Kapitalismus

Warum die alten Instrumente zur Reduzierung der Ungleichheit nicht mehr funktionieren

Nach dem Zweiten Weltkrieg war es dank starker Gewerkschaften, einer massiven Bildungsexpansion und hohen Steuer- und Transferleistungen gelungen, die Ungleichheit in den reichen Ländern zu reduzieren. Inzwischen sind wir aber an einem Punkt angekommen, an dem wir mit den klassischen Instrumenten nicht mehr weiterkommen, sondern ein neues Ziel brauchen. Ein Kommentar von Branko Milanovic.

Eine zu ungleiche Verteilung kann gefährlich sein. Foto: Pixabay

Ungefähr vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die frühen 80er Jahre gab es eine bemerkenswerte Periode, in der die Einkommens- und Vermögensungleichheit in den reichen Ländern rückläufig war. Diese Periode basierte auf vier Säulen: starken Gewerkschaften, Massenausbildung, hohen Steuern und ausgeprägten staatlichen Transferleistungen.

Seitdem die Ungleichheit seit 20 oder mehr Jahren wieder ansteigt, setzten die vergeblichen Eindämmungsversuche auf die Expansion von einigen oder allen dieser vier Säulen – aber im 21. Jahrhundert wird keine von ihnen so erfolgreich wie im 20. Jahrhundert sein.

Die Gewerkschaften

Warum? Beginnen wir mit den Gewerkschaften. In allen reichen Ländern ist die Gewerkschaftsdichte insbesondere im Privatsektor zurückgegangen. Und dieser Trend ist nicht allein auf eine gewerkschaftsfeindliche Politik zurückzuführen. Die Regierungen mögen dazu beigetragen haben, aber sie sind nicht die Hauptursache. Vielmehr hat sich grundlegende Organisation der Arbeit verändert: Arbeitsplätze haben sich von der Industrie in den Dienstleistungssektor verlagert. An die Stelle einer erzwungenen Präsenz in Fertigungshallen oder Büros sind immer mehr mobile Arbeitsplätze getreten. Dies implizierte eine Vervielfältigung von relativ kleinen Arbeitseinheiten, die physisch oftmals nicht an einem Ort angesiedelt sind.  Die gewerkschaftliche Organisierung einer verstreuten Arbeiterschaft ist sehr viel schwieriger als die von Arbeitern, die in einer einzigen großen Fabrik tätig sind und ein gemeinsames Interesse teilen.

Es wird wohl auch künftig ein Überangebot an Arbeitskräften geben

Außerdem spiegelt die schwächer werdende Rolle der Gewerkschaften die nachlassende Macht der Arbeit gegenüber dem Kapital wider, was auf die massive Expansion der Lohnarbeit (also der Arbeit unter dem kapitalistischen System) seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und auf Chinas Reintegration in die Weltwirtschaft zurückzuführen ist. Letztere war zwar ein einmaliger Schock war, aber die Effekte werden doch für mindestens einige Jahrzehnte anhalten und könnten durch hohe Bevölkerungswachstumsraten in Afrika noch verstärkt werden, was das relative Überangebot an Arbeitskräften aufrechterhalten würde.

Das Bildungswesen

Die Massenausbildung war im Westen ein Werkzeug zur Reduzierung der Ungleichheit während einer Periode, in der die durchschnittlich absolvierten Ausbildungsjahre von vier oder sechs in den 50er Jahren auf heute 13 oder mehr angestiegen sind. Das hat zu einer Reduzierung des sogenannten „skill premiums“ geführt, also der Lücke zwischen einem Hochschulabsolventen und jemandem, der nur eine reine Schulausbildung erhalten hat. Diese Reduzierung war so gewaltig, dass der berühmte niederländische Ökonom Jan Tinbergen in den 70er Jahren glaubte, dass das skill premium am Ende des Jahrhunderts null betragen würde.

Aber eine massenhafte Bildungsexpansion ist unmöglich, wenn ein Land im Schnitt bereits 13 oder 14 Ausbildungsjahre aufweist – schlicht und ergreifend deswegen, weil das maximale Ausbildungsniveau nach oben beschränkt ist. Wir können also nicht erwarten, dass künftig geringe Erhöhungen des durchschnittlichen Bildungsniveaus jene ausgleichenden Effekte auf die Löhne haben werden, wie sie die Massenausbildung einst hatte.

Steuern und Transferleistungen

Die hohe Besteuerung von Einkommen und starke soziale Transferzahlungen waren absolut entscheidend für die Reduzierung der Einkommensungleichheit. Aber weitere Steuererhöhungen sind politisch schwierig. Der Hauptgrund dürfte darin liegen, dass die Rolle des Staates inzwischen weitaus skeptischer gesehen wird. Anders als ihre Vorfahren ein halbes Jahrhundert zuvor stehen die Mittelschichten in vielen Ländern Steuer- und Transfermaßnahmen inzwischen eher kritisch gegenüber.

Damit will ich nicht sagen, dass die Menschen einfach nur niedrigere Steuern wollen und sich nicht im Klaren darüber sind, dass die sozialen Sicherungssysteme, die kostenlose Bildung, die moderne Infrastruktur etc. ohne hohe Steuern kollabieren würden – aber die Wählerschaft ist gegenüber den Vorteilen, die durch zusätzliche Einkommenssteuern entstehen könnten, sehr skeptisch eingestellt. Und daher haben solche Steuererhöhungen schlechte Wahlaussichten.

