Fremde Federn

Vier-Tage-Woche, Austeritäts-Pandemie, Dekarbonisierung

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie eine große Industriegesellschaft dekarbonisiert werden kann, was die britische Corona-Katastrophe mit Austeritätspolitik zu tun hat und warum unser Wirtschaftssystem Arbeitslose braucht.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Kurzarbeit als Einstieg in die 4-Tage-Woche?

piqer:
Michael Hirsch

Im SZ-Interview verdeutlicht der Vorsitzende der IG Metall , warum betriebliche und tarifliche Arbeitszeitverkürzungen die beste Strategie zur Sicherung von Arbeitsplätzen darstellen. Eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung wäre sowohl eine Strategie zur kurzfristigen Abmilderung der Folgen der Rezession, als auch eine mittel- und langfristige Strategie zur sozialen und politischen Einbettung der Folgen des technologischen, arbeitskraftsparenden Strukturwandels für die Metallindustrie. Die von der SPD angestrebte Verlängerung des Kurzarbeitergeldes dient als Modell und Einstieg in dauerhaftere Arbeitszeitverkürzungen:

Um Arbeitsplätze zu sichern, sollte die Regierung die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes auf 24 Monate verlängern.

Nur eine konzertierte Politik der sozial gerechten Verteilung von Arbeitsplätzen kann den sowohl konjunkturellen wie technologischen Druck auf die Arbeitsplätze wirksam abmildern:

Die Unternehmen sollten Kurzarbeit jetzt stärker mit Qualifizierung verbinden, um die Menschen fit zu machen für den Arbeitsmarkt von morgen. Wir brauchen aber auch neue, durchsetzbare Ideen. Ich stelle den Vorschlag zur Diskussion, in der kommenden Tarifrunde eine Vier-Tage-Woche als Option für die Betriebe zu vereinbaren. Die Kurzarbeit ist dazu da, den Konjunktureinbruch abzufedern. Die Vier-Tage-Woche wäre die Antwort auf den Strukturwandel in Branchen wie der Autoindustrie. Transformation darf nicht zur Entlassung, sondern muss zu guter Arbeit für alle führen.

Was Hofmann verständlicherweise etwas vorsichtig behandelt, ist die heikle Frage der Löhne. Ihm ist bewusst, dass im aktuellen Kontext eine sowohl temporäre wie auch längerfristige Arbeitszeitverkürzung von 35 auf 30 oder 28 Wochenstunden schwer mit vollem Lohnausgleich für alle Beschäftigten verbunden sein kann.

An dieser Stelle wird sich in Zukunft zeigen, wie progressiv die Gewerkschaften und ihre Mitglieder sind: Will man die sozialen Errungenschaften der tariflichen Mitbestimmung und des Sozialstaats nur für die geringer werdende Anzahl der relativ privilegierten Kernbelegschaften sichern – oder erarbeitet man einen neuen Gesellschaftsvertrag, in dessen Rahmen es zu einer solidarischen Neuverteilung von Arbeitsplätzen und sozialen Anrechten kommt (und notwendigerweise nicht nur zu einer gewerkschaftlichen Politik der Erhöhung der Lohnquote für die Beschäftigten, sondern auch zu einer Umverteilung von Löhnen und sozialer Sicherung innerhalb der Gruppe der Beschäftigten)?

„Ich habe drei Monate in einem Bunker mit einem Laptop ohne Internetverbindung gearbeitet“

piqer:
Jürgen Klute

Der Betrugsfall Wirecard ist nicht der erste große Betrugsfall in der Bundesrepublik, der mehr oder weniger unter den Augen der medialen Öffentlichkeit und unter denen der zuständigen staatlichen Kontrollbehörden über mehrere Jahre lief, ohne aufzufallen.

Er wurde vor allem Dank der beharrlichen Recherche des Financial-Times-Journalisten Dan McCrum aufgedeckt. In diesem Interview mit Wolfgang Messner (Wirtschaftsjournalist) zeichnet McCrum nach, wie er den Betrug aufdecken konnte.

Nach der Lektüre des Interviews ist man geneigt, dem politisch zuständigen deutschen Finanzminister(ium) und der zuständigen deutschen Aufsichtsbehörde BaFin zu empfehlen, einfach mal einen Kurs in journalistischer Recherche bei Dan McCrum zu buchen.

Warum wurde England so schwer von der Corona-Pandemie getroffen?

piqer:
Silke Jäger

Am 25. Februar erschien ein Bericht darüber, wie gerecht Gesundheitschancen und -risiken in England verteilt sind. Einer der mitwirkenden Autoren, Michael Marmot, Professor für Epidemiologie am University College in London, erklärt in einem Kommentar beim Guardian, was sein Bericht mit der Pandemie zu tun hat. Schließlich kam das Coronavirus ja erst auf den britischen Inseln an, nachdem er seine Analyse längst abgeschlossen hatte. Und wie es dort ankam …

We are doing badly: dramatic social inequalities in Covid-19 deaths; high rates in black, Asian and minority ethnic groups; and, now, the highest excess mortality in Europe.

Was Marmot im Guardian schreibt, ist erschütternd. Er sieht einen klaren Zusammenhang zwischen den Verfehlungen der britischen Gesundheitspolitik der letzten zwei Jahrzehnte und der Unfähigkeit, das Infektionsgeschehen während der Pandemie zu kontrollieren und die Versorgung der schwer Erkrankten zu stemmen.

Vor allem zwei Faktoren seien dafür verantwortlich, dass in England während der Pandemie viel mehr Menschen als üblicherweise gestorben seien und viel mehr als in anderen Ländern bezogen auf die Einwohnerzahl – sogar mehr als in den USA, was gerne als das am schlimmsten betroffene Land von allen westlichen Industrienationen bezeichnet wird.

Der erste Faktor ist der allgemeine Gesundheitszustand der Engländer:innen und die damit verbundene Lebenserwartung.

In the decade from 2010, the rate of increase in life expectancy had slowed, dramatically so. For more than 100 years, life expectancy had been improving at a rate of about one year every four years. The increase in life expectancy that had begun to slow in 2010 had, by 2018, more or less ground to a halt. Compared with other Organisation for Economic Co-operation and Development (which is to say, rich) countries, the improvement in life expectancy in the UK from 2010 on was the slowest of all, except for the US and Iceland.

Der zweite Faktor ist die steigende Ungleichheit in Sachen Gesundheit, die Marmot nicht nur als Folge von sozialer Ungleichheit sieht, sondern auch für deren Ursache hält.

The clear picture is that of a social gradient: the more deprived the place you live, the higher the mortality rate and the shorter the life expectancy. During the 2000s the gap in life expectancy between the poorest 20% of areas and the rest narrowed. During the decade from 2010 on, it increased. And if health stopped improving and health inequalities got bigger, it implies that society stopped improving and inequality in general got worse.

Er vermutet, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dieser Entwicklung und dem schlechten Zurechtkommen mit der Pandemie gibt. Seine These untermauert er eindrücklich mit Zahlen. Und diese Zahlen legen nahe, dass die Finanzkrise von 2009 und die sich daran anschließende Austeritätspolitik einen großen Einfluss auf die hohen Opferzahlen hat.

In the least deprived 20% of areas, local government spending went down by 16%; in the most deprived it went down by 32%. This is remarkable – the greater the need was, the more spending was reduced.

Marmot findet weitere Indikatoren und kommt schließlich zu dem Schluss, dass es an der Zeit ist, ehrlich über die wahren Ursachen der verheerenden Pandemie-Folgen zu sprechen.

Marmots Analyse ist nicht deshalb so wertvoll, weil sie ein Land brandmarkt, das viele in Europa schon ein ganzes Stück aufgegeben haben. Sie ist wertvoll, weil sie wichtige Zusammenhänge aufzeigt, die nur selten so klar belegt werden wie in diesem Text.

Wie eine große Industriegesellschaft dekarbonisiert werden kann – am Beispiel der USA

piqer:
Rico Grimm

Drüben bei der „Seite Eins“ hatte ich in meinem letzten piq einen Text vorgestellt, der in Corona das deutlichste Symbol sieht, dass das amerikanische Imperium gerade endet. Einer der eindrücklichsten Vergleiche darin: wie die USA es heute nicht schaffen, Corona einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen, aber im Zweiten Weltkrieg zum „Arsenal der Demokratie“ wurden.

