Währungsunion

Warum ein Insolvenzregime für Staaten den Euroraum destabilisieren würde

Die Euro-Finanzminister bereiten derzeit die Einführung eines Insolvenzverfahrens für Staaten vor. Das mag gut klingen, ist aber brandgefährlich: Denn ein solches Regime würde die Eurozone noch abhängiger von den Launen der Finanzmärkte machen und wieder an den Rand des Auseinanderbrechens drängen. Ein Beitrag von Fabian Lindner.

Bild: Casey Hugelfink via Flickr (CC BY-SA 2.0)

Manchmal enthalten schlecht formatierte PDF-Dokumente, halb versteckt auf den unübersichtlichen Webseiten internationaler Organisationen, einiges an Sprengstoff. So auch das Protokoll der Dezember-Sitzung der Eurogruppe, in dem die Euro-Finanzminister den Einstig in ein Insolvenzverfahren für Staaten vorbereiten.

Warum das Sprengstoff ist? Weil ein solches Insolvenzverfahren die Zinsen und die Arbeitslosigkeit gerade in den wirtschaftlich schwachen Eurostaaten stark erhöhen und die staatliche Handlungsfähigkeit massiv einschränken könnte. Das würde den antieuropäischen Populisten weiter in die Hände spielen und die ohnehin schon fragile Eurozone an den Rand des Auseinanderbrechens drängen.

Ein Unternehmen kann liquidiert werden, ein Staat nicht

Auf den ersten Blick erscheint ein Insolvenzverfahren für Staaten eigentlich ganz sinnvoll: Viele linke Ökonomen wie etwa der Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hoffen, dass sich Staaten wie Griechenland oder aktuell Italien so von ihren Altschulden befreien könnten und dann genug Spielraum für eine beschäftigungsfreundlichere Fiskalpolitik hätten. Zudem würden auch endlich einmal die Banken bluten, weil sie bei einem Schuldenschnitt viele ihrer Forderungen abschreiben und damit Verluste machen müssten.

Das klingt zwar gut, aber leider ist die Sache sehr viel komplizierter. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde solch ein Insolvenzrecht die Staaten noch mehr in die Abhängigkeit von den Launen der Finanzmärkte stürzen als es jetzt schon der Fall ist. Der Hauptgrund dafür ist, dass es im Gegensatz zu Unternehmen kein Kriterium dafür gibt, wann ein Staat insolvent, also fundamental zahlungsunfähig, sein soll.

Für Unternehmen ist die Sache einigermaßen klar: Sie sind insolvent, wenn ihre Schulden höher als ihr Vermögen sind – wenn sie also ein negatives Eigenkapital haben. Bei Insolvenz wird das Unternehmen zumeist aufgelöst, die verbliebenen Unternehmensaktiva werden verkauft, um ausstehende Schulden zu tilgen. Da das Vermögen nicht ausreicht, um alle Gläubiger auszuzahlen, machen manche von ihnen Verluste. Das ist das Risiko, das sie eben eingehen.

Für Staaten macht dieses Kriterium aber überhaupt keinen Sinn: Ein Staat kann sein „Vermögen“, also etwa seine öffentliche Infrastruktur und seine Möglichkeit, Steuern einzunehmen, nicht einfach seinen Gläubigern verpfänden, zumindest so lange es sich um einen souveränen Staat handelt. Ein Unternehmen kann liquidiert werden, ein Staat nicht.

Wann ist ein Staat insolvent?

Weil das auch die Euro-Finanzminister wissen, haben sie sich ein anderes Kriterium zur Feststellung von „Insolvenz“ ausgesucht. Sie wollen den staatlichen Schuldenschnitt vom Kriterium der „Schuldentragfähigkeit“ abhängig machen. Schulden gelten als tragfähig, wenn sie in der Zukunft nicht zu stark zunehmen. Bei einer Schuldentragfähigkeitsanalyse soll dann regelmäßig die Entwicklung der staatlichen Schulden in Prozent des BIP für die Zukunft prognostiziert werden. Wird eine zu starke Zunahme prognostiziert, gelten die Schulden als nicht „tragfähig“, der Staat als insolvent und es droht der Schuldenschnitt.

