Kommentar

Warum die Volkswirtschaftslehre mehr Frauen braucht

Ökonomische Modelle mögen vermeintlich geschlechtsneutral sein – aber wenn sie ihre Zunft erneuern und Antworten auf die Probleme unserer Zeit finden wollen, müssen Ökonomen anerkennen, dass die Volkswirtschaftslehre ein ernsthaftes „sex problem“ hat. Ein Kommentar von Victoria Bateman.

Die Erfolgsgeschichten von Frauen wie der Fed-Vorsitzenden Janet Yellen (links) oder IWF-Chefin Christine Lagarde maskieren nur das zugrundeliegende Problem. Foto: International Monetary Fund via Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Am Vorabend der Finanzkrise von 2008 waren die Ökonomen ziemlich optimistisch. Die zweiköpfige Bestie aus Inflation und Arbeitslosigkeit, die die Wirtschaft während der 70er und 80er Jahre verdorben hatte, war gezähmt worden, und der Konjunkturzyklus schien ein Ding der Vergangenheit zu sein. Die Ökonomen glaubten, dass sie inzwischen ein so gutes Verständnis der Wirtschaft entwickelt hätten, dass sie sie in der Spur halten könnten. Robert Lucas, Nobelpreisträger und Präsident der American Economic Association, ging sogar so weit anzukündigen, dass die Große Depression sich nie wieder wiederholen würde.

Als das Undenkbare dann 2008 doch geschah, schockierte dies niemanden mehr als die Ökonomen selbst – und die Volkswirtschaftslehre versucht seit dem, sich selbst zu erneuern. Auf diesem Weg muss sie sich mit zwei nicht ganz unverwandten Problemen auseinandersetzen: mit einer steigenden Ungleichheit und einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums. Wenn es in der Volkswirtschaftslehre darum geht, die Dinge zum Besseren und nicht zum Schlechteren zu verändern, dann müssen Ökonomen bei diesem Prozess auf neue Ideen und neue Stimmen hören. Und dazu zählen auch die von Frauen.

Denn die Volkswirtschaftslehre hat ein ernsthaftes „sex problem“ – das ist meiner Meinung nach sogar einer der Hauptgründe, warum sie überhaupt erst aus der Spur gekommen ist. Daher mein Aufruf für eine sexuelle Revolution in der Volkswirtschaftslehre.

Die Präsenz von führenden Frauen wie Janet Yellen bei der Fed oder Christine Lagarde beim IWF maskiert nur das zugrundeliegende Problem, dass durch die Tatsache offensichtlich wird, dass es bisher nur eine einzige Ökonomin gab, die den Nobelpreis gewonnen hat. Egal ob in der Politik, der Wissenschaft oder unter den Studenten: Es gibt wesentlich mehr Männer als Frauen, die das Heft des Handelns in der Hand haben. In Großbritannien und den USA gibt es fast dreimal so viele Männer wie Frauen, die Ökonomie als Hauptfach belegen. In Großbritannien geht der Anteil der Mädchen, die einen volkswirtschaftlichen Abschluss anstreben, entgegen dem allgemeinen Trend zurück.

Eigentlich sollte es grundsätzlich egal sein, ob Ökonomen männlich oder weiblich sind. Aber in unseren Gesellschaften unterscheiden sich die Erfahrungen von Männern erheblich von denen der Frauen – wie kann dann ein von Männern dominiertes Fach nicht implizit und unwissentlich nur die eine Hälfte der Geschichte abbilden?

Ökonomen verstehen ihre Disziplin gerne als geschlechtsneutral. In Wirklichkeit betrachten sie die Welt aber durch männliche Augen – wobei diese männlichen Augen auch noch ziemlich privilegiert sind. Die männliche Erfahrung bezieht sich traditionell auf das Geschäftsleben und bezahlte Arbeit und überlässt das Familien- und das gesellschaftliche Leben dem anderen Geschlecht. Dabei werden die Wechselwirkungen von Gesellschaft und Wirtschaft ignoriert, und die grundlegende Bedeutung von Reproduktion, Fürsorge und Erziehung – Dinge die genauso wichtig wie Investitionen in den Kapitalstock sind – wird heruntergespielt. Sie werden als gegeben angesehen.

