Analyse

Warum die Zeit wieder reif für einen amerikanischen Sozialismus ist

Viele Beobachter sind nach dem Sieg von Bernie Sanders in New Hampshire nach wie vor überrascht, dass ein selbsternannter „Sozialist“ in den USA eine reelle Chance auf die Präsidentschaft hat. Dabei wird immer noch häufig übersehen, dass der Sozialismus tief in der amerikanischen Gesellschaft verankert ist.

Uncle Bernie wants you. Bild: DonkeyHotey via Flickr (CC BY 2.0)

Bernie Sanders, Senator aus Vermont, hat Hillary Clinton bei den Vorwahlen in New Hampshire geschlagen – und seine Kampagne ist zu einer ungewöhnlichen aber bemerkenswerten Bewegung geworden, nachdem sie anfangs mehr oder weniger als ideologische Nebenveranstaltung herabgesetzt wurde.

Sanders hat das Sozialismus-Verständnis der Amerikaner verändert

Während die republikanische Partei sich in einer offenbar unaufhaltsamen Spirale nach rechts befindet, in der Leute wie Ted Cruz und Donald Trump das Rennen dominieren, erscheint der scheinbar unerwartete Aufstieg eines so offen linken Kandidaten wie Sanders unvereinbar mit jedem Trend der jüngeren amerikanischen Politik. Zu Beginn des Rennens war Sanders vielen Wählern außerhalb seines Heimatstaates Vermont unbekannt. Er ist außerdem der einzige selbsternannte Sozialist im Senat, ein Label, von dem einmal viele dachten, dass es ihn absolut unwählbar machen würde.

Aber Sanders´ Unterstützung für einen „demokratischen Sozialismus“ war nicht nur überraschend populär – er hat auch die Art verändert, was Amerika unter „Sozialismus“ und dem, wofür das Wort steht, begreift.

Eine der wichtigsten Stärken von Sanders´ Kampagne ist ein ökonomisches Argument gegen die Einkommensungleichheit. Diese Botschaft steht im Zentrum von Sanders´ selbsternanntem demokratischen Sozialismus, aber die „Revolution“, für die er wirbt, ist keine marxistische Ergreifung der Besitzer von Produktionsmitteln; es ist ein demokratischer politischer Aufstand.

Allerdings ist das für sich gemessen an den Standards der amerikanischen Politik kaum etwas Neues, selbst auf präsidialer Ebene nicht.

Richtiger Platz, richtige Zeit

Sanders stellt sich selbst ausdrücklich in die Tradition der liberalen Ikone Franklin Delano Roosevelt, der in den USA in der Regel unter dem Label „FDR“ formiert. Der Vergleich ist tatsächlich passend: FDRs Liberalismus war nicht nur „sozialistisch“ nach den Standards der amerikanischen Politik – er legte auch den Grundstein für den modernen Liberalismus und das Gegenstück für den modernen Konservatismus. In der Zwischenkriegszeit stempelten ihn seine konservativen Gegner wegen seiner Initiativen im Kampf gegen die Große Depression und für die Wiederbelebung des Landes nach dem ökonomischen Kollaps als einen „Sozialisten“ ab.

Die Ähnlichkeit zwischen Sanders und FDR zeigt sich auch in den konkreten politischen Plänen. Sanders zitiert und bezieht sich während Debatten, Town Hall-Meetings und Wahlkampfreden immer wieder auf den Glass-Stegall-Act und den Social Security Act, zwei der besser bekannten Initiativen des 32. Präsidenten.

Sanders setzt darauf, dass die amerikanische Öffentlichkeit seine Vorschläge als alles andere als radikal akzeptiert

Indem er sich selbst mit FDR verbindet, setzt Sanders darauf, dass die amerikanische Öffentlichkeit seine Vorschläge als alles andere als radikal akzeptiert. Tatsächlich sind sowohl seine auf einem starken Staat basierenden Lösungsvorschläge genau wie sein allgemeines Sozialismusverständnis in der Öffentlichkeit populär. Und das wird immer noch von seinen Gegnern auf beiden Seiten übersehen. Programme wie die Sozialversicherung oder Medicare wurden von vielen als „sozialistisch“ eingestuft – aber beide Programme sind für viele Amerikaner parteiübergreifend „sehr wichtig“.

