Warum sind manche Länder reich und andere arm? Das ist eine der zentralen Fragen, mit denen sich die Makroökonomie beschäftigt. Einigkeit besteht darüber, dass technologischer Fortschritt eine zentrale Rolle für die Einkommensunterschiede zwischen Ländern spielt. Weniger klar ist hingegen, woher dieser technologische Fortschritt kommt.
Die neoklassische Wachstumstheorie, die maßgeblich von Robert Solow beeinflusst war und die Makroökonomie ab den 1960er Jahren dominierte, hatte eine einfache Antwort: technologischer Fortschritt ist einfach da. Niemand produziert ihn vorsätzlich, niemand verdient speziell daran.
Technologischer Wandel als Bestandteil der Wachstumstheorie
Erste Ansätze, technologischen Fortschritt innerhalb eines schlüssigen Wachstumsmodells zu erklären, entstanden in den 1980er Jahren. Paul Romer hatte bereits für diese Modelle wegweisende Beiträge geliefert. Sie sahen technologischen Fortschritt zunächst als Beiprodukt von Investitionen, also von Kapitalakkumulation. Das war zwar intellektuell auch nicht besonders reizvoll, die daraus erwachsende mathematische Modellierung blieb aber einigermaßen handhabbar.
Andere makroökonomischen Theorien versuchten sinnvollerweise, technologischen Fortschritt als Ergebnis vorsätzlicher Forschungsanstrengungen auszudrücken. Dabei bereitete aber eine zentrale Eigenschaft von Innovationen in der theoretischen Modellierung Probleme: dass Forschungserkenntnisse unendlich oft angewandt werden können, ohne dass jede Anwendung ihre zukünftige Produktivität verringert. Dass Sie diesen Artikel lesen, beeinträchtigt den nächsten Leser nicht. Den Strom, den Ihr Computer oder Ihr Smartphone dabei verbraucht, kann die nächste Leserin hingegen nicht mehr nutzen. Die Volkswirtschaftslehre war es gewohnt, vor allem stromähnliche „rivalisierende“ Güter zu behandeln – wie sollte sie mit nicht-rivalisierenden Gütern wie Forschungserkenntnissen umgehen?
Das Konzept des unvollständigen Wettbewerbs
Der Durchbruch gelang Paul Romer Ende der 1980er Jahre, als er das Konzept des unvollständigen Wettbewerbs in die Wachstumstheorie einführte. Dieses hatte sich in der Handelstheorie und Industrieökonomik der 1980er Jahre weitgehend durchgesetzt und brach mit der bis dato vorherrschenden Idee eines vollständigen Wettbewerbs mit gleichberechtigten Produzenten. Stattdessen lieferte das Konzept des unvollständigen Wettbewerbs eine relativ einfache mathematische Beschreibung von Märkten, auf denen Unternehmen für gewisse Zeit Monopolprofite machen. Im Modell von Romer erwirtschaften sie diese, indem sie zuerst in Forschung und Entwicklung investieren und dort „Designs“ entwerfen: Wer als erstes ein mobiles Smartphone entwirft, hebt sich von der Konkurrenz ab und erwirtschaftet so einen Monopolprofit. Gleichzeitig werden neue Designs Teil des gesellschaftlichen Wissensstocks und beschleunigen so den technologischen Fortschritt.
Dies mag aus heutiger Sicht trivial klingen. Eine mathematisch stringente und handhabbare Formalisierung dieses Gedankens ist allerdings alles andere als banal und weitgehend das Verdienst Romers. Und mathematische Formalisierung ist in der Volkswirtschaft sehr verbreitet, weil sich dadurch Annahmen und Schlussfolgerungen auf ihre Folgerichtigkeit überprüft werden können – es macht eben einen Unterschied aus, ob man nur glaubt, dass etwas so und so ist, oder ob man es weiß.
Zu viel oder zu wenig Marktmacht?
