In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst Forum (früher piqd) eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. Formum.eu versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Chinas Bevölkerungs-Implosion – China vor dem Ende seiner Dominanz?
piqer:
Thomas Wahl
China gilt als ein militärischer und wirtschaftlicher Hauptakteur im Ringen um die Weltherrschaft. Aggressiv, wachstumsstark, nicht aufzuhalten. Geprägt von schnellen Innovationen im Alltagsleben und den verschiedenen Infrastrukturen. So berichtete Frank Sieren vor einiger Zeit in der WELT:
China hat in 15 Jahren das mit 40.000 Streckenkilometern größte Hochgeschwindigkeitszugnetz der Welt aufgebaut. Nun soll das Netz über Laos und Thailand bis nach Singapur erweitert werden. Im Februar 2022 fuhr bereits der erste Güterzug von Kunming in der chinesischen Provinz Yunnan via Laos bis nach Bangkok. In nur 55 Stunden, einen ganzen Tag schneller als bisher. Für Laos und Thailand ist es die erste Hochgeschwindigkeitsstrecke überhaupt – eine Zäsur für Südostasien.
Nicht nur für Reisende gelte:
Wer nicht der chinesischen Sprache mächtig ist, kann mit jedem normalen Smartphone und einer App Texte und Schilder scannen und erfährt Sekunden später, was darauf steht. Ebenso schnell kann das Handy gesprochene Sprache übersetzen – immer und überall, auch ohne WLAN. Die bereits hohe 5G-Abdeckung macht es möglich. Inzwischen sind chinesische Entwickler nicht mehr weit vom mobilen Simultanübersetzer entfernt, also vom berühmten Knopf im Ohr, der in Echtzeit Fremd- in Muttersprache übersetzt. Bis 2030 will China den 6G-Standard etabliert haben. Wer dann nach China reist, wird sich wahrscheinlich in einer völlig anderen Welt wiederfinden. …. Reisende werden dann die ersten Trassen nutzen können, auf denen Züge mit 800 Kilometern pro Stunde fahren, sie werden vom Flughafen zum Hotel in einer Drohne ohne Piloten fliegen. ….. Im April dieses Jahres hat die Regierung beschlossen, Shanghai und die Zehn-Millionen-Metropole Hangzhou werde bis 2035 mit einer Vakuumröhre verbunden, durch die dann Hochgeschwindigkeitszüge mit 800 Kilometern pro Stunde plus fahren können. Die Züge sollen so schnell werden, dass sie Flugzeuge ersetzen und so den Klimawandel bremsen. Eine Revolution in der Geschichte der Bahn.
Und doch hört man daneben immer wieder Analysen und Meinungen, wie folgt:
Was die Demografie betrifft, hat die Volksrepublik China das geopolitische Ringen mit Westen im Grunde schon verloren. Die Entwicklung ist dramatisch: Am Ende des 21. Jahrhunderts wird sich die Bevölkerung des Landes mehr als halbiert haben.
Ist das nur westliches Pfeifen im Wald, um die scheinbar immer drohendere Übermacht nicht sehen zu müssen? Einerseits scheint China die aktuelle Wirtschaftskrise zu überwinden, wenn auch langsamer als gedacht. Aber langfristig droht ein ganz anderes, katastrophales Szenario. Dazu Heribert Dieter im empfohlenen NZZ-Artikel:
Dabei schwebt über allen Zukunftsszenarien die tiefgreifende demografische Krise des Riesenlandes. China wird nicht nur alt, bevor es reich wird, es verliert auch wegen des sich beschleunigenden Bevölkerungsrückgangs das geopolitische Ringen um die globale Vorherrschaft mit den USA. Nach Prognosen der Uno, die im Juli 2024 veröffentlicht wurden, wird die Bevölkerung der Volksrepublik von gegenwärtig etwa 1400 Millionen Menschen auf rund 640 Millionen Einwohner im Jahr 2100 zurückgehen.