Ein egalitärer Kapitalismus

Wenn also die Ungleichheit für die soziale Homogenität und die Demokratie eine Bedrohung darstellt – welche Werkzeuge sollten wir dann zu ihrer Bekämpfung verwenden? Ich denke, dass wir an einem Punkt sind, an dem wir mit unseren klassischen Instrumenten nicht mehr weiterkommen, sondern wir uns ein neues Ziel setzen müssen: einen egalitären Kapitalismus, der auf einer quer durch die Bevölkerung in etwa gleichen Ausstattung mit Kapital und Fähigkeiten basiert.

Ein solcher Kapitalismus generiert auch ohne einen großen Umverteilungsstaat ausgleichende Ergebnisse: Wenn die Reichen nur doppelt so viele Kapitaleinheiten und doppelt so hohe Fähigkeiten wie die Armen haben, und die Erträge aus Kapital und Fähigkeiten annährend gleich sind, dann kann die gesamte Ungleichheit nicht größer als 2 zu 1 sein.

Wie kann diese Angleichung gelingen? Was das Kapital betrifft: durch die Dekonzentration von Vermögenswerten. Was die Arbeit angeht: größtenteils durch die Angleichung der Erträge, die sich aus fast identischen erlernten Fähigkeiten ergeben. In einem Fall geht es also um die Angleichung der Bestände, und in dem anderen um die Angleichung der Erträge, die aus den Beständen (der Bildung) erzielt werden.

Hohe Vermögenskonzentration

Fangen wir mit dem Kapital an. Es ist eine bemerkenswerte und bisher wenig berücksichtigte Tatsache, dass die Konzentration von Vermögen und Besitzeinkommen schon seit den 70er Jahren in allen reichen Ländern auf dem unglaublich hohen Niveau von rund 90 Gini-Punkten oder mehr liegt. Das ist einer der Hauptgründe dafür, warum sich die Veränderung der relativen Macht des Kapitals über die Arbeit und der höhere Kapitalanteil am Netto-Output direkt in eine höhere interpersonelle Ungleichheit übertragen haben.

Diese offensichtliche Tatsache wurde schlicht deswegen übersehen, weil sie so offensichtlich ist – wir sind es gewohnt zu denken, dass die Einkommensungleichheit steigt, wenn der Kapitalanteil steigt. Ja, das stimmt – aber es stimmt deswegen, weil das Kapital so extrem konzentriert ist und daher der Anstieg einer solch extrem ungleichen Einkommensquelle die gesamte Ungleichheit erhöht.

Aber wenn der Kapitalbesitz weniger konzentriert werden würde, dann müsste der Anstieg des Kapitalanteils – der wegen internationaler Entwicklungen wie beispielsweise der Hinwendung Chinas zum Kapitalismus unvermeidlich sein könnte – nicht zwangsläufig zu einer steigenden Ungleichheit in den reichen Ländern führen.

Die Methoden zur Reduzierung der Kapitalkonzentration sind nicht neu oder unbekannt – sie wurden lediglich nie ernsthaft und konsistent angewendet. Wir können diese Methoden in drei Gruppen unterteilen. Erstens: Eine Steuerpolitik (inklusive eines garantierten Mindestertrages), die Aktienbesitz für kleinere und mittlere Aktionäre attraktiver macht (und weniger attraktiv für Großaktionäre, was eine Politik wäre, die genau dem Gegenteil dessen entspricht, was heute in den USA praktiziert wird). Zweitens: durch Mitarbeiterbeteiligungen oder andere Anreize auf Unternehmensebene. Drittens: durch die Erhebung von Erbschafts- oder Vermögenssteuern, um den Zugang zu Kapital auszugleichen, indem die Steuererträge verwendet werden, um jedem jungen Erwachsenen eine Kapitalsubvention zu geben (wie es Tony Atkinson vorgeschlagen hat).

Mehr Investitionen in öffentliche Bildung

Was müssen wir hinsichtlich der Arbeit tun? In reichen und gutausgebildeten Gesellschaften geht es nicht nur darum, den Bildungszugang von Menschen zu verbessern (obwohl das selbstverständlich auch wichtig ist), sondern vor allem darum, die Erträge anzugleichen, die ähnlich ausgebildete Menschen erzielen. In der Vergangenheit waren Unterschiede in der Dauer der Ausbildung eine wichtige Quelle für die Einkommensungleichheit. Heute lassen sich die Einkommensunterschiede trotz gleicher Ausbildungslänge auf die vermeintlichen oder tatsächlichen Unterschiede in der Qualität der Schulen zurückführen.

Um diese Ungleichheit zu reduzieren, muss die Qualität der Schulen angeglichen werden, was in den USA, aber zunehmend auch in Europa, eine Verbesserung der Qualität der öffentlichen Schulen impliziert (Bernie Sanders hat diesen Punkt während des US-Wahlkampfs betont). Dieses Ziel kann nur durch große Investitionen in den öffentlichen Bildungssektor und durch die Aufhebung der zahlreichen Vorteile (inklusive der Steuerfreiheit), die die privaten Universitäten genießen, erreicht werden.

Wenn die Rahmenbedingungen zwischen staatlichen und privaten Schulen nicht angeglichen werden, wird die alleinige Steigerung von Schuljahren oder der seltenen Möglichkeit für Kinder der unteren Mittelschicht, eine Elite-Universität zu besuchen, die Ungleichheit der Arbeitseinkommen nicht verringern.

 

Zum Autor:

Branko Milanovic ist Professor an der City University of New York und gilt als einer der weltweit renommiertesten Forscher auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Milanovic war lange Zeit leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank. Er ist Autor zahlreicher Bücher und von mehr als 40 Studien zum Thema Ungleichheit und Armut. Außerdem betreibt er den Blog Global Inequality, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist.