Kommentar

Warum wir eine neue (und echte) Volkszählung brauchen

Eier, Sekt, Schafe: In Deutschland wird ziemlich viel gezählt. Allerdings wissen wir nicht, wie viele Menschen tatsächlich innerhalb der deutschen Grenzen leben. Höchste Zeit, das zu ändern – denn gerade angesichts der Flüchtlingskrise braucht es für vernünftige Planungen auch vernünftige Datengrundlagen.

Erbsenzählen kann selbst unter dem Einsatz modernster Technik eine komplizierte Angelegenheit sein. Foto: Pixabay

In Deutschland wird ziemlich viel gezählt. Wir wissen beispielsweise, dass innerhalb unserer Grenzen im November 2015 1.579.800 Schafe lebten. Oder dass die Produktion unserer Frühstückseier zum 1. Dezember 2014 von 39.635.000 Legehennen geleistet wurde (die tägliche „Legeleistung“ lag pro Henne übrigens bei 0,80 Eiern – das ist ein kleiner Produktivitätseinbruch, denn im Vorjahr schaffte eine Henne noch 0,81 Eier pro Tag). Auch wissen wir, dass im letzten Jahr 121,0 Millionen Liter Sekt nach Deutschland importiert wurden.

Da sollte man doch meinen, dass wir auch über die Zahl der Menschen, die in unserem Land leben, einigermaßen präzise Bescheid wissen. Das wäre ja ganz praktisch und auch notwendig, denn wie sollen der Staat oder Unternehmen sonst vernünftig vorsorgen und planen? Wie kann man die Pflegeinfrastruktur entwickeln und anpassen? Wie kann man den Bedarf an Kita- und Schulplätzen sonst ermitteln?

Aber die Frage, wie viele Einwohner Deutschland tatsächlich hat, ist weitaus weniger trivial, als viele vielleicht vermuten. Das gilt insbesondere im Kontext der Flüchtlingskrise. Laut Frank-Jürgen Weise, Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), gibt es „mehrere hunderttausend Menschen“, die offiziell noch nicht erfasst sind. Das Bundesinnenministerium wiederum gibt an, dass 2015 bundesweit 1,09 Millionen Migranten im Datensystem Easy registriert wurden.

Diese Zahl ist jedoch ziemlich zweifelhaft. Laut einem Bericht der taz, der sich auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei stützt, waren es deutlich weniger: „Demnach lebten Ende 2015 insgesamt rund 1,25 Millionen Menschen als Flüchtlinge in Deutschland. Ende 2014 lebten bereits 627.000 Geflüchtete in Deutschland, so dass ihre Zahl im Jahr 2015 nur um knapp 600.000 gestiegen ist,“ heißt es dort. Zwischen mehr als einer Million und „nur“ 600.000 gibt es schon einen gewissen Unterschied. Wie kann das sein?

„Grund für die große Differenz beim Anstieg der Flüchtlingszahl ist einerseits, dass die Zahl der an der Grenze registrierten Menschen nur schlecht belastbar ist“, so die taz weiter. Einem Bericht der Süddeutschen Zeitung zufolge sind etwa 13% aller 2015 in Deutschland registrierten Asylsuchenden nicht bei der für sie zuständigen Aufnahmeeinrichtung angekommen. Das BAMF gibt an, dass viele Flüchtlinge zudem in andere Länder weitergereist oder in ihre Herkunftsstaaten zurückgekehrt sind. Außerdem gibt es auch Doppelregistrierungen, Flüchtlinge werden abgeschoben oder eingebürgert.

Die letzte echte Volkszählung ist fast 20 Jahre her

Das ist alles nicht wirklich vertrauenserweckend. Allerdings hatten wir bereits vor dem großen Flüchtlingszuzug des vergangenen Jahres massive Probleme, die Zahl der bei uns lebenden Menschen halbwegs genau zu taxieren. Und wir sprechen hier nur von der reinen Zahl und noch gar nicht von weiterführenden Informationen über diese Menschen.