Eine solche Implosion der Bevölkerung kennt man eigentlich nur aus Kriegszeiten und den Pandemien des Mittelalters. Interessanterweise ist das die ungewollte Folge eines großen planerischen Eingriffes in die Gesellschaft, der selbst auf einer Bevölkerungsprognose beruhte:
Song Jian, ein Ingenieur und in den späten neunziger Jahren Präsident der Akademie der Ingenieurwissenschaften, und der Ökonom Tian Xueyuan sagten Ende der siebziger Jahre einen Anstieg der chinesischen Bevölkerung auf 4200 Millionen Menschen bis zum Jahr 2080 voraus und rieten der Regierung, drastische Massnahmen zur Dämpfung des Bevölkerungswachstums zu ergreifen. Das Ergebnis war die 1979 implementierte Ein-Kind-Politik, die mit zahlreichen einschneidenden Methoden die Geburtenraten in China senkte.
Der Erfolg war überwältigend und scheint nicht mehr zu stoppen. Die Geburtenraten bleiben auch nach der Aufhebung der Ein-Kind-Politik niedrig, die Gesellschaft altert dramatisch:
Im Jahr 2050 werden die über 60-Jährigen knapp 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Chinas von der Kulturrevolution ohnehin geschwächte konfuzianische Traditionen wurden mit der Ein-Kind-Politik mehr als nur untergraben. Die Familie, im konfuzianischen China stets sehr viel bedeutender als der Staat, verlor durch die Ein-Kind-Politik mangels Gewicht stark an Relevanz.
Ein Lehrstück für die Hybris solcher gewaltigen, ja gewaltsamen staatlichen Eingriffe in soziale Entwicklungen. Nebenwirkungen und ungewollte Rückkopplungen scheinen oft nicht beherrschbar. Wie Dieter konstatiert, ist dieser Prozess im Alltag schon spürbar. Die Erwartungen an die Zukunft gehen zurück, das Land wird depressiver. Wirtschaftliche Fehler, wie der völlig überzogene Immobilienboom, ziehen die Stimmung der Verbraucher nach unten – es wird weniger konsumiert.
Auch für seine geopolitischen Ambitionen braucht China eigentlich eine wachsende oder zumindest stabile Bevölkerung.
Das Paradebeispiel sind die Vereinigten Staaten, die Mitte des 19. Jahrhunderts gerade einmal 23 Millionen Einwohner hatten und heute mit rund 334 Millionen eine grössere Bevölkerung aufweisen als Deutschland, Frankreich, Italien, Polen und Grossbritannien zusammen. Während Chinas Bevölkerung schrumpft, werden sowohl die USA als auch der asiatische Rivale Indien bevölkerungsmässig wachsen.
In den USA wird laut Prognosen die Bevölkerung (vor allem durch Zuwanderung) auf 421,3 Millionen Menschen zum Ende dieses Jahrhunderts angestiegen sein. Der Unterschied zwischen der amerikanischen und der chinesischen Bevölkerung würde dann statt heute etwa 1.100 Millionen nur noch etwas über 200 Millionen Menschen betragen. Auch mit sehr viel Migration könnte China dies kaum aufhalten.
Man fragt sich, ob dies der chinesischen Führung in ihren Planungen wirklich bewusst ist? Ich denke mal ja. Aber was werden sie daraus ableiten? Noch schnell versuchen globale Machtpositionen zu besetzen – etwa in Taiwan?
Das Resümee des Artikels:
Glaubt man den vorliegenden Prognosen, haben Indien und die USA das Wettrennen mit der Volksrepublik China um weltweite Dominanz vermutlich schon heute gewonnen. China wird aussenpolitisch und wirtschaftlich einen langsamen und zähen Abstieg erleben. Der bereits jetzt erkennbare demografische Niedergang wird sich Mitte des Jahrhunderts deutlich beschleunigen. Ähnlich wie in Japan werden sich in China Stagnation und Verfall ausbreiten. Viele ältere Menschen werden auf sich allein gestellt in sozialer Isolation und mit geringer Unterstützung durch ihre Familien zu leben haben. Und ähnlich wie im Falle Japans wird bei China die Panik vor der aufsteigenden Übermacht der Sorge um eine Gesellschaft im Dämmer des Abstiegs weichen.