Das alles ist ein Beleg für die Tatsache, dass der Sozialismus eigentlich tief in Amerika verwurzelt ist und dass breite sozialistische Ideale ihre Attraktivität viele Male bewiesen haben.

Amerikanische Sozialisten sind schon zuvor gewählt und als nationale Persönlichkeiten wahrgenommen worden. Blicken wir zurück in die Stadt Milwaukee (Wisconsin) im frühen 20. Jahrhunderts, die 1910 Emil Seidel zum ersten „sozialistischen“ Bürgermeister Amerikas wählte. Seidel war auch Eugene Debs´ Vizepräsidentschaftskandidat für die Präsidentschaftswahlen von 1912.

Aber wir müssen kein Jahrhundert zurückschauen, um den amerikanischen Sozialismus in voller Blüte zu erleben – vorausgesetzt, wir schauen an die richtige Stelle. Wir könnten auf das US-Militär verweisen – ein massives staatliches Programm, das seinen Angestellten sozialstaatliche Unterstützung für höhere Bildung, Wohnungen, und eine spezialisierte und passionierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung stellt. Somit existieren verschiedene Kernideen des Sozialismus in Amerikas sichtbarsten Institutionen.

Wiederum hat die demokratische Partei während der letzten vier Jahrzehnte meistens ökonomisch moderate Kandidaten unterstützt. Schon immer hat Sanders seine Weltanschauung artikuliert, erst als Bürgermeister von Burlington (Vermont), dann aus dem US-Repräsentantenhaus heraus und jetzt im US-Senat.

Also warum sehen er und seine Marke eines lauten und stolz präsentierten Sozialismus plötzlich so erfolgsversprechend aus? Die zunehmende Unterstützung durch jüngere Wähler spiegelt möglicherweise wider, dass eine Mehrheit von ihnen den Sozialismus wohlwollend betrachtet. Aber Sanders´ Erfolg ist auch ein Ausdruck einer viel tiefergehenden Entwicklung.

Ein erheblicher Anteil der Wähler aus dem gesamten politischen Spektrum (und nicht nur die jüngeren von ihnen) glauben, dass der Status quo nicht zu ihren Gunsten ist und dass die Regierung mehr tun muss, um dies zu beheben – inklusive einer Umverteilung von Reichtum über Steuern.

Sanders ökonomische Argumente bieten vielen Wählern eine Chance für einen „Change“, und nicht nur für „Hope“

Amerika ist darauf vorbereitet, um Sanders´ Ruf nach einer „politischen Revolution“ ansprechend zu finden. Seine ökonomischen Argumente bieten eine Aussicht für echten „Change“, und nicht nur für „Hope“. Sein Ruf nach starken Maßnahmen, um die Regierung für und nicht gegen die Mittelschicht arbeiten zu lassen, ist für viele sich durchkämpfende Amerikaner attraktiv. Und da sein Sozialismus-Verständnis ihn zu einem wahrhaften Liberalen nach dem Vorbild eines Franklin D. Roosevelt macht, hat das Label des „Sozialisten“ auch nicht die abschreckende Wirkung, die es vor der Finanzkrise von 2008 gehabt haben dürfte.

Es bleibt abzuwarten, ob Sanders genug Unterstützung sammeln kann, um erst Hillary Clinton und dann den republikanischen Präsidentschaftskandidaten hinter sich zu lassen – aber egal, ob er gewinnt oder verliert, hat seine Kampagne in jedem Fall die Phantasie des amerikanischen Wahlvolks ergriffen, das immer noch von einer Gesellschaft mit mehr Gleichberechtigung träumt.

 

Zum Autor:

Michael Espinoza ist Doktorand am Institute of the Americas an der UCL.

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Dieser Artikel wurde zuerst von The Conversation auf englisch veröffentlicht und von der Makronom-Redaktion unter Zustimmung von The Conversation ins Deutsche übersetzt.The Conversation