohung ersten Grades.
Der Staat als Retter
Die Wirtschaftsforschungsinstitute schätzen in ihrem Herbstgutachten, dass das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland 2020 um 5,4% schrumpfen wird. Im Frühjahr waren die Institute noch etwas optimistischer gewesen und hattten einen Rückgang um 4,2% erwartet. Dass es nicht viel schlimmer kam, ist nicht nur den automatischen Stabilisatoren zu verdanken, sondern auch diskretionären konjunkturpolitischen Maßnahmen von beispiellosem Umfang – und damit einem Comeback des Staates.
Einig sind sich die Institute, dass das Kurzarbeitergeld und direkte Finanzhilfen für Unternehmen effiziente Instrumente waren. Die zeitlich befristete Senkung der Mehrwertsteuer wird hingegen kontrovers diskutiert. Über die Aufstockung der Finanzmittel für Krisenverlierer wie besonders stark betroffene Geringverdiener aus dem Dienstleistungsbereich oder Soloselbständige wird sicher noch mehr diskutiert werden.
Bereits beschlossen sind einige direkte Staatsbeteiligungen. Um den Zusammenbruch größerer Unternehmen zu verhindern, wurde das Engagement des Staats nicht nur akzeptiert, sondern sogar gewünscht, und dies auch aus Kreisen, die vor Corona ein eben solches eher skeptisch sahen. Für den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) sind Mittel von insgesamt 600 Milliarden Euro vorgesehen, davon 100 Milliarden für die Rekapitalisierung von Unternehmen. Und es gibt schon Interessenbekundungen von rund 60 Unternehmen. Der Staat als Retter! In diesem Umfang hätte man das vor einem Jahr noch nicht für möglich gehalten.
Not-Keynesianismus
Wenig überraschend kann in einer solchen Situation die „Schwarze Null“ nicht gehalten werden: Für 2020 rechnet die Gemeinschaftsdiagnose mit einem Rekorddefizit im Staatshaushalt von 183 Milliarden Euro. Damit könnte die Defizitquote auf 5,5% in Relation zum BIP steigen, die Schuldenstandquote auf ca. 70%. In der zweiten Welle sind noch einmal steigende Staatsausgaben geplant.
Begleitet wird diese Finanzpolitik von der sehr lockeren Geldpolitik der EZB, die im Rahmen des Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) bis Mitte 2021 Wertpapiere, vor allem Staatsanleihen, im Umfang von 1,35 Billionen Euro aufkaufen will. Davon profitieren alle Staaten des Euroraums. Vertrauen schaffende Maßnahmen und Risikosenkung in den anderen EU-Mitgliedstaaten nützen dem Nettoexporteur Deutschland.
All dies sind Maßnahmen, die von vielen deutschen Ökonomen vor der Corona-Krise mit großer Skepsis gesehen worden waren: Inflation und Staatsbankrotte drohten, Zombie-Unternehmen würden gestützt, zukünftige Generationen hätten die Zeche zu zahlen, Staatsunternehmen arbeiteten ineffizient und der Wettbewerb werde beeinträchtigt. Aber unter Ökonomen ist eine Art Not-Keynesianismus ausgebrochen: Allgemein wird anerkannt, dass die Regierung schnell und entschieden handeln und große Summen investiert werden müssen, dass die Unsicherheit extrem groß bleibt, und dass die Vertrauensbildung ein ganz wichtiges Ziel ist. Nach der ersten Erholung im Sommer und Herbst mehrten sich aber wieder die Stimmen, die eine Rückkehr zur „Haushaltsdisziplin“ und weniger Staatsintervention fordern.