Selfies mit Faschisten: Die Jugend und die AfD
piqer:
Mohamed Amjahid
Die Jugend wird es schon richten? Beim Thema Rechtsextremismus scheint die Jugend eher Teil des Problems zu sein. Diese Reportage des ARD-Magazins Monitor zeigt, wie rechtsextreme Parteien und Vereine immer mehr extrem junge Menschen für sich gewinnen. In einigen Orten in Ostdeutschland sprechen sich bei Schüler*innenwahlen mehr als 50 Prozent der Jugendlichen für die AfD aus. Warum ist das so? Und warum ist es nun cool, mit Faschisten Selfies zu machen?
Naheliegend spielen soziale Medien dabei eine Rolle. Rechtsextreme Parteien und Politiker*innen haben es verstanden, junge Menschen dort „abzuholen“. Allerdings sitzen rechtsextreme und menschenfeindliche Einstellungen bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen tiefer: Während enttäuschte Jugendliche von der Politik und der Gesellschaft im Stich gelassen werden, werden sie von Rechtsextremen verführt, angelogen und gehirngewaschen. Oft leider mit Erfolg.
Vor allem in Teilen Ostdeutschlands hat sich in den vergangenen Jahren unter jungen Menschen eine Stimmung entwickelt, die mehr als nur alarmierend ist. Was geschieht politisch mit den Jüngsten in unserer Gesellschaft? Die Monitor-Reportage bietet einen erschreckenden Einblick, wie Kinder und Jugendliche in Deutschland auf den rechten Pfad gelangen.
Wie die Klimakrise die städtische Infrastruktur schädigt
piqer:
Ole Wintermann
Die Menschen in den Städten bekommen die Auswirkungen der Klimakrise zunehmend zu spüren. Starkregen setzt immer häufiger die Straßen unter Wasser, Stürme führen zu Schäden an Dächern und Autos. Am stärksten ist die Auswirkung jedoch bei Hitzewellen.
Dass die Städte wegen der Speicherung der Hitze auch in den Nächten zu Hitzeinseln werden, ist schon länger auch den BewohnerInnen der Städte bewusst. Die Auswirkungen sind aber deutlich vielfältiger, so der Beitrag in „Scientific American“. Hitze lässt Materialien unterschiedlich stark ausdehnen und führt zu Schäden in den Straßen, der Schieneninfrastruktur und Gebäuden. Die wärmere Luft in den Städten bereitet Flugzeugen, die auf innerstädtischen Flughäfen landen, größere Probleme. Der Kühlungsbedarf in Städten führt zu Energiespitzen, die aber in einer überhitzten Energieinfrastruktur schlechter bedient werden können. Wärmeres Trinkwasser in den Leitungen unter der Stadt führt zur Gefahr von Mikroben und der Loslösung von Chemikalien in den Leitungen. S-Bahnen, die beim Einfahren in den Tunnel heiße Luft vor sich herschieben und Gebäude, die ihre Hitze unterirdisch abgeben, führen zu unterirdischen Hitzeinseln.
