Warum die Eurozone eine Lohnkoordination braucht – und wie diese funktionieren könnte
Die von Emmanuel Macron vorgeschlagenen Reformen für die Eurozone gehen zwar in die richtige Richtung, aber sparen – möglicherweise aus Rücksicht auf deutsche Befindlichkeiten – entscheidende Punkte aus: die divergierenden Handelsbilanzen und Lohnstückkosten. Um dieses Problem zu lösen, bedarf es einer europäischen Einbettung der nationalen Lohnfindungssysteme. Ein Beitrag von Rainer Land.
Der heutige Berlin-Besuch von Emmanuel Macron stellt für viele so etwas wie die letzte Hoffnung dar, dass sich die deutsche Regierung doch noch zu einer Reform der Eurozone aufraffen und der Währungsunion die nötige Stabilität verleihen kann. Diese Hoffnungen dürften allerdings enttäuscht werden.
Einerseits deswegen, weil der Widerstand in Deutschland sehr groß ist, den Plänen des französischen Präsidenten auch nur im Geringsten entgegenzukommen – so liest sich zumindest der Entwurf der Bundestagsfraktion der Union, die ziemlich deutlich klar gemacht hat, dass mit ihr Macrons Vorhaben nicht umzusetzen sein werden. Und es ist auch nicht zu erkennen, dass die SPD sonderlich viel politisches Kapital dafür einsetzen wird, den nötigen Druck auf den Koalitionspartner aufzubauen. Das deutlichste Zeichen dafür lieferte Finanzminister Olaf Scholz, der in Schlüsselpositionen offenbar auch weiterhin auf das nicht gerade Euroreform-begeisterte Personal seines Vorgängers Wolfgang Schäuble setzen will.
Andererseits ist ohnehin zu bezweifeln, dass Macrons Pläne selbst im Falle einer vollständigen Umsetzung der Eurozone die notwendige Stabilität verliehen hätten. Dies ist primär dadurch begründet, dass auch die französische Regierung bisher keine Anstalten macht, ein Problem zu adressieren, das – mindestens langfristig – die Stabilität der Währungsunion bedroht: die Divergenzen in den Handelsbilanzen der Eurostaaten. Ich persönlich nehme an, dass sich Macron und seine Berater dieses Problems durchaus bewusst sind, aber es aus verhandlungstaktischer Rücksicht auf deutsche Befindlichkeiten nicht direkt ansprechen. Immerhin hatte sich im Wahlkampf sogar der damalige SPD-Parteivorsitzende Martin Schulz eine Debatte darüber verbeten:
„Wir werden auch wegen unserem hohen Handelsbilanzüberschusses kritisiert. Das betone ich auch im Lichte des Präsidentschaftswahlkampfs in Frankreich und den Debatten die dort darüber geführt worden sind – die Kritik an unseren hohen Handelsbilanzüberschüssen halte ich für falsch. Wir müssen uns nicht dafür schämen, erfolgreich zu sein.“
Diese Sicht der Dinge ist naiv und falsch. Handelsbilanzüberschüsse sind keine Erfolge, sondern Zeitbomben. Das war vor allem vor und während der Eurokrise überdeutlich, aber es gilt auch noch heute. Aus deutscher Sicht kann und muss man das Problem endlich benennen und Frankreich gegenüber die Bereitschaft signalisieren, die deutschen Überschüsse abzubauen und eine Lösung anzustreben, die die Stabilität des Euros nicht gefährdet.
Warum sind ausgeprägte Leistungsbilanzdifferenzen ein Problem?
Die Leistungsbilanzdifferenzen kumulieren von Jahr zu Jahr und wachsen zu riesigen Geldvermögensbeständen auf der einen Seite (Auslandsguthaben, Devisenbestände, Wertpapiere ausländischer Emittenten) und Schulden auf der anderen Seite an. Damit sind nicht nur Staatsschulden gemeint, sondern ebenso Schuldenberge bzw. Finanzanlagen (Guthaben) von Banken, Finanzunternehmen, Unternehmen und privaten Haushalten. Die kumulierten Exportüberschüsse Deutschlands von 1999 bis 2015 betragen 2,6 Billionen Dollar. Davon ist bislang knapp die Hälfte durch Entwertung verloren gegangen.