Macht man den Schuldenschnitt von der Schuldentragbarkeit abhängig, kann es leicht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung kommen

Dieses Kriterium ist aber im höchsten Maße problematisch. Macht man den Schuldenschnitt von der Schuldentragbarkeit abhängig, kann es leicht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung kommen – wie in der Krise ab 2008/09 zu beobachten war. Weil das Wachstum besonders wegen der US-Finanzkrise eingebrochen und die staatlichen Schulden wegen der sinkenden Steuereinnahmen, der steigenden Arbeitslosenhilfe und den Bankenrettungen gestiegen waren, nahmen überall im Euroraum die Schuldenstandquoten stark zu. Das hat dazu geführt, dass die Schulden allein wegen so einer Krise weniger „nachhaltig“ geworden sind. Weil damals die Europäische Zentralbank (EZB) noch nicht mit ihren diversen Programmen Staatsanleihen gekauft hatte, verlangten die  Finanzmärkte plötzlich – zu Recht um ihr Geld besorgt – wegen des höheren Risikos sehr viel höhere Zinsen von den Staaten. Weil auch die privaten Kreditzinsen von den staatlichen Zinsen abhängen, brachen die privaten Investitionen zusammen und die Krise wurde weiter verstärkt.

Die Macht der Erwartungen

Aber wurden die Staaten an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gedrängt, weil ihre Schulden gestiegen sind? Schließlich hatten auch die USA und Großbritannien schwere Finanzkrisen mitsamt steigender Staatsschulden – ohne dass dort die staatlichen Zinsen wie in vielen Ländern im Euroraum so massiv gestiegen wären. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Euroraum und dem Rest der OECD-Welt war, dass die EZB bis 2012 nicht als „Lender of Last Resort“, also als Käufer von Staatsanleihen der letzten Instanz aufgetreten ist.

Denn ohne die Möglichkeit der Intervention von Zentralbanken auf dem Staatsanleihenmarkt sind Staaten ständig davon abhängig, dass die Finanzmärkte ihnen die Schulden verlängern. Staaten zahlen ihre Schulden nämlich nicht zurück, sondern ersetzen dauernd ihre auslaufenden Schulden durch die Aufnahme von neuen Schulden.

Verweigern ihnen die Finanzmärkte aber die Verlängerung, drohen die Staaten zahlungsunfähig zu werden. Dann müssen die Gläubiger auf ihre alten Forderungen verzichten. Das ist das sogenannte Verlängerungsrisiko. Ohne stabilisierende Zentralbank im Hintergrund kann dieses Risiko selbstverwirklichend werden: Wenn Gläubigerin A erwartet, dass Gläubigerin B ihre Forderung nicht verlängert, verlängert A aus Angst um ihr Geld auch ihre eigenen Forderungen nicht. Ohne die Verlängerung kann der Staat seine Altschulden nicht mehr zurückzahlen und der anfänglich nur befürchtete Verlust tritt für die Gläubiger tatsächlich ein.

Dieser Prozess der sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird umso wahrscheinlicher, wenn der Schuldenschnitt, wie von der Eurogruppe geplant, von der Schuldenstandquote abhängt. In einer Finanzmarktpanik steigende Zinsen schwächen das Wachstum und lassen die Schuldenstandquote damit ganz automatisch anwachsen. Der Schuldenschnitt wird dann wahrscheinlicher und die Finanzmärkte verweigern ganz rational die Verlängerung der Schulden.