Die Auswirkungen der Klimakrise lassen jedes Jahr unseren sogenannten materiellen Wohlstand ein Stück weit in der Sonne schmelzen – und wir machen uns weiter vor, wir könnten einfach so weiterleben…
Ein UN-Reformprogramm für Zukunftsfähigkeit
piqer:
Jürgen Klute
Am 22. und 23. September 2024 findet in New York ein Zukunftsgipfel der UNO statt. In einem Kommentar für die Wiener Zeitung „Der Standard“ hat UN-Generalsekretär António Guterres erläutert, weshalb aus Sicht der UN diese Gipfel nötig ist und welche Themen auf der Tagesordnung dieser Versammlung stehen. Guterres betont, dass etliche der globalen Institutionen und Instrumente Produkt der 1940er Jahre und somit nicht mehr auf der Höhe der Zeit seien. Dementsprechend sei ein Update nötig, das den heutigen veränderten politischen Realitäten und Konfliktlagen Rechnung trägt.
Waldbrände 2024: weit, weit außerhalb der Standardabweichung!
piqer:
Dominik Lenné
Wir lesen immer wieder über Waldbrände in diesem oder jenem Gebiet. Die Meldungen sind meist episodisch mit vielen Details über dieses spezielle Ereignis; globale und längerfristige Einordnung erfolgt nur knapp. Das erlaubt keine allgemeinen Aussagen. Z.B. sah 2023 gewaltige Feuer in Kanada, bei denen die fünffache Fläche eines durchschnittlichen Jahres verbrannt ist. Global war die verbrannte Fläche jedoch eher unterdurchschnittlich.
Hannah Ritchie von ourworldindata.org hat das globale Geschehen mit einer Kennzahl zusammengefasst: der gesamten in jedem Jahr verbrannten Fläche und in einer übersichtlichen Grafik dargestellt. Man sieht, dass dieses Jahr besonders ist: die Intensität der Feuer, erkennbar an der Steigung des Graphen, liegt weit über dem Streubereich der Kurven der vergangenen Jahre. Damit reiht sich dieser Parameter ein in zwei andere, die unerwartet hohe Werte zeigen: die Meerestemperatur und die globale Temperatur.
Die für diese zusätzlichen Waldbrände bedeutendsten Regionen sind:
- Zentralafrika: bis jetzt ca. 80 Mio. ha über dem Mittelwert von ca. 150 Mio. ha. Diese Feuer sind inzwischen weitgehend beendet. Der Anstieg der Waldbrände im zentralafrikanischen Regenwald wird seit einiger Zeit beobachtet. Er hat, wie fast alles, gemischte Ursachen: Erschließung, Entwaldung plus Klimakrise.
- Südamerika: bis jetzt ca. 40 Mio. ha über Mittelwert von ca. 30 Mio. ha.
Den Rauch dieser Feuer, die noch andauern, sieht man drastisch auf der Copernicus-Aerosol-Karte. Die Feuer selbst kann man näherungsweise auf dieser Hitzekarte sehen: Weite Teile des Kontinents sind mit roten Punkten gesprenkelt. Die Ursache ist logisch: Es war besonders warm, trocken und windig. Die neue brasilianische Regierung hat zwar die Entwaldungsrate vermindern können, aber auch verminderte Entwaldung ist immer noch Entwaldung. - Nordamerika: bis jetzt 6 Mio. ha über dem Mittelwert von ca. 15 Mio. ha.
Für die ganze Welt sind das ca. 120 Mio. ha über dem Mittelwert von 260 Mio. ha. (Die Summe ist niedriger, weil im Rest der Welt etwas weniger verbrannt ist als normal.) Die halbe Streubreite sind ca. 30 Mio. ha um den Mittelwert.
Wir liegen weit, weit außerhalb der Standardabweichung!
El Niño hat damit zu tun – aber diese Extreme traten bei früheren El Niños nicht auf.
Kommentar
Wir müssen uns immer vergegenwärtigen, dass wir erst am Ende des Anfangs der Klimakrise sind, und dass die Entwicklungen, die wir jetzt feststellen, sich über mindestens 50 Jahre weiter verschärfen werden. Höchstwahrscheinlich wird 2024 das zweite „wärmste Jahr“ in Folge – auch das besonders, weil seit 1980 im Mittel ungefähr vier Jahre zwischen zwei „wärmsten Jahren“ lagen.