So ergibt sich etwa aus dem Romer-Modell eine nicht-triviale Einsicht in Bezug auf Marktmacht. Hohe Marktmacht der Unternehmen führt einerseits dazu, dass mehr in Forschung investiert wird, da sich damit höhere Profite realisieren lassen – der technologische Fortschritt beschleunigt sich. Andererseits führt diese Marktmacht auch dazu, dass bestehende Ressourcen nicht vollständig ausgenutzt werden, um Preise und damit Monopolprofite hoch zu halten. Eine Gesellschaft, die das allgemeine Einkommensniveau maximieren möchte, muss also eine gewisse Marktmacht zulassen, darf diese aber nicht zu groß werden lassen. Insofern ist es gut und eigentlich überfällig, dass die Frage nach unternehmerischer Marktmacht in den Medien, unter ÖkonomInnen, und auch bei IWF und EZB jüngst an Fahrt aufgenommen hat.
Eine weitere Implikation des Romer-Modells ist, dass Unternehmen zu wenig in Forschung und Entwicklung investieren, als aus volkswirtschaftlicher Sicht wohlfahrtsmaximierend wäre. Das ergibt sich aus der „Zwieschlächtigkeit“ von technologischem Fortschritt: auf der individuellen Firmenebene der Güterproduktion sind Produktdesigns ein rivalisierendes Gut ohne Skalenerträge – aber auf der gesellschaftlichen Ebene der Wissensproduktion ist der technologische Fortschritt nicht-rivalisierend und weist Skalenerträge auf. Bleibt der Markt sich selbst überlassen, kommt es selbst in der langen Frist zu keiner optimalen Ressourcenallokation und Politikintervention kann eine sogenannte „Pareto-Verbesserung“ bewirken, also zumindest einen Marktteilnehmer besserstellen, ohne dass andere Teilnehmer dadurch verlieren.
Romer und das Kapital im 21. Jahrhundert
Zumindest zwei Aspekte machen Romers Arbeiten für die gleichzeitige Analyse von Wachstum und funktionaler Einkommensverteilung interessant. Einerseits findet sich bereits in Romers frühen Modellen die Tendenz, dass sich die Kapitaleigner nicht den technischen Fortschritt aneignen können, den sie durch Investitionen befördern – zumindest nicht im Rahmen neoklassischer Annahmen. Dies öffnet theoretischen Spielraum für verschiedene Verhandlungsmodelle für die Verteilung zwischen Kapitaleignern und ArbeitnehmerInnen.
Zweitens fällt in Romers Modell die Rendite des Kapitals nicht mit zunehmender Kapitalakkumulation, was eine Verletzung neoklassischer Standardannahmen ist. Dieser Effekt wird in der einflussreichsten Arbeit Romers nochmals zugespitzt. Hier gibt es verschiedene Verwendungsmöglichkeiten von Kapitalvarietäten: Kapital kann etwa in Form einer Produktionsanlage für ein neues Gadget wie ein Tablet auftreten, oder als Fabrik zur Erzeugung eines neuen Medikaments. Auch das mag trivial klingen, es ist aber nicht einfach in ein formales Modell zu integrieren und hat innerhalb desselben weitreichende Konsequenzen: Kapitalakkumulation im Tablet-Bereich hat keinen Effekt auf die Rendite von Kapital im Medikamentenbereich.
Dies ist letztlich auch eine der zentralen theoretischen Referenzpunkte von Thomas Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“. In seiner Kritik der neoklassischen Produktionsfunktion argumentiert Piketty für eine Substitutionselastizität von Kapital und Arbeit, die langfristig größer als 1 ist: eine Situation also, in der es viele verschiedene Anwendungsmöglichkeiten von Kapital gibt. Aber Piketty hat keine theoretische Alternative zur neoklassischen Standard-Produktionsfunktion angeboten, worauf auch De Long, Boushey, und Steinbaum aufmerksam machen. Vielleicht noch schwerer wiegt, dass er letztlich – wie die Wachstumstheorie der 1980er Jahre – in einem Theoriegerüst vollkommener Konkurrenz verhaftet bleibt.