Der Text, den ich heute empfehle, beginnt auch wieder mit dem Zweiten Weltkrieg, und der nationalen, industriellen Kraftanstrengung, die die USA damals unternommen haben. Im Ergebnis hatten deutlich mehr Menschen Arbeit, stiegen die Löhne und Lebensstandards. Das, so skizziert der Text, wäre jetzt wieder möglich: wenn die USA ein radikales Dekarbonisierungs-Programm für ihre Wirtschaft starten. Diese These allein würde keinen piq rechtfertigen, sie ist nicht ganz neu. Neu ist aber die Detailtiefe, die dieser Artikel auf Basis einer Studie präsentiert. Schritt für Schritt führt uns David Roberts durch einen Plan, mit dem die komplette US-Wirtschaft elektrifiziert wird. Interessante Fakten:

  • Das kann gelingen, ohne auf CO2-Speicherung zu setzen.
  • Aber die Atomenergiekapazität müsste sich laut den Autoren verdoppeln.
  • Zement- und Stahlherstellung sind im Kontext gesehen gar kein so großes Problem.
  • Der Primärenergiebedarf könnte sich halbieren, wenn die USA auf Erneuerbare, statt auf fossile Kraftstoffe setzen.
  • Von der Regierung aufgelegte Kredit-Programme wären vermutlich der beste und schnellste Weg, die Transformation in den Privathaushalten zu schaffen.

Ob die einzelnen Punkte nun sinnvoll sind, sei dahingestellt; aber die Leistung dieses Textes und der Studie liegt darin, dass sie zeigen, dass es möglich wäre – so wie es auch möglich war, die Nazis zu besiegen.

Ein früherer Kohleausstieg könnte noch mehr Geld kosten

piqer:
Alexandra Endres

Der Kohleausstieg ist inzwischen Gesetz – aber ein wichtiger Teil davon, der Vertrag mit den Braunkohlekonzernen über deren umstrittene Entschädigungen, muss immer noch durchs Parlament. Anfang September will der Wirtschaftsausschuss des Bundestages Experten dazu anhören.

Das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft hat den Vertragsentwurf vor Kurzem analysiert. Der hier gepiqte Text des Magazins Klimareporter gibt einen Überblick darüber. Ein zentrales Ergebnis: Entscheidet eine künftige Bundesregierung, einzelne Braunkohlekraftwerke früher vom Netz zu nehmen als bisher geplant, könnte es noch teurer werden. Denn:

Die vorgesehenen 4,35 Milliarden Euro an Entschädigungen für die Braunkohlekonzerne Leag und RWE decken nur die Anlagen ab, die bis 2030 vom Netz gehen – Stilllegungen nach diesem Termin sind nach heutiger Lesart quasi entschädigungslos.

Zöge die Bundesregierung aber den Stilllegungstermin vor, müsste sie das mindestens fünf Jahre vor dem neuen Termin beschließen – sonst würden doch mehr Entschädigungen fällig. Heißt: Kurzfristige Stilllegungsbeschlüsse würden vermutlich teuer.

Grundsätzlich schaffe der Vertrag damit die Möglichkeit, dass Braunkohleunternehmen in Zukunft „weitere Entschädigungen fordern könnten (…)“, kritisieren Swantje Fiedler und Isabel Schrems vom Thinktank Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS).

Die Ökonominnen kritisieren außerdem, dass die Finanzierung der Braunkohle-Folgekosten, beispielsweise für die Sanierung der Tagebaue, „unzureichend beziehungsweise unnötig kompliziert“ geregelt sei. Eigentlich soll der Vertrag sicherstellen, dass nicht irgendwann die öffentliche Hand auf unabsehbaren Kosten sitzenbleibt – Fiedler und Schrems bezweifeln, dass sie das tatsächlich tut.

Zudem befürchten sie, dass Entschädigungszahlungen entgegen ihres eigentlichen Zwecks nicht für die Sanierung der Tagebaue genutzt würden, sondern direkt oder indirekt ins Firmenvermögen oder an die Anteilseigner fließen könnten.