Digitalisierung und Klimawandel
Auch in anderen Bereichen hat sich gezeigt, dass mehr geht als früher gedacht. Viele Arbeitnehmer können im Homeoffice arbeiten und sparen sich damit den Arbeitsweg. Anstatt zu Treffen zu fahren oder zu fliegen, nehmen viele nun digital an Besprechungen und Konferenzen teil. Für eine solche Neustrukturierung der Arbeitswelt, aber auch für eine Beschulung zuhause ist eine umfassende, verlässliche und für jeden erreichbare digitale Infrastruktur, aber auch Digitalkompetenz erforderlich. Allerdings liegt Deutschland im europäischen Vergleich seit Jahren bei der Verbreitung der für Homeoffice nötigen breitbandigen Internetanschlüsse zurück.
Für eine echte, und nicht nur behelfsmäßige digitale Transformation sind noch erhebliche Investitionen in Infrastruktur und Köpfe nötig. Die Corona-Krise hat dazu beigetragen, dass diese Notwendigkeit allen bewusst wurde. Auch in der Klimapolitik ist zu hoffen, dass es zu einem Wandel der Einstellungen kommt. Der Rückgang der Mobilität hat die CO2-Emissionen deutlich sinken lassen: Wie eine Studie unter Mitarbeit von Hans Joachim Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung errechnet hat, sind die CO2-Emissionen im Verkehr weltweit um 40% gesunken (Januar bis Juni 2020 im Vergleich zu Januar bis Juni 2019). Den Klimaforschern macht Mut, dass es gelungen ist, in so kurzer Zeit den Lebensstil und das Verkehrsverhalten zu ändern. Sie befürchten allerdings, dass dies nur von kurzer Dauer sein wird.
Die (neue) Macht der Experten
Die Corona-Krise hat zudem gezeigt, welche Macht dem Expertenurteil zukommt. Ohne Kenntnisse über Letalität, Infektiosität und Ansteckungswege ist es für die Politik kaum möglich, zielgerichtet und effizient zu handeln. Virologen und Epidemiologen sind damit nicht nur zu Medienstars geworden, sondern auch zu unverzichtbaren Beratern der Politik. Deren Einschätzungen haben sich im Laufe der Pandemie durchaus gewandelt. Hier konnte der Bürger „live“ beobachten, wie Wissenschaft funktioniert. Die Öffentlichkeit interessierte sich für die Aussagekraft empirischer Untersuchungen, für Repräsentativität und auch dafür, dass unterschiedliche empirische Verfahren unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen können.
Allerdings fehlt es weiterhin an experimentellen Untersuchungen dazu, welche Maßnahmen wie wirken. Es scheint immer noch keine gesicherte Evidenz darüber vorzuliegen, wer sich wo ansteckt und welchen Beitrag geschlossene Kinos, Restaurants und auch Kitas und Schulen zu einer Verbesserung der Situation leisten. Dieses Wissen hätte seit Beginn der Epidemie unter Hochdruck gesammelt und verdichtet werden müssen, um für die zweite Welle gerüstet zu sein – und leider wohl auch für die Welle Nr. 3ff. Denn die Krise ist noch nicht vorbei. Vielleicht entschärft im nächsten Jahr ein Impfstoff die Situation. Recht sicher kommen noch ein paar harte Wintermonate mit möglichen weiteren Einschränkungen.
Ein Profiteuer der Krise war hingegen die Ökonomik, wenngleich sie wohl gerne darauf verzichtet hätte. Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung war in dieser Pandemie so eng in das politische Handeln eingebunden wie selten zuvor und auch die Wissenschaftskommunikation hat in der Bevölkerung für Vertrauen gesorgt. Die Regierung hat wirtschafts- und finanzpolitisch schnell reagiert. Dieser pragmatische Ansatz, auch über Ideologiegrenzen hinweg, könnte eine Blaupause für die wirtschaftswissenschaftliche Beratung der Zukunft sein. Die evidenzbasierte ökonomische Beratung ist auch nach der Krise von großer Bedeutung für eine zielgerichtete Politikgestaltung.
Zur Autorin:
Susanne Erbe ist stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift Wirtschaftsdienst, wo dieser Beitrag zuerst ist in einer früheren Form erschienen ist.