Suresh Naidu hat diesen Aspekt als „domestizierten Piketty“ bezeichnet, bei dem die Politik eine passive Rolle einnimmt. Tatsächlich spielen Politik und Institutionen über Regulierung und Marktstrukturen jedoch eine wichtige verteilungspolitische Rolle. Um diese zu analysieren, bietet Romers Modell wiederum sinnvolle Anknüpfungspunkte, da darin der private Ertrag einer Investition vom gesellschaftlichen Ertrag verschieden ist, woraus die Frage erwächst, wer Innovation kontrollieren und wem das Einkommen daraus zukommen soll. Damit drängen sich die Ausgestaltung von Patentrechten und Marktmacht als Schauplätze für verteilungspolitische Fragen auf. Verteilungspolitik bleibt somit nicht länger eine Frage nach der Aufteilung des Kuchens, es geht um die Bäckerei.
Automatisierung und Digitalisierung: nach Romer und Piketty
Durch die zunehmende Automation der Produktion (etwa durch Robotik) und im Zuge digitalisierter Auswertung personenbezogener Information (wie Kauf- oder Internetsuchverhalten) gewinnen Fragen der Ausgestaltung von Eigentumsrechten und Marktmacht im Technologiesektor und deren Verteilungswirkungen zusätzliche Aktualität. Zahlreiche makroökonomische Arbeiten untersuchen etwa, wie Automation mit traditionellen Produktionsfaktoren interagiert und welche Wachstums- und Verteilungseffekte sich daraus ergeben. Die Notwendigkeit, diese Prozesse besser zu verstehen und Folgen für die Einkommensverteilung abzuschätzen, ist unbestritten. Gleichzeitig stellt sich aber die bisher akademisch weniger beachtete Frage, wie Marktmacht und Eigentumsverhältnisse unter den zugrundeliegenden Produktionsfunktionen, die stark von Skalenerträgen und positiven externen Effekten geprägt sind, optimal ausgestaltet werden können.
Im Bereich der politischen Regulierung digitaler Technologiekonzerne haben Fragen von Marktmacht und Eigentum hingegen in der EU an Bedeutung gewonnen. Dies ergibt sich zum Teil notgedrungen, weil jegliche Regulierung des Datenschutzes (wie die DSVGO) die Frage beantworten muss, wem diese Daten eigentlich gehören. Es kann aber auch als Zeichen erhöhter Wettbewerbssensibilität in diesem Bereich gesehen werden. Letztlich zeugen auch europäische Initiativen im Bereich des freien Zugangs zu Forschungsergebnissen (wie z. B. der „Plan S“) von der zunehmenden Bereitschaft, Eigentumsfragen in zentralen Bereichen technischer Innovation neu zu überdenken und zu regulieren.
Aus ökonomischer Sicht stellt sich in Hinblick auf Politikimplikationen abschließend die Frage, ob Romers Beschreibung volkswirtschaftlicher Produktion und Innovation in Zeiten von Automatisierung und Digitalisierung noch zeitgemäß ist. Die Tatsachen, dass etwa Konsum durch die Analyse personenbezogener Konsumdaten relevante externe Innovationseffekte aufweist und dass Automatisierung als Möglichkeit angesehen werden kann, menschliche Arbeitskraft zu akkumulieren, lässt diesbezüglich Zweifel aufkommen. Doch auch wenn Romers Theorie den modernen Produktions- und Innovationsprozess nurmehr ungenügend beschreibt – weiterhin zeitgemäß und notwendig ist ihre intellektuelle Klarheit und Scharfsinnigkeit in der Analyse, auf welcher Ebene einer Volkswirtschaft Produktionsfaktoren Skalenerträge und externe Effekte aufweisen, rivalisieren, oder ausschließbar sind.
Zum Autor:
Konstantin M. Wacker ist Assistenzprofessor an der Universität Groningen. Auf Twitter: @KM_Wacker