Männer haben wesentlich mehr Erfahrung beim Investieren in Fabriken und Maschinen als bei Investitionen in die nächste Generation – oder hinsichtlich der Pflege der vorherigen Generation von „Produzenten“. Und weil „Rationalität“ traditionell als männliches und „Emotion“ als weibliches Charaktermerkmal angesehen wurde, hatten Ökonomen lange die Einstellung, dass die Einbeziehung von realen menschlichen Charakterzügen in ihre ökonomischen Sichtweisen diese weniger exakt machen würde.

Ein falscher Gegensatz

Während die Wirtschaft Männer und Frauen gleichermaßen betrifft, sind die Fragen, die Ökonomen zu beantworten versuchen, die Werkzeuge, die sie dafür verwenden, die Annahmen die sie dabei treffen, und die ökonomischen Phänomene, die sie messen wollen, allesamt dadurch diktiert, dass die Volkswirtschaftslehre eine von Männern dominierte Disziplin ist. Das gilt wiederum auch für die Wirtschaftspolitik, die unser tägliches Leben beeinflusst.

Der Wohlfahrtsstaat ist dämonisiert worden und die Frauen mussten die Konsequenzen tragen

Wenig überraschend haben Ökonomen die Märkte auf ein Podest gehoben und das Leben draußen in der Kälte stehen lassen – inklusive der existenziellen Aktivitäten, ohne die weder Wirtschaft noch Gesellschaft funktionieren könnten. Die Vorteile von staatlichen Interventionen, von denen viele einen mächtigen Einfluss auf das Leben von Frauen haben, erhielten wesentlich weniger Aufmerksamkeit als die groß herausposaunten Nachteile: Der Wohlfahrtsstaat ist dämonisiert worden und die Frauen mussten die Konsequenzen tragen.

Mittels dieser Vernachlässigung des Lebens im breiteren Sinne haben Ökonomen die Wirtschaft in zwei Sphären geteilt: den Staat und den Markt. Jedwede Ausdehnung des ersteren wird daher als Zurückdrängung des letzteren verstanden. Aber nur durch die Anerkennung einer dritten Sphäre, die das Leben außerhalb des Marktes und jenseits der Launen des Staates einbezieht, werden wir es schaffen, Staat und Markt nicht länger als permanentes Nullsummenspiel zu betrachten. Denn nur, wenn wir beispielsweise durch eine staatliche Sozial- und Wohlfahrtspolitik die Teilnahme von Frauen am Berufsleben unterstützen, kann der Staat die Aktivitäten des Marktes fördern anstatt ihn zu verdrängen.

„Seine“ Geschichte muss „sie“ einbeziehen

Zusätzlich zu der Voreingenommenheit, die in den Modellen der Ökonomen beinhaltet ist, lässt auch ihre Interpretation der Geschichte – also das, was die westlichen Volkswirtschaften erfolgreich gemacht hat – etwas sehr Wichtiges aus. Die Story, die man uns gewöhnlich erzählt, ist vermeintlich geschlechtsneutral. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt, ist es vor allem eine männliche Story –  eine Story, die größtenteils männliche Ingenieure, Erfinder, Industrielle und Forscher der Industriellen Revolution einbezieht. Aber die historische Erfahrung legt den Schluss nahe, dass die Entscheidungen der Frauen hinsichtlich ihrer Arbeit, ihrer Kinderwünsche und der Wahl ihres Zuhauses mindestens genauso wichtig für den Aufstieg des Westens waren.

In Großbritannien waren Frauen bereits mehre 100 Jahre vor dem Beginn der Industriellen Revolution in die Erwerbsbevölkerung eingetreten und heirateten gewöhnlich nicht vor Mitte 20 – was ein erheblicher Unterschied zu der heutigen Situation in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern ist. Das Ergebnis waren kleinere Familien – was bedeutete, dass es weniger Druck auf die Löhne gab und Eltern bessere Möglichkeiten hatten, für die Ausbildung ihrer Kinder zu sorgen und Familien zusätzliche Ressourcen für ihre Zukunft ansparen konnten. Durch ihre Auswirkungen auf Löhne, Fähigkeiten und Ersparnisse hatten die Entscheidungen der Frauen den Grundstein für ein stärkeres langfristiges Wachstum gelegt.

