Es ist die Geschichte einer Gesellschaft, in der die Demokratie in Tribalismus und Tyrannei versinkt. Die Geschichte einer Zivilisation, die von Menschen aufgebaut wurde, die der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet waren und sich dann gegeneinander wenden und die Marginalisierten und Machtlosen zu Sündenböcken erklären. Letztendlich ist sie eine Erinnerung an die menschliche Barbarei, die unmittelbar hinter der zerbrechlichen Fassade des Anstands liegt.
Klingt bekannt? Richtig, es ist die Handlung des Herr der Fliegen, einer Geschichte über eine Gruppe von englischen Jungs, die einen Flugzeugabsturz überleben und auf einer Insel im Südpazifik von der Außenwelt abgeschnitten sind. Nach einer kurzen Periode der Harmonie wird die Gruppe durch einen Machtkampf zwischen ihren Anführern Ralph und Jack gespalten. Jack gewinnt, indem er verspricht, einen gemeinsamen Feind zu jagen und zu töten – eine befremdliche Erscheinung, die im Dschungel lebt und nur als das Biest bekannt ist. Es ist eine sehr erfolgreiche und spalterische Angst-Kampagne.
Der Herr der Fliegen wurde erstmals im Jahr 1954 veröffentlicht und war größtenteils eine Antwort auf den Aufstieg des Nationalsozialismus und den Horror des Zweiten Weltkriegs. Und in vielerlei Hinsicht richtet es sich auch direkt an die Welt des Jahres 2016, in der Austerität, Flüchtlingskrise, Brexit und der Aufstieg von Donald Trump nationalistische Leidenschaften und soziale Spaltungen schüren.
Angesichts der im Buch verwendeten rassistischen Sprache von der „Wildheit“ der Stämme werden sich bei zeitgenössischen Lesern völlig zurecht die Nackenhaare aufstellen. Sie zeigt das Versagen von Autor William Golding auf, dem es nicht gelang, über eine eurozentrische und kolonialistische Weltanschauung hinauszukommen. Aber unterm Strich ist die Botschaft des Buches, dass „Wildheit“ etwas Universelles ist: Sie ist nicht durch Ethnien oder Nationalitäten definiert. Das wiederum ist eine Moral, die uns dazu ermutigt zu reflektieren, wie der Rechtsextremismus wieder in die europäische und amerikanische Mainstream-Politik zurückkriechen konnte.
Die äußere Rechte bedient sich der populistischen Sprache vom nationalen Zugehörigkeitsgefühl, um Rassismus zu legitimieren. Egal ob Amerikas sogenannte „Alt-Right“-Bewegung, Frankreichs Front National, Großbritanniens UKIP oder die xenophoben „Leaver“ – alle zehren von der Unzufriedenheit über die Globalisierung, um Feinde im eigenen Land zu kreieren. Die Lösung für die komplexen ökonomischen und politischen Realitäten ist für diese Gruppen genauso simpel, wie das Biest zu jagen. Jack lebt in Trump, Le Pen und Farage weiter.
Die Stimme der Vernunft
Als Gegenstück zu Jacks Slogans und Schuldzuweisungen gibt es im Herr der Fliegen Piggy und Simon. Ersterer glaubt fest an den wissenschaftlichen Fortschritt, ihm ist aber auch bewusst, dass der menschliche Fortschritt ins Stocken gerät, wenn „wir vor Menschen Angst bekommen“. Piggy ist beeinträchtigt, nachdem die anderen Jungs seine Brille – sein Hilfsmittel für Weitblick und Klarheit – gestohlen haben, um damit ein Feuer zu entzünden. Sie verlieren die Kontrolle über die Flammen, der Brand zerstört Teile ihres neuen Zuhauses. Das Feuermachen repräsentiert nicht etwa den ersten Akt einer geeinten Zivilisation, sondern zerreißt die Gruppe. Letztlich wird Piggy durch Jacks Stamm getötet.
Wenn Piggy für den Fortschritt steht, dann symbolisiert Simon die Vernunft. Er weiß, dass das Biest nicht real und nur das Produkt der Angst der Jungen ist. „Wenn sich Simon das Biest vorstellte“, wird uns erzählt, „tauchte vor seinem inneren Auge das Bild eines zugleich heroischen und kranken Menschen auf.“ Trotz dieser Erkenntnis wird Simon als Schwächling angesehen und von den Anderen gemieden.
Nach einer einsamen Expedition entdeckt er, dass es bei dem Biest tatsächlich lediglich um einen toten Fallschirmspringer handelt – ein Opfer des weit entfernt tobenden Krieges, dessen Fallschirm ihn auf die Insel geweht hat. Simon kehrt zum Lager zurück, um den anderen davon zu berichten, aber die Vorstellungskraft der Jungen hat in ihnen ein blindes Verlangen nach Blut geweckt. Sie sehen in Simon nicht länger ein verbündetes menschliches Wesen, sondern eine Bedrohung für ihre Gesellschaft. Simons Schreie werden durch das „Zerbrechen von Zähnen und Klauen“ übertönt.
1962, während seiner Vortragsreise an amerikanischen Universitäten, diskutierte Golding die Gründe, warum er den Herr der Fliegen geschrieben hatte:
„My book was to say: you think that now the [Second World War] is over and an evil thing destroyed, you are safe because you are naturally kind and decent. But I know why the thing rose in Germany. I know it could happen in any country.“
So weit, so trostlos. Und dennoch, obwohl Golding die Neigung der Menschheit zu Vorurteilen deutlich aufzeigt, gibt es einen kleinen Funken Hoffnung. Auf der Flucht vor der von Jack angeordneten Menschenjagd trifft Ralph einen uniformierten Marineoffizier, dessen Schiff angelegt hatte, weil es den Rauch sah, der von der verbrannten Insel aufstieg. Während Ralph das „Ende der Unschuld“ beweint, dreht sich der Offizier um und lässt seinen Blick auf dem in einiger Entfernung liegenden Kriegsschiff ruhen. Das letzte Bild des Buches ist ein Moment der Selbstreflexion. Die „Wildheit“ und die von der rudimentären Zivilisation der Jungen verursachte Umweltkatastrophe liefert den Erwachsenen eine Vorstellung ihrer eigenen Torheit.
Die Moral von Der Herr der Fliegen besteht nicht nur darin, dass Barbarei keine Grenzen kennt. Sie lautet auch, dass die Ausbreitung von Barbarei durch das Bekenntnis zur Mitmenschlichkeit gestoppt werden kann. 1962 sagte William Golding:
„If humanity has a future on this planet of a hundred million years, it is unthinkable that it should spend those aeons in a ferment of national self-satisfaction and chauvinistic idiocies.”
Goldings Buch ist wahrscheinlich keine herzerwärmende Weihnachtsgeschichte, aber es schenkt uns das ungeschönte Porträt einer von Angst getriebenen Gesellschaft. Für die Leser aus dem Jahr 2016 ist Der Herr der Fliegen sowohl eine dringende Warnung als auch ein beschwörender Aufruf.
Zum Autor:
Matthew Whittle ist Teaching Fellow für zeitgenössische und postkoloniale Literatur an der University of Leeds.
Dieser Artikel wurde zuerst von The Conversation in englischer Sprache veröffentlicht und von der Makronom-Redaktion unter Zustimmung von The Conversation ins Deutsche übersetzt.