Diese sehr ungleich verteilten Finanzvermögen und Finanzverbindlichkeiten sind eine Zeitbombe für das Finanzsystem. Könnten beispielsweise italienische Schuldner einen Großteil der Schulden nicht mehr bedienen, gerieten italienische Banken in eine bedrohliche Abwärtsspirale. Einen Zusammenbruch des italienischen oder gar des französischen Bankensystems könnte mit den vorhandenen oder auch den weiterentwickelten Rettungsschirmen nicht mehr kompensiert werden. Aber auch eine anhaltende schleichende Entwertung der Forderungen, etwa durch Wechselkursveränderungen, könnten für die Eurozone hochproblematisch sein: Die Exportüberschüsse vieler Jahre würden sich in Nichts auflösen, Guthaben entwertet, Banken in Schieflage geraten.
Überschüsse und Defizite entziehen den Überschussländern Ressourcen und deindustrialisieren Defizitländer. Für die in Exporte eingesetzten Ressourcen – Rohstoffe, Energien, ökologische Ressourcen, Arbeitsstunden – bekommen die Überschussländer finanzielle Forderungen. Diese ersetzen aber keine verbrauchten sachlichen Ressourcen (wenn man verbrauchte sachliche Ressourcen in gleicher Höhe durch Importe ersetzen würde, gäbe es den Überschuss nicht!). Die eingesetzten Ressourcen wären nicht nur aktuell verbraucht, sondern endgültig verloren, wenn die erhaltenen finanziellen Forderungen entwertet würden. Die Überschussländer saugen sich selbst aus, um Geldvermögen anzusammeln, das sie aber nicht investieren wollen und/oder können. Gleichzeitig führen die Importüberschüsse in den Defizitländern dazu, dass vorhandene Produktionskapazitäten nicht ausgelastet sind, Verluste schreiben und bei anhaltenden Krisen abgebaut werden.
Überschüsse und Defizite exportieren Arbeitslosigkeit aus den Überschussländern in die Defizitländer. Die Arbeitslosigkeit in den Überschussländern geht zurück, allerdings um den Preis stagnierender Löhne, die hinter der Produktivität zurückbleiben. Berechnungen zufolge beträgt der kumulierte Lohnrückstand für Deutschland 23,4%. Spätestens, wenn die Defizitländer versuchen, die Zunahme ihrer Schulden zu begrenzen, sinken die Einkommen und die Investitionen, und das betroffene Land gerät in eine Wirtschaftskrise.
Durch die Orientierung der Wirtschaft der Überschussländer auf den Export werden Innovationen und Investitionen primär auf die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Ausland ausgerichtet. Investitionen, die dem Binnenmarkt oder den für den Export weniger relevanten Infrastrukturen nutzen, werden hingegen vernachlässigt und mit Kostenargumenten beschränkt. Sozialer Fortschritt und gleichwertige Lebensbedingungen werden dem Kriterium der Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet. Insbesondere die Finanzierung der Sozialsysteme wird eingeschränkt. Im Ergebnis entsteht eine einseitig auf die Wettbewerbsfähigkeit der Exportsektoren ausgerichtete Wirtschaftsstruktur. Die Investitionen insgesamt sind zu gering, insbesondere die wichtigste Aufgabe unserer Zeit, der ökologische Umbau, wird z.B. durch Ausnahmen für die Exportindustrie verzögert. Die durch diese Entwicklung entstehende Wirtschafts- und Infrastruktur ist nicht zukunftsfähig.
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QE-Käufe und EZB-Bilanz
Die Bezeichnung QE-Programm (Quantitative Easing) ist nicht die offizielle Bezeichnung des Programms der EZB, sondern bezeichnet lediglich eine geldpolitische Methode, bei der die Zentralbank Schuldtitel kauft, um das Niveau der Marktzinsen nach unten zu drücken. Das QE-Programm heißt im offiziellen EZB-Sprachgebrauch Programm zum Ankauf von Vermögenswerten (Asset Purchase Programme, APP) und wurde Anfang 2015 beschlossen. Das APP bestand zunächst aus drei Einzelprogrammen zum Ankauf
gedeckter Schuldverschreibungen (CBPP 3, Start Oktober 2014),
forderungsbesicherter Wertpapiere (ABSPP, Start November 2014) und
von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (PSPP, Start März 2015).
Im Juni 2016 kam das Programm zum Ankauf von Wertpapieren des Unternehmenssektors (CSPP) hinzu.
Eine genauere Beschreibung der einzelnen Programme finden Sie am Ende dieses Beitrags.
Die EZB hat für die einzelnen Programme keine konkreten Kaufvolumina, sondern lediglich monatliche Zielmarken für das gesamte APP festgelegt.
März 2015 bis März 2016: 60 Milliarden Euro
April 2016 bis März 2017: 80 Milliarden Euro
April 2017 bis Dezember 2017: 60 Milliarden Euro
Januar 2018 bis September 2018: 30 Milliarden Euro
Was kauft die EZB genau?
Der Blick auf die pro Monat aufgekauften Wertpapiere zeigt, dass die EZB durchaus die Zusammensetzung ihrer Käufe variiert hat und im Rahmen der einzelnen Programme unterschiedlich aktiv war. Auch lag das monatliche Kaufvolumen nicht immer präzise bei den angekündigten 60 bzw. 80 Milliarden Euro – allerdings hat die EZB während der jeweiligen Phasen im Durchschnitt doch ziemlich exakt das angekündigte Volumen gekauft.
Die unterschiedliche Gewichtung der Unterprogramme wird im folgenden Chart noch etwas deutlicher. Dieser zeigt, wie hoch der Anteil der jeweiligen Programme während der einzelnen Monate seit Start des APP im März 2015 war. Daraus wird ersichtlich, dass die EZB den Anteil der gekauften Staatsanleihen zuletzt wieder etwas reduziert hat (von in der Spitze über 90% auf zuletzt etwa 80%).
Worauf es zu achten gilt: Konkrete Umsetzung und Reinvestitionen fälliger Anleihen
In den kommenden Monaten gilt es also vor allem zu beobachten, wie die EZB die angekündigte Reduzierung ihres Aufkaufvolumens konkret umsetzt, weil sich dies auf die betroffenen Marktsegmente unterschiedlich auswirken wird. So hat die EZB wie oben gezeigt seit Start ihrer Aufkaufprogramme demonstriert, dass sie in der Lage und gewillt ist, die angekündigten Kaufvolumina auch tatsächlich umzusetzen. Das heißt, dass die gesamten APP-Bestände in ihrer Bilanz ungefähr dem im folgenden Chart skizzierten Verlauf (rote gestrichelte Linie) folgen und Ende September 2018 ein Gesamtvolumen von ca. 2,6 Billionen Euro erreichen dürften – die Frage ist eben lediglich, durch welche Wertpapiere die große weiße Lücke im Chart konkret gefüllt wird.
Es muss auch berücksichtigt werden, dass das APP noch lange über sein eigentliches Ende hinaus Wirkung entfalten wird. So hat die EZB bereits im Dezember 2015 angekündigt, die Einkünfte aus bis zur Fälligkeit gehaltenen Anleihen wieder zu reinvestieren und dieses Versprechen auf der Oktober-Ratssitzung noch einmal erneuert und präzisiert. Sollte also beispielsweise eine deutsche Staatsanleihe 2019 fällig und die EZB vom deutschen Staat ausbezahlt werden, wird sie – Stand heute – dieses Geld für den erneuten Erwerb einer (deutschen) Staatsanleihe nutzen. Ihre Bestände an Staatsanleihen werden sich somit nicht zwangsläufig verringern und ihre Präsenz auf den Märkten auch nicht sehr viel kleiner werden – sie schafft nur kein neues Geld, um Staatsanleihen zu erwerben.
QE-Käufe nach Ländern
Die EZB hat beim Start des PSPP (also des Staatsanleihen-Programms) angekündigt, dass sich das Kaufvolumen am Kapitalschlüssel der beteiligten Länder orientieren soll. Jedoch ist die EZB von diesem Ziel deutlich abgewichen: Sie hat mehr Staatsanleihen der großen Eurostaaten gekauft, als dies eigentlich nach dem Kapitalschlüssel angemessen gewesen wäre. So machen beispielsweise deutsche Staatsanleihen mittlerweile knapp 27% des aufgekauften Staatsanleihen-Portfolios aus, obwohl der deutsche Kapitalschlüssel nur bei knapp 18% liegt.
Diese „Bevorzugung“ der großen Staaten könnte unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass es bei den kleineren Ländern schlicht nicht genug Anleihen gibt, damit die EZB ihr angepeiltes Kaufvolumen erreichen kann. Es wird sich zeigen, ob die EZB somit ihr Kaufverhalten ändern wird, wenn sie nur noch eine kleinere Summe an Staatsanleihen aufkaufen muss.
Bilanzsumme
Die im Rahmen des QE-Programms getätigten Käufe machen inzwischen fast die Hälfte der insgesamt knapp 4,4 Billionen Euro großen EZB-Bilanz aus. Wenn die EZB die Summe der monatlichen Anleihekäufe ab Januar senkt, ist in der kurzen Frist zu erwarten ist, dass sich die EZB-Bilanz zunächst etwas langsamer ausweiten wird. Um die tatsächliche expansive Wirkung der Geldpolitik zu beurteilen ist es aber auch notwendig zu beobachten, wie sich die übrigen Posten der Bilanz verändern, was aus heutiger Sicht aber nicht abschätzbar ist.
Glossar: Die Programme im Detail
Das erste Programm zum Ankauf gedeckter Schuldverschreibungen (Covered Bond Purchase Programme, CBPP) wurde bereits 2009 von der EZB beschlossen, um nach der Finanzkrise den Markt für diese Papiere (z. B. Pfandbriefe) zu stabilisieren und Refinanzierungsproblemen der Banken entgegenzuwirken. Innerhalb eines Jahres wurden Wertpapiere im Gesamtvolumen von 60 Milliarden Euro angekauft. Ein zweites CBPP mit folgte dann von November 2011 bis Oktober 2012. Das aktuell laufende dritte CBPP wurde im Oktober 2014 verabschiedet.
Das Programm zum Ankauf forderungsbesicherter Wertpapiere (Asset Backed Securities Purchase Programme, ABSPP) wurde im September 2014 in Verbindung mit dem Programm zum Ankauf gedeckter Schuldverschreibungen (CBPP 3) beschlossen. Dabei werden ABS-Papiere am Primär- und Sekundärmarkt aufgekauft.
Im Rahmen des Programms zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (Public Sector Purchase Programme, PSPP) werden seit März 2015 Wertpapiere des öffentlichen Sektors wie Staatsanleihen sowie Schuldtitel europäischer Institutionen und Agenturen gekauft. Für die Ankäufe im Rahmen des PSPP gibt es detaillierte Regeln. So dürfen Staatsanleihen beispielsweise wegen des Verbots der monetären Staatsfinanzierung nur am Sekundärmarkt erworben werden. Es dürfen nur Papiere mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr aufgekauft werden. Zudem will die EZB nicht mehr als 33% aller auf den Sekundärmärkten befindlichen Papiere aufkaufen.
Mit dem Programm zum Ankauf von Wertpapieren des Unternehmenssektors (Corporate Sector Purchase Programme, CSPP) werden seit Juni 2016 auch Anleihen von Unternehmen in der Eurozone erworben. Ausgeschlossen sind Kreditinstitute und Unternehmen, deren Anleihen von den Ratingagenturen nicht mindestens als „Investment Grade“ bewertet werden. Die Anleihen müssen Laufzeiten zwischen sechs Monaten und 30 Jahren haben und können sowohl am Primärmarkt als auch am Sekundärmarkt gekauft werden.