Ob die vom FÖS und anderen vorgebrachte massive Kritik am Entwurf des Vertrags zwischen dem Bund und den beiden Kohlekonzernen sowie die für Anfang September geplante Anhörung im Wirtschaftsausschuss des Bundestages den Vertragstext noch verändern könnten – was sich dann möglicherweise auch auf den Kohleausstieg auswirken würde –, wollte Swantje Fiedler gegenüber Klimareporter nicht abschließend bewerten.

Wie realistisch ist kommerzielle Energieerzeugung durch Kernfusion?

piqer:
Daniela Becker

In Südfrankreich baut ein internationales Konsortium an ITER, dem größten Fusionsforschungsreaktor der Welt. Die Hoffnung, die auf dem Projekt liegt, könnte größer nicht sein: unbegrenzt saubere Energie.

Politisch tobt um den Reaktor seit Beginn ein Streit. Denn es fließen sehr viele Forschungsgelder hinein, von denen nicht wenige glauben, sie seien in der Erforschung erneuerbarer Energien, Netzintegration und Speichertechnologie besser aufgehoben. Für Thomas Bareiß, CDU-Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, hingegen ist Fusion „die beste Technologie“ für „eine saubere, sichere, bezahlbare Energieversorgung“.

Doch wie realistisch ist es, dass durch Kernfusion in naher Zukunft tatsächlich verlässlich Energie erzeugt wird? (Ob bezahlbar ist nochmal eine ganz andere, ebenfalls völlig ungeklärte Frage.) Malte Kreutzfeldt hat sich das mal genauer angesehen.

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. So weit, dass viele ExpertInnen bezweifeln, dass jemals in größerem Stil Strom mithilfe von Fusion erzeugt wird. „Alles, was bisher passiert ist, zeigt, dass kommerzielle Energieproduktion aus Fusion niemals Realität wird“, meint etwa Michael Dittmar von der ETH Zürich. „Es wird Zeit, dass die Fusionsforscher das endlich zugeben.“ Der Teilchenphysiker hat für die Bundestagsfraktion der Grünen die zahlreichen ungelösten Probleme bei der Fusion zusammengestellt.

Und die Liste mit Problemen ist lang. Kreutzfeldt erklärt ausführlich die technischen Zusammenhänge, die notwendig sind, um zu verstehen kann, wie groß die Herausforderungen sind. Ich will nur einen einzigen Aspekt hervorheben:

Bis heute gibt es keine Lösung dafür, aus welchem Material die innerste Wand von künftigen Fusionsreaktoren bestehen könnte, in denen die Fusion – anders dann als bei ITER geplant – nicht nur wenige Minuten am Stück läuft.

Dieses Problem war seit Beginn des Projekts bekannt. Dass es innerhalb der langen Zeitspanne  zwischen 1985 (erste Idee zu ITER) bis heute noch nicht mal eine theoretische Lösung dafür gibt, hat mich nochmal staunen lassen. So betrachtet erscheint mir Kernfusion nach wie vor wie eine interessante wissenschaftliche Fragestellung, aber kaum eine Technologie mit der sich in naher Zukunft verlässlich eine klimafreundliche Energiewende planen lässt.

Warum unser Wirtschaftssystem Arbeitslose braucht

piqer:
Theresa Bäuerlein

Wegen der Pandemie ist die Zahl der Menschen ohne Job zwischen April und Juni so stark gestiegen wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Das ist ein guter Grund, diesen Artikel von Anna Mayr zu lesen, die als Kind von Hartz-IV gelebt hat. Sie glaubt, dass Arbeitslose in unserem Wirtschaftssystem nicht das Problem sind, zu dem sie gemacht werden. Sondern dass sie sogar diejenigen sind, die alles am Laufen halten.

Arbeitslose müssen von der Gesellschaft als dumm und faul abgestempelt werden, meint die Autorin, sie müssen arm, ohnmächtig und außenstehend sein, weil Arbeitslosigkeit sonst ihren Schrecken verlieren würde. Wenn aber niemand Angst davor hätte seinen Job zu verlieren – dann würde dieses System nicht funktionieren.

Deshalb bringt die Angst vor der Arbeitslosigkeit Menschen dazu, weiterhin in die Fleischfabrik zu gehen, obwohl sie sich krank fühlen. Sie sorgt dafür, dass immer noch jeden Tag Frauen und Männer hinter Supermarktkassen sitzen, obwohl sie dort von Maskengegnern angehustet werden und von gestressten Kunden unfreundlich behandelt. Die Angst bringt Menschen dazu, im Homeoffice eine Präsentation vorzubereiten, obwohl das Kleinkind nach Spielplatz schreit und es draußen 30 Grad hat. Die Angst sorgt also dafür, dass alle erledigen, was von ihnen verlangt wird. Wenige Menschen haben das Glück, Freude an ihrer Berufstätigkeit zu empfinden. Viele arbeiten nur, weil sie sich davor fürchten, nicht zu arbeiten. Weil es außerhalb der Arbeit kein soziales Umfeld gibt, und außerhalb der Berufsbezeichnung keine Idee davon, wer man eigentlich ist.

Deswegen, so Mayr, mache die Corona-Krise ihr Hoffnung. Weil sich auf einmal Menschen mit Arbeitslosigkeit auseinandersetzen müssen, die sich vorher meilenweit weg von Menschen wie denen in ihrer Familie gefühlt haben. Und die Geschichte zeigt, dass Systeme sich ändern, wenn genug privilegierte Menschen Privilegien verlieren. Ist das eine gute Nachricht? Eine interessante Perspektive ist es sicher.

Kostenpflichtige Zoom-Vorstellungen: Eine potenziell wichtige Einnahmequelle für Künstler

piqer:
Ole Wintermann

Wir haben in den letzten Wochen oft erlebt, dass die Corona-Krise die digitale Transformation von Arbeit in vielen Bereichen befördert hat. Ein Bereich, aus dem heraus bisher wenig dazu zu vernehmen war, ist die Theaterszene. Daher ist das Ergebnis einer aktuellen Studie interessant, die das Zuschauerverhalten bei einer mittels Zoom übertragenen Theatervorstellung in England untersucht hat.

Im April und Mai diesen Jahres wurden mehrere Vorstellungen eines bekannten Theaterstücks durch eine Theater Company digital und live dargeboten. Hierfür mussten pro Endgerät 20 Britische Pfund bezahlt werden. Fast 100 Zuschauer wurden im Nachhinein von Wissenschaftlern befragt. Der überwiegende Teil der Befragten war begeistert von der Möglichkeit, via digitaler Endgeräte die Stücke live zu sehen und fand daher die Ticketpreise vollkommen gerechtfertigt. Sowohl individuell bekannte Stücke als auch unbekannte neue Stücke würden langfristig durch die Zuschauenden nachgefragt.

Im Vergleich zum Offline-Vorjahr erreichte die Company mit der digitalen Vorstellung ungefähr dieselbe Anzahl von Menschen; nur kamen in der digitalen Variante die Menschen nicht nur aus 11, sondern sogar aus 27 verschiedenen Ländern. Zudem war es möglich, mit der kostenpflichtigen Variante laufende Kosten zu decken. Technisch durchaus auftretende Probleme stellen nach Meinung der Zuschauenden auf Dauer keinen relevanten Hinderungsgrund dar.

Kostenlose Konzerte bekannter Künstler sind, wie häufig zu Beginn der Corona-Krise, gut gemeint; langfristig aber sind kostenpflichtige Varianten sicher ein wichtiges finanzielles Standbein für Künstler in Corona-Zeiten, so die Forscher.

Fool me once … – Indonesien streicht Geld für Waldschutz ein

piqer:
Dominique Lenné

Das UN-Programm REDD+ (Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation and the role of conservation, sustainable management of forests and enhancement of forest carbon stocks in developing countries) bietet finanzielle Anreize aus dem Green Climate Fund (GCF) für Länder, die Maßnahmen zur Verminderung ihrer Entwaldung treffen. Diese Zahlungen beziehen sich auf eine bestimmte Periode und eine bestimmte hypothetische Entwaldungsrate ohne die Regierungsmaßnahmen (die sogenannte „Baseline“).