Ja, es gibt Themen, die uns näher sind: Wirtschaft, Migration, Krieg, Covid-19, Demografie, Erstarken antidemokratischer Kräfte &c pp – und dann natürlich all unsere privaten Vorhaben und Schwierigkeiten. Andererseits geht es uns objektiv betrachtet generell noch gut. Wir müssen also in einen Geisteszustand kommen, in dem wir ruhig, engagiert und zielführend zur Lösung der Probleme beitragen können.
Bei 50 Grad Celsius weiterleben
piqer:
Rico Grimm
Die Financial Times war in diesem brutalen Sommer in den Golfstaaten, wo zu Spitzenzeiten 70% der erzeugten Energie für Kühlung draufgehen. Sie zeigt uns, wie die Menschen vor Ort mit der brutalen Hitze zu Recht kommen.
Es ist eindrücklich zu sehen, dass eine Frau in den extrem kalten Shopping-Centern „sich wieder auf den Winter freut“, weil es dann wärmer sei und die Fahrer der Lieferdienste kaum genug Wasser haben, um in der Mittagshitze überhaupt arbeiten zu können.
Hitze-Ungleichheit ist ein Begriff, den wir unser Vokabular aufnehmen müssen und was die Golfstaaten gerade erleben, ist die Zukunft, die viele andere Erdteile noch vor sich haben.
Polen – der unbekannte Wirtschafts-Champion?
piqer:
Thomas Wahl
Polens Staatsgebiet ist mit einer Fläche von 312.696 km² das neuntgrößte Land in Europa sowie mit knapp 37 Mio. Einwohnern auf Platz acht nach der Bevölkerungszahl. Polen ist ein ziemlich wohlhabendes Land. Aber es wird gerade wirtschaftlich immer noch unterschätzt. Wie Noah Smith richtig bemerkt, hat das Land die gefürchtete „Middle-Income Trap“ schon vor Jahren überschritten. Die These zu dieser Falle, in die Staaten mit mittleren Einkommen hineinlaufen können, besagt, dass es ein Land nach dem erfolgreichen Aufstieg zum Schwellenland oft schwer hat, den nächsthöheren Status eines Industriestaates zu erreichen und damit bei mittleren Einkommen dauerhaft hängen bleibt. Polen hingegen ist seit längerem ein Land mit hohem Einkommen (vgl. Grafik).
Polens wirtschaftlicher Aufstieg ist einer der bemerkenswertesten der Welt. Im Jahr 1991 war das Land nur ein Drittel so reich wie Länder wie das Vereinigte Königreich, Japan oder Spanien. Aber nach dreieinhalb Jahrzehnten fast ununterbrochenen Wachstums ist das Land fast so reich wie diese Länder und hat bereits Portugal und Griechenland überholt. Polen ist noch nicht so reich wie die Spitzenreiter – die USA, Singapur, die Schweiz oder Dänemark. Das Einkommensniveau ist in etwa so hoch wie das Amerikas im Jahr 1991, als der Aufstieg Polens begann.
Im Gegenteil zu Deutschland nimmt die polnische Industrialisierung zu. Wie die NZZ schreibt, entdecken nicht nur internationale Konzerne wie Mercedes-Benz, ABB, Intel oder Nestlé Polen als wichtigen Standort für die Fertigung sowie zunehmend auch für die Erbringung von Dienstleistungen im IT-Bereich.
In den vergangenen Jahren sind auch einheimische Unternehmer als Investoren verstärkt aktiv geworden. In der Regel handelt es sich um Zulieferer, die sich erfolgreich in einer Nische eine führende Position erarbeitet haben und grosse Konzerne aus dem Ausland zu ihren Kunden zählen.
Einen ähnlichen Prozess hat es damals während der Hochkonjunktur der 1960er und 1970er Jahre auch in westeuropäischen Ländern gegeben: der Aufstieg mittelständischer Unternehmen durch große Investitionen im eigenen Land.