Das schränkt Regierungen stark in ihrer Handlungsfähigkeit ein. Denn sinkt in einer Wirtschaftskrise das Wachstum, muss der Staat eigentlich Schulden machen, um Konjunktur und Beschäftigung stabil zu halten. Das hat Deutschland in der Krise 2008/09 erfolgreich vorgemacht. Können die Staaten aber keine Schulden mehr zur Konjunkturstabilisierung aufnehmen, weil die Finanzmärkte sich dem aus berechtigter Angst vor dem Schuldenschnitt verweigern, müssen die Staaten gerade in der Krise sparen. Das führt zu höherer Arbeitslosigkeit. Mit einem formalisierten Insolvenzregime für Staaten werden sich die Märkte noch schneller als in der Eurokrise aus Staatsanleihen zurückziehen. Den Staaten bleibt dann nur noch die Austerität.

Ungerechtfertigtes Vertrauen in die „Marktdisziplin“

Marktliberale ÖkonomInnen machen übrigens keinen Hehl daraus, dass sie genau das wollen. Ein Insolvenzregime für Staaten soll vor allem die Marktdisziplin stärken. Wenn sich die Staaten nicht marktkonform verhalten, so sollen sie von den Finanzmärkten durch höhere Zinsen diszipliniert werden. Man muss sich diese Logik immer wieder vor Augen halten: Die gleichen Märkte, die uns mit ihren Fehlentscheidungen die große Finanzkrise eingebrockt haben, sollen nun mit einem Insolvenzrecht für Staaten zu Richtern staatlichen Handelns emporgehoben werden.

Das droht zu einer Zerreißprobe für den Euroraum zu werden. Wie jetzt schon zu beobachten ist, werden vor allem die Zinsen in Ländern der sogenannten Peripherie steigen, dort zu systematisch geringerem Wachstum führen, was wiederum den Staatsbankrott wahrscheinlicher machen wird. Damit hängt in der Peripherie dauernd das Damoklesschwert der Insolvenz über den Staaten und droht dort zu ständiger ökonomischer Stagnation zu führen.

Die gleichen Märkte, die uns mit ihren Fehlentscheidungen die große Finanzkrise eingebrockt haben, sollen nun zu Richtern staatlichen Handelns emporgehoben werden

Die Einführung eines solchen Insolvenzregimes würde die jetzt schon gemachten Fortschritte in der Eurozone zunichtemachen. Insbesondere die Europäische Zentralbank (EZB) hat seit 2012 dafür gesorgt, dass die Staaten im Kampf mit den Finanzmärkten nicht mehr auf sich allein gestellt sind. Die Ankündigung, im Rahmen des OMT-Programms („Outright Monetary Transactions“) im Prinzip so viel Staatsanleihen aufzukaufen wie nötig, hat den Finanzmärkten sofort die Angst vor dem Schuldenschnitt genommen. Die Zinsen sind gefallen und seitdem wächst die Wirtschaft im Euroraum wieder. Wenn die Gläubiger wissen, dass sie ihre Forderungen im Notfall der EZB verkaufen können, müssen sie nicht um ihr Geld fürchten und werden ihre Forderungen gegenüber den Staaten eher verlängern. So kommt es dann erst gar nicht zur Zahlungsunfähigkeit.

Die EZB-Interventionen waren keine europäische Besonderheit. Die Besonderheit war vielmehr, dass die EZB so spät damit begonnen hat. In den USA, Großbritannien und Japan hatten die Zentralbanken längst mit dem Kauf von Staatsanleihen begonnen und konnten damit ihre Zinsen stabilisieren. Erst im letzten Moment hat die EZB die Explosion des Euroraums verhindert.

Würde man nun ein formales Insolvenzrecht für Staaten einführen, droht das fragile Gleichgewicht, in dem der Euroraum jetzt ist, wieder zu platzen. Eine Wiederholung der Eurokrise droht. Die jetzt schon starken antieuropäischen rechtspopulistischen Parteien würden sich freuen.

 

Zum Autor:

Fabian Lindner ist Referatsleiter für Allgemeine Wirtschaftspolitik beim Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.

 

Hinweis:

Eine ausführlichere Version dieses Artikels finden Sie in der  aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Wirtschaftsdienst.