Indem sie die Relevanz von Geschlechtern auf das Wirtschaftswachstum ignorieren, waren Ökonomen blind gegenüber dem Potenzial, welches stärkere Mitwirkungsmöglichkeiten von Frauen auch im Westen bei der Bewältigung der heutigen ökonomischen Probleme haben können. Ob es nun die Abschwächung des Wachstums, die Deflation, Negativzinsen, schwache Produktivität, stagnierende Löhne, Ungleichheit oder die politischen Schlachten zur Immigration sind: Unsere momentanen Probleme haben ihre Wurzeln in dem, was ich kürzlich in einer Bloomberg-Kolumne als „global sex problem“ bezeichnet habe.

Der Mangel an weiblichen Mitwirkungsmöglichkeiten in ärmeren Ländern hat während des letzten Jahrhunderts zu hohen Geburtenraten und schnell wachsenden Bevölkerungen geführt. Durch die Globalisierung sind reichere und ärmere Volkswirtschaften stärker miteinander in Kontakt gekommen, was im Westen einen erheblichen Abwärtsdruck auf die Löhne erzeugt hat. Eine steigende Ungleichheit und schwaches Wachstum waren die unvermeidlichen Resultate – genauso wie die Feindseligkeit gegenüber Ausländern und den Kräften der Globalisierung.

Die wirtschaftlichen Probleme des Westens spiegeln die Leiden von Frauen in den ärmeren Ländern wider

Für mich ist nicht die Globalisierung die zugrundeliegende Ursache unserer Probleme: Es ist der Mangel an Freiheiten für Frauen in den ärmeren Ländern unserer Welt, inklusive der mangelnden Freiheit, über ihre Körper selbst zu bestimmen. Unsere wirtschaftlichen Probleme spiegeln die Leiden dieser Frauen wider: Ein exzessives Bevölkerungswachstum in Übersee, das aus den fehlenden Freiheiten für Frauen entstanden ist, drückt das Lohnwachstum im Westen, vor allem bei niedrigqualifizierten Arbeitern. Das führt zu Ungleichheit und senkt die Investitionsanreize für Firmen.

Unglücklicherweise hat das Gender-Problem der Volkswirtschaftslehre dafür gesorgt, dass die Verbindung zwischen den Mitwirkungsmöglichkeiten von Frauen und den aktuellen ökonomischen Problemen nach wie vor unerforscht ist. Nehmen wir das vielleicht am meisten respektierte Buch zu den Herausforderungen, vor denen die westlichen Volkswirtschaften stehen: das von Coen Teulings und Richard Baldwin herausgegebene Secular Stagnation: facts, causes and cures. Unter den gut 20 Autoren ist keine einzige Frau – das Wort „Gender“ wird darin nicht erwähnt. Oder nehmen Sie Thomas Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Das Gender-Thema kommt darin so gut wie überhaupt nicht vor. Ich habe eine Erwähnung im gesamten Text gezählt.

Beim Selbsterneuerungsprozess der Volkswirtschaftslehre müssen Ökonomen anerkennen, dass ihre Disziplin tatsächlich ein ernsthaftes „sex problem“ hat – eines das dringend adressiert werden muss, wenn wir die Hauptprobleme unserer Zeit in den Griff bekommen wollen: schwaches Wachstum, Ungleichheit und periodisch auftretende Krisen. Durch das Ignorieren des Problems, oder durch die Annahme, dass nicht die Disziplin, sondern vielmehr die Frauen sich ändern müssten, werden wir die Fehler der Vergangenheit wiederholen. Und das wird jedem schaden – egal ob Mann oder Frau.

 

Zur Autorin:

Victoria Bateman unterrichtet Volkswirtschaftslehre an der University of Cambridge.

logo-236a9b01d01787a0eef2df88cf6f14cdba325af3c72f8c696681e057c0163981

Dieser Artikel wurde zuerst von The Conversation in englischer Sprache veröffentlicht und von der Makronom-Redaktion unter Zustimmung von The Conversation ins Deutsche übersetzt.The Conversation