Bei den meisten Firmen (in Polen) steht noch immer die erste oder höchstens die zweite Generation in der Verantwortung. Es sind hungrige Persönlichkeiten, die Grosses schaffen wollen. Von der depressiven Stimmung, wie sie in manchen Regionen Westeuropas herrscht, ist in Polen wenig zu spüren.
Wie die NZZ auch belegt ist die kaufkraftbereinigte Konsumkraft der polnischen Bevölkerung damit auf 86 Prozent des europäischen Durchschnitts gestiegen. Sie liegt leicht über dem Niveau Spaniens (85 Prozent) und nur knapp hinter dem Irlands (87 Prozent). Was unter anderem dazu führt, das Polen zu einem Land der Arbeitsmigration wird.
Weiterhin mit Abstand die grösste Gruppe unter den Immigranten bilden Ukrainer, viele von ihnen Kriegsflüchtlinge, vor Weissrussen. Angehörigen beider Nationen fällt es leicht, die polnische Sprache zu lernen. Die grosse Mehrheit von ihnen ist denn auch erwerbstätig. Aber auch Kasachen, Inder, Nepalesen und Filipinos arbeiten in wachsenden Gruppen in Polen.
Bei einer sehr niedrigen Geburtenrate von nur nur noch 1,16 wird das Land allerdings auch zukünftig noch mehr Einwanderung brauchen. Trotzdem ist zu erwarten, dass Polen nach dem nächsten EU-Finanzrahmens (2027 bis 2033) zum neuen Nettozahler werden könnte.
Wenn ein Land jahrzehntelang ein schnelles Wachstum vorweisen kann, stellt sich die Frage, ob und wie man das Wachstum weiter aufrechterhalten kann, um in den nächsten Jahrzehnten möglicherweise in die Spitzengruppe der reichen Länder aufsteigen zu können. Noah Smith gibt dazu Polen in dem von mir empfohlenen Text sechs „Anregungen“, aus denen man m.E. einiges über Polens Wirtschaft lernen kann:
- Im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg muß Polen seine Verteidigungsfähigkeit sicherstellen. Das bedeutet höhere Militärausgaben.
Polens Ausgaben werden in diesem Jahr voraussichtlich 5 % des BIP erreichen, verglichen mit nur 2 % in Deutschland – ….. Aber Geld ist nur ein Teil der Gleichung – Polen braucht die inländischen Produktionskapazitäten, um seine Waffen tatsächlich in großen Mengen herstellen zu können, anstatt nur zu hoffen, dass es die Waffen von jemand anderem beziehen kann. …. Dabei sind Drohnen und Raketen nicht nur für die Verteidigung unverzichtbar – sie sind auch ein potenziell lukrativer Markt in einer Welt, die sich auf einen neuen kalten Krieg vorbereitet und versucht, sich von China abzukoppeln.
Dies wäre also eine Chance für eine weitere polnische Wachstumsindustrie.
- Als zweites benötige Polen größere nationale Banken, die Venture- und Wachstumskapital bereitstellen können. Eine von Banken gestützte Industrialisierung sollte also ein weiterer Teil der mehrgleisigen Strategie sein.
- Polen hat alle grundlegenden Voraussetzungen, die für den Bau von E-Fahrzeugen erforderlich sind.
Wie bereits erwähnt, ist das Land der zweitgrößte Batteriehersteller der Welt. Jahrzehntelange ausländische Direktinvestitionen von Autokonzernen wie Volkswagen haben eine riesige Basis von polnischen Ingenieuren und Arbeitern mit fundierten Kenntnissen im Automobilbau geschaffen. Das Land verfügt auch über zahlreiche Unternehmen, die Elektromotoren herstellen. Inzwischen beeilt sich die Welt, Zölle auf chinesische Elektroautos zu erheben.
