In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Die Viertagewoche – Segen oder Gefahr
piqer:
Thomas Wahl
Im Gespräch diskutieren Marcel Fratzscher (Präsident DIW Berlin) und Michael Hüther (Direktor des IW) die Frage einer Viertagewoche in der zukünftigen Arbeitswelt. Die Meinung des ifo Instituts vertritt Clemens Fuest in einem gesonderten Artikel. Womit drei wichtige deutsche Ökonomen zu Wort kommen.
Eine Viertagewoche kann natürlich sehr Verschiedenes meinen. Man kann die ursprüngliche Wochenarbeitszeit auf vier Tage verdichten. Man kann aber auch an vier Tagen weniger Wochenstunden arbeiten und das mit oder ohne Lohnausgleich. Wobei auch Modelle möglich sind, die weder auf feste Arbeitstage setzen noch auf Stundenzahl – das Ergebnis zählt.
Fragt man die Arbeitnehmer nach ihrem Wunschwochenpensum, zeigt sich, dass die meisten eher weniger Zeit im Job verbringen wollen. Laut Sozio-oekonomischem Panel wünschen sich die Menschen in Deutschland im Schnitt eine wöchentliche Arbeitszeit von 32,8 Stunden.
Das ist sogar etwas mehr als die vom IAB angegebene durchschnittliche Wochenarbeitszeit aller Berufstätigen von gut 30 Stunden. Aber es sind vor allem Berufstätige in Vollzeit, die ihr Arbeitspensum von gut 38 Stunden gerne reduzieren würden. Was aber spricht für eine kürzere Arbeitswoche? Dazu Hüther:
Wenn die Leute weniger arbeiten wollen, dann ist das Grund genug. Allerdings wird in den Diskussionen eine Münchhausen-Lösung vorgeschlagen: Es wird suggeriert, dass wir weniger arbeiten, aber das Gleiche herausbekommen können. Doch es gibt nichts umsonst: Wer weniger arbeitet, muss mit weniger Verdienst auskommen – oder belegen, dass seine Leistung entsprechend steigt.
Klar ist für ihn auch, mit der demografischen Entwicklung und der unzureichenden Zuwanderung von Fachkräften ist das derzeitige Arbeitszeitvolumen aller Erwerbstätigen kaum zu halten. Zumal es in den vergangenen drei Dekaden nur geringe Produktivitätszuwächse gab, obwohl Deutschland mitten in der digitalen Transformation ist. Dazu kommt:
Ein Erwerbstätiger in Vollzeit arbeitet bei uns jährlich knapp 300 Stunden weniger als entsprechende Beschäftigte in der Schweiz oder in Schweden. Das Jahresarbeitszeitvolumen ist eines der geringsten weltweit. Dennoch argumentieren Leute, dass wir aus Stressgründen weniger arbeiten sollen? Das kaufe ich nicht. Wir müssten schon gesünder als die meisten sein.
Fratzscher sieht das deutlich entspannter. Er ist sich sicher,
dass es kein Nullsummenspiel ist, wenn Menschen weniger arbeiten. Empirische Studien zeigen recht eindeutig, dass eine geringere Arbeitszeit die Produktivität erhöht, Zufriedenheit und Motivation verbessert und zu weniger Krankheitstagen führt. Der Schlüssel ist, den vielen Millionen Beschäftigten – meist Frauen –, die in Teilzeit arbeiten und gerne mehr arbeiten möchten, die vielen Hürden aus dem Weg zu räumen.
Das ifo Institut sieht aber das Problem durchaus auch beim Lohnausgleich, wenn die Arbeitszeit verkürzt wird:
…. hier wird es ökonomisch heikel: Die Arbeitszeit bei unverändertem Monatslohn um ein Fünftel zu kürzen, würde einer Erhöhung des Stundenlohns um 25 % entsprechen. Für die Unternehmen wäre das nur dann finanzierbar, wenn die Produktivität der Beschäftigten im gleichen Umfang steigen würde – sie also an vier Tagen das leisten, wofür sie heute fünf Tage brauchen.
Zwar zeigten Studien, dass die Leistungsfähigkeit nach mehr als acht Stunden am Tag in der Regel deutlich sinkt. Aber dieses Pensum ist auch nicht die Regel in Deutschland. Sicher, die Ausweitung freier Zeit ist ein legitimes Ziel. Man kann es auch als Konsumgut verstehen, das Nutzen und damit Wohlstand stiftet. Das heißt, wenn
Menschen sich für ein Leben mit mehr Freizeit und weniger Konsum von Gütern und Dienstleistungen entscheiden, ist das ökonomisch weder falsch noch irrational – und dennoch ein gesamtwirtschaftliches Problem. Denn wer Arbeitseinkommen erzielt und es für Konsum ausgibt, trägt mit Steuern und Abgaben zur Finanzierung des Staatshaushalts und der Sozialkassen bei. Wer seine Freizeit genießt, tut das nicht.
Durch die Umlagefinanzierung etwa der Rentenversicherung würden sinkende Arbeitseinkommen infolge der Viertagewoche auch zu sinkenden Renten führen. Ähnliches gilt bei der Kranken- und Pflegeversicherung. Mit sinkenden Einnahmen die wachsende Zahl älterer Menschen angemessen zu versorgen, ist kaum möglich, so Clemens Fuest.
Kommen wir zur oft propagierten Steigerung der Produktivität, wie sie angeblich eine britische Studie bei 60 Unternehmen, die vorübergehend die Viertagewoche bei vollem Gehalt eingeführt hatten, nachgewiesen haben soll. Dort soll die Produktivität im Vergleich zur Fünftagewoche sogar gestiegen sein. Dazu sagt der IW-Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer:
Bei diesem Versuch ist die Produktivität gar nicht gemessen worden, lediglich der Umsatz. Aber der ist kein geeignetes Maß für die Produktivität, denn Umsätze kann ich beispielsweise auch konstant halten, indem ich Leistungen extern zukaufe.
Zugespitzt formuliert er:
Es gibt keinen Beleg dafür, dass die Arbeitszeitverkürzung ursächlich ist für eine Produktivitätssteigerung: Auch beim Versuch in England, wo die Unternehmen berichtet haben, dass die Arbeit produktiver wurde, beruhte das auf Maßnahmen wie dem Kürzen und Weglassen von Meetings. Das sind Dinge, die man natürlich auch ohne Arbeitszeitverkürzung hätte umsetzen können.
Dann stünden Unternehmen, die eine dadurch steigende Produktivität für eine steigende Wettbewerbsfähigkeit nutzen, die besonders im internationalen Wettbewerb notwendig ist, Unternehmen gegenüber, die diese Steigerung in weniger Arbeit mit Lohnausgleich umsetzen. Die Frage ist, wer überlebt länger?
Die Frage, ob die Viertagewoche Segen oder Gefahr ist, kann man also klar mit „kommt drauf an“ beantworten. Die Volkswirtschaft ist kein Perpetuum mobile. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich erfordert große Produktivitätsfortschritte, die nicht wirklich absehbar sind. Auch wenn viele Tätigkeiten mit Bullshit-Charakter abgeschafft werden können. Besonders bei dem demografisch sinkenden Arbeitskräftepotenzial sehe ich Probleme mit einem ggf. volkswirtschaftlich sinkenden Arbeitsvolumen. Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Rationalisierung würde sicher helfen, die Zufriedenheit zu steigern. Und falls es Deutschland gelingt, die Digitalisierung und Entbürokratisierung in einen echten Produktivitätssprung umzusetzen, ja dann wäre evtl. auch weniger Arbeiten bei steigenden Löhnen eine Option. Aber wenn die Prognose von Clemens Fuest stimmt, wird das dauern. Er warnt
vor einer Phase „mageren Wachstums“ für Deutschland. „Es wird leider kein Wirtschaftswunder geben, sondern eher etwas in Richtung Schweiß und Tränen“, sagte er dem „Handelsblatt“. Fuest widersprach damit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der aufgrund der Investitionen im Zusammenhang mit dem ökologischen Umbau von einem „neuen Wirtschaftswunder“ gesprochen hatte. „Da sollten wir uns nichts vormachen“ …
Ernster Gegner für die AfD: Sarah Wagenknecht (vielleicht)
piqer:
Rico Grimm
In den letzten Wochen wurde wieder sehr sehr viel über die AfD diskutiert, weil sie so gute Umfragewerte im Augenblick hat. Zentrale Frage vieler Analysen: Was hilft dagegen? Wer kann den Rechtspopulisten das Wasser abgraben. Es gibt grundsätzlich zwei Strategien:
1. Ignorieren. Eigene Themen setzen und gut regieren.
2. Kopieren. Themen der AfD aufgreifen und versuchen, deren Wähler zu sich zu holen.
Mit der zweiten Strategie liebäugeln große Teile der Friedrich Merz-CDU. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass sie eher dazu führt, dass die AfD gestärkt wird. Ihre Themen übernehmen und ihre Wähler abnehmen funktioniert nicht. Die Kopie ist nicht interessant.
Sollte allerdings die Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht eine eigene Partei gründen – das zeigt die Analyse, die ich heute empfehle – würden wir noch eine weitere Strategie quasi als Live-Experiment beobachten können. Es wäre eine Mischung aus eigenen Themen und Kopie. Denn Wagenknechts Partei wäre gesellschaftlich konservativ (wie die AfD) und wirtschaftspolitisch links (wie die Linken).
Carsten Braband zeigt im linken Magazin Jacobin sehr gut, welche Folgen diese Neugründung haben könnte. Überblickshaft:
- Indirekte Schwächung von Union und FDP und Stärkung der AfD
- Noch tiefere Spaltung der unteren Mittelschichten und Arbeiterschaft
- Schichtenübergreifend Konservative von anderen Parteien abwerben
Letztlich hält Braband die Neugründung aber für einen strategischen Irrweg:
Wenn linke Parteien in der Geschichte konservative Arbeiterinnen für sich gewannen, taten sie das nicht, indem sie sich kulturell konservative Programmpunkte aneigneten. Sie sprachen auch diese Menschen als die Arbeiter an, als die sich viele von ihnen in Abgrenzung zu »denen da oben« – den Reichen, den Konzernen und der herrschenden Politik – auch heute noch sehen.
Wie finanziert die Ukraine die Abwehr des russischen Angriffs?
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Jürgen Klute
Über das Geschehen an der Front im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wird regelmäßig in bundesdeutschen Medien berichtet. Und wer einen direkten Einblick in die Geschehnisse sucht, der wird auf social media fündig.
Weniger wird hingegen über die nicht ganz so unmittelbar sichtbaren Folgen des Krieges berichtet: über die ökonomischen Folgen. Die hat sich Justin Turpel für die Luxemburger grün-linke Zeitung WOXX genauer angeschaut. Demnach ist das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine in Folge des russischen Angriffs um 30 Prozent eingebrochen und die Inflation auf über 26 Prozent Ende 2022 gestiegen. Um die Versorgung und die Verteidigung der Ukraine sicher zustellen, bedarf es massiver Unterstützung anderer Länder. Dazu haben die Gläubigerländer im März 2023 ein Abkommen mit der Ukraine vereinbart.
Turpel analysiert dieses Abkommen und zeichnet nach, was es auf Dauer für die Ukraine für langfristige Folgen mit sich bringt. Die Gläubigerländer drängen die Ukraine dabei vor allem zu sozial- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die zulasten der von diesen Politikfeldern geschützten gesellschaftlichen Gruppen gehen.
Turpel verweist in seinem Beitrag daher auch auf eine westliche Gegenreaktion auf diese Maßnahmen. Das „Comité pour l’abolition des dettes illégitimes“ (CADTM), so zitiert Turpel den internationalen Sprecher des Komitees, Eric Toussaint, fordert stattdessen einen Schuldenerlass für die Ukraine, damit diese sich eigenständig entwickeln kann.
Der Artikel zeigt auf, dass der russische Überfall auf die Ukraine das Land in eine dauerhafte ökonomische (und damit auch politische) Bindung an den Westen gedrängt hat – genau das Gegenteil dessen, was der Krieg aus russischer Sicht bezwecken sollte. Allein eine derzeit sehr unwahrscheinliche Wende im Krieg zugunsten der russischen Aggressoren könnte das noch verhindern.
Wie die Pandemie Innovationen hervorgebracht hat
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Ole Wintermann
Die Coronapandemie und wie wir auf sie reagiert haben, wie Unternehmen sich auf veränderte Geschäftsbedingungen eingestellt haben, könnte stilbildend im Umgang mit der sich beschleunigenden Klimakrise sein. Im verlinkten Beitrag der New York Times geht es darum, in welcher Weise die Pandemie Firmen dazu gezwungen hat, neue Wege zu gehen und in welcher Weise diese neuen Wege inzwischen – in der Zeit nach dem offiziellen Ende der Pandemie – die Existenz der Firmen absichern helfen.
Zum einen gibt es das Beispiel einer Firma für Event-Ausrüstung, die sich schnell auf Outdoor-Aktivitäten verlegt hatte und die Event-Technik in einem Wald installiert und nächtliche Spaziergänge durch den beleuchteten Wald angeboten hat. Zum anderen gibt es den Apotheker, der zu Beginn der Pandemie einen Bring-Dienst eingerichtet hat und im weiteren Verlauf seine Apotheke um eine Impfstation ergänzt hat – eine Geschäftstätigkeit, die er nach wie vor verrichtet. Und auch die Raumpflegerin, die durch die Pandemie gezwungen war, von Privat- auf Firmenkunden umzustellen und sich damit selbstständig zu machen, ist ein Beispiel für den Unternehmergeist, den es gilt, wieder stärker zu wecken.
All diese Geschichten sollten uns etwas Hoffnung geben, dass die anstehende Klimakrise Innovationen hervorbringen wird, an die wir derzeit noch gar nicht denken (können). Wobei es allerdings ausdrücklich kein Vorgehen sein kann, sich allein auf Innovationen zu verlassen.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Das Leben in den Banlieues von Paris
piqer:
Jürgen Klute
Am 3. Juli 2023 hat Achim Engelberg unter dem Titel „Gestern & Heute: Brennender Asphalt in Frankreich“ hier einen piq zu den gewalttätigen Konflikten in den Banlieues in Frankreich veröffentlicht.
Dazu passt dieses Interview der ZEIT-Journalistin Annika Joeres mit dem Fotografen William Keo, auf das ich heute gestoßen bin, recht gut. Keo kommt aus den Banlieues von Paris. In dem Interview, in das einige seiner Fotos aus den Banlieues eingebaut sind, spricht er über das Leben in den Pariser Wohnstädten, darüber, was aus seiner Sicht und Erfahrung falsch gelaufen ist und weshalb es erneut zu diesen Konflikten in den letzten Tagen und Nächten gekommen ist.
Dieses gut geführte und geschriebene Interview gewährt einen tiefen und empathischen Einblick in das Leben in den Banlieues und deutet an, mit welchen konkreten Schritten die Situation zum Besseren verändert werden könnte.
Wie KI-Anwendungen die Kreativindustrie verändern
piqer:
Antje Schrupp
„Künstliche Intelligenz“ ist zwar der falsche Begriff, denn die automatisierten Verfahren, mit denen Computerprogramme heute Texte, Bilder, Musik und andere Kreativinhalte in Sekundenschnelle auswerfen können, haben nichts mit Intelligenz zu tun, sondern lediglich mit komplexen Algorithmen. Dennoch haben sie das Potenzial, die Kreativindustrie grundlegend zu verändern. Arbeitsabläufe verschieben sich, neue Berufsbilder entstehen – zum Beispiel „Prompt Artists“, also Leute, die Abfragen so formulieren können, dass das Programm die gewünschten oder möglichst interessante Ergebnisse auswirft – während andere Berufsbilder womöglich bald verschwinden.
Die Frage, ob das nun ein neues Level von Kreativität bedeutet oder im Gegenteil das Ende künstlerischer Freiheit, ist womöglich weniger interessant als die, welche konkreten Einsatzmöglichkeiten es gibt und wie sich das Verhältnis von menschlicher Originalität und automatisierten Prozessen in Zukunft einpendelt. In diesem Artikel kommen zahlreiche Fachleute mit ihren Einschätzungen und Erfahrungen zu Wort: informativ und lesenswert!
Die wundersame Welt gefälschter Designer-Handtaschen
piqer:
Rico Grimm
Oh mein Gott – es gibt immer wieder Texte, von denen ich vorher nicht wusste, wie spannend ich sie finde. Das hier ist so einer. Er ist leider nur auf Englisch, aber durch und durch unterhaltsam. Die Reporterin Amy X. Wang vom NY Times Magazine nimmt uns mit in die düstere, kriminelle Halbwelt gefälschter Handtaschen, wo 10.000-Dollar-Handtaschen für nur 200 Dollar als Kopie verkauft werden und so gut sind, dass Profis sie manchmal nur erkennen können, weil eine verdeckte Naht im Inneren der Tasche einen Stich mehr hat als das Original.
Besonders bemerkenswert: Es gibt auch in der Fälscher-Industrie Labels, die bei den Kunden für besonders hohe Qualität stehen. Diese Labels können mehr verlangen als der Durchschnitt – aber immer noch deutlich weniger als die Designermarken.