Um das zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass die letzte „echte“ Volkszählung 1987 stattgefunden hat. Ursprünglich war sie bereits für das Jahr 1981 geplant gewesen. Wegen eines Streits um die Höhe des Bundeszuschusses zur Volkszählung verzögerte sich die Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes bis 1982 und damit der geplante Zähltermin auf 1983. Dagegen gab es dann in Teilen der Öffentlichkeit erhebliche Proteste. Die Zählung, die für den 27. April 1983 geplant war, wurde zunächst bis zum 15. Dezember 1983 ausgesetzt, bis schließlich das Bundesverfassungsgericht sie komplett untersagte (in dem historisch bedeutsamen Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983 formulierte das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das sich aus der Menschenwürde des Art. 1 GG und dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG ableitet).

Die erfolgreichen Kläger hatten beanstandet, dass die Ausführlichkeit der Fragen in den entsprechenden Volkszählungsbögen bei ihrer Beantwortung Rückschlüsse auf die Identität der Befragten zulasse, somit den Datenschutz unterlaufe und folglich gegen das Grundgesetz verstoße. Der Zensus wurde dann erst 1987 durchgeführt, begleitet von zahlreichen Protesten.

Angesichts der Wiedervereinigung wäre eine neue Volkszählung mehr als gerechtfertigt gewesen

Es folgte ein historischer Einschnitt: die Wiedervereinigung. Und allein sie hätte eine neue Volkszählung gerechtfertigt. Die war auch geplant, hat aber nie das Licht der Welt erblickt. Die Gründe dafür waren überwiegend finanzieller Natur (die 87er Volkszählung hatte umgerechnet rund 500 Millionen Euro gekostet), aber auch die nach wie vor fehlende Akzeptanz in der Bevölkerung und die skeptische Grundhaltung zahlreicher Politiker in allen Parteien ließen das Vorhaben scheitern.

2011 wurde ein kleingeschrumpfter Ansatz gewählt, keine echte Volkszählung, sondern deren Substitution durch Registerauswertungen und Stichproben-Verfahren. Nur acht Millionen Menschen wurden persönlich befragt. Dieses Vorgehen ist übrigens keinesfalls auf Deutschland beschränkt, auch in der Schweiz werden Erhebungen nach einem ähnlichen Verfahren durchgeführt.

Angesichts des Bedarfs an halbwegs validen Informationen über die Grundgesamtheit der Menschen, die in Deutschland leben, ist dieses Vorgehen aber nur sehr bedingt geeignet, um die tatsächliche Größe seiner Bevölkerung zu ermitteln. „Deutschland braucht daher eine neue Volkszählung, eine Kopfzählung alter Art, bei der Haus für Haus, Wohnung für Wohnung festgestellt wird, wer wo lebt in unserem Land“, schreiben Andreas Rinke und Christian Schwägerl in einem Gastbeitrag in der Zeit. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen.

Aber wird es nicht erneut wie in den 1980er Jahren enorme Widerstände in der Bevölkerung geben? Wenn wir uns vor Augen führen, welche Berge an Daten Menschen jeden Tag freiwillig an private Unternehmen wie Google, WhatsApp oder Facebook übermitteln, erscheint diese Furcht unbegründet. „Da sollte es auch in einem demokratischen Staat möglich sein, dass die Regierung jene Informationen einholen darf, die sie braucht, um die wichtigsten Zukunftsaufgaben meistern zu können“, schreiben Rinke und Schwägerl dazu.

Tatsächlich braucht es für vernünftige Planungen auch vernünftige Datengrundlagen – das gilt angesichts der Flüchtlingskrise noch stärker als vorher. Es wäre durchaus an der Zeit für eine neue und echte Volkszählung. Man kann das den Menschen sicher gut erklären – wenn man denn will.

 

Zum Autor:

Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell das Portal Aktuelle Sozialpolitik, auf dem dieser Beitrag zuerst erschienen ist.