Mit den weltweiten Zöllen gegen die billigen chinesischen E-Autos wächst natürlich die Chance, eine eigene Industrie aufzubauen um europäische Märkte zu beliefern.
- Eine weitere Idee wäre es, ausländische Unternehmer und Erfinder bewusst anzureizen, in das Land zu kommen. Etwa nach dem Vorbild der USA, wo rund die Hälfte der großen Unternehmen von Migranten oder deren Kindern gegründet wurden.
- Als fünfte Anregung gibt Smith den Rat, Warschau zu einer Art von moderner Megalopolis zu machen, die die Menschen aus den dynamischen Regionen Asiens in die osteuropäischen Länder lockt. Womit sechstens auch tiefere Beziehungen etwa zu Südkorea und Japan aufzubauen wären.
Das Beispiel Polen zeigt sehr klar, wie stark Wirtschaftswachstum, Wohlstand und gesellschaftliche Dynamik von der Stimmung, den Erwartungen und dem individuellen Einsatz der einzelnen Bürger abhängt. Politik kann dabei hilfreich sein (oder nicht), ist aber nicht der Motor.
Warum sind so wenige aktuelle Aufstände erfolgreich?
piqer:
Dirk Liesemer
Ich hadere ein wenig mit dieser Empfehlung: Einerseits finde ich die Frage, warum die vielen aktuellen Aufstände in aller Welt so selten einen Wandel zum Bessern bewirkt haben, spannend. Aber es gibt doch etliche Punkte, denen ich widerspreche. Vielleicht ist das jedoch gut für eine Diskussion.
Es geht in diesem gut 20minütigen Radiofeature um das Buch „If we burn“ des US-Journalisten Vincent Bevens. Dieses untersucht Gemeinsamkeiten der Aufstände in Brasilien, Tunesien, Ägypten, den USA, Chile und Südkorea, von denen Bevens einige aus der Nähe miterlebt hat. Was also verbindet sie? Und warum sind sie letztlich gescheitert?
Folgende zwei Punkte des Features will ich nicht unkommentiert stehen lassen: Erstens die Behauptung, dass es eine Entwicklung von sozialen Revolutionen (1789 in Frankreich und 1918 in Russland) hin zu bürgerschaftlichen urbanen Revolutionen gegeben habe. Klingt als These gut, ist aber merkwürdig, schließlich fand die Revolution von 1789 nicht irgendwo auf dem Land, sondern mitten in Paris statt und wird allgemein als bürgerliche Revolution charakterisiert (der dritte Stand, also die Bauern, profitierte nicht davon). Und was die russische Revolution angeht: Auch sie fand mitten in der damaligen Hauptstadt Sankt Petersburg statt – war also urban. Zwar ging es dort 1917 auch um sozialen Fragen (Hunger), aber das war 2011 in Tunesien kaum anders, wo sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der die Revolution in Gang setzte, bekanntermaßen fernab des (urbanen) Tunis selbst verbrannte.
Und zweitens halte ich die Behauptung, dass vor allem mangelnde Repräsentation zu den aktuellen Massenprotesten führt, allenfalls für die halbe Wahrheit. Entscheidender dürfte sein, dass autoritäre Staaten, wo die vehementesten Aufstände stattfinden, über keine internen Mechanismen verfügen, um Konflikte friedlich beizulegen. Fraglich ist auch, ob man Aufstand, Protest und Revolte einfach so in einen Topf werfen sollte.
Gleichwohl ist der Beitrag von Uli Hufen und Kathrin Kühn hörenswert, weil er einen darüber nachdenken lässt, warum so viele Aufstände trotz allem anfänglichen Optimismus letztlich ihre Ziele nicht erreichen. Sicher nicht falsch ist die Beobachtung, dass viele Proteste von Gruppen gekapert werden, die ganz andere Ziele haben als die ursprünglichen Demonstranten. Mal sehen, wie sich die Vergleichende Revolutionsforschung weiterentwickeln wird.