Bei beiden Parametern lässt sich einiges drehen, und was nach der Bezugsperiode geschieht, ist ohne Einfluss. In den meisten Fällen sei die Entwaldungsrate nach der Förderperiode wieder angestiegen.

Im Fall Indonesiens wurde die REDD+-Zahlung von 85 NGOs, davon 15 aus Indonesien deswegen scharf kritisiert. Die Regierung sei nach wie vor tief in die großflächige Entwaldung verstrickt und fördere sie.

Anmerkung: Die Summen sind nicht beeindruckend. Für ein Land wie Indonesien mit 260 Mio. Einwohnern und einem Sozialprodukt von 3,5 Billionen USD sind 103 Mio. USD Förderung ein Witz. Die Problematik ist ähnlich wie bei den berüchtigten Clean Development Mechanism (CDM) Zertifikaten, die einige Jahre von der EU als Emissionszertifikate anerkannt wurden: Anstatt dass reale Emissionen real bezahlt werden müssen, wie bei den normalen Zertifikaten, werden hypothetische Nichtemissionen gegen eine hypothetische Baseline verrechnet – theoretisch gut, aber in der Praxis ein Albtraum von Fehlern und Betrug. Während die EU aus ihrem Fehler gelernt hat, scheint der GCF noch nicht so weit zu sein.

Diese Problematik betrifft leider das gesamte Offsetting von Emissionen. Ich habe auch schon Emissionen kompensiert, über Atmosfair – aber mit einem leichten Bauchschmerz.  Offsetting ist im Rahmen des CORSIA-Abkommens von der Luftfahrtindustrie zum Emissionsausgleich in großem Maßstab geplant.

Hallo Brüssel, hallo Berlin! Was tun mit den Autokraten vom Westbalkan?

piqer:
Keno Verseck

Die sechs Länder der so genannten Westbalkan-Region – Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien – erhielten 2003, während eines Gipfeltreffens der EU in Thessaloniki, die feste Zusage einer EU-Mitgliedschaft. Zwar wurde das „Versprechen von Thessaloniki“ nie offiziell zurückgenommen, doch dass es eigentlich nicht mehr gilt, daran zweifelt kaum ein Experte. Die Gründe für das Stocken des EU-Erweiterungsprozesses in der Westbalkan-Region sind vielfältig, eine beträchtliche Zahl liegt außerhalb der Region und im Innern der EU.

Ein wesentlicher Grund ist aber auch der eklatante Mangel an rechtsstaatlichen Reformen und an nachhaltigem Regieren in den Westbalkan-Ländern. Albanien, Montenegro und Serbien haben sich zu Autokratien entwickelt, Bosnien-Herzegowina ist ein gescheiterter Staat, Kosovo ein extrem fragiles staatliches Gebilde, häufig ohne Substanz; einzig in Mazedonien lassen sich seit dem Ende des Gruevski-Regimes 2016 einige zarte echte, wenn auch häufig inkonsequente Reformansätze erkennen. Besonders verschlechtert hat sich die Entwicklung in den meisten Westbalkan-Ländern dabei in den vergangenen zwei bis drei Jahren.

Was ist schief gegangen trotz des Hilfeversprechens der EU bei Reformen, Demokratisierung und EU-Integration? Wo sind die Milliarden Hilfsgelder geblieben? Warum ist öffentlich so wenig Kritisches von europäischen und deutschen Führungspolitikern und Spitzendiplomaten zur Region zu vernehmen, obwohl viele von ihnen mit den Verhältnissen vor Ort bestens vertraut sein dürften? Vor allem: Welche Folgen haben der Stillstand des EU-Integrationsprozess und die antidemokratische Entwicklung der Westbalkan-Region für die dortigen Gesellschaften und für die EU, insbesondere für Deutschland? Und: Werden die Länder der Region jemals EU-Mitglieder?

Diese Fragen diskutieren in einem der neuesten Podcasts der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Barbara Lippert, die SWP-Forschungsdirektorin, und Dušan Reljić, der Leiter des Brüsseler SWP-Büros und einer der besten Westbalkan-Kenner im deutschsprachigen Raum. Die SWP ist ja keine akademische Gesellschaft, sondern eine Institution für Politikberatung. Um so bemerkens- und hörenswerter, mit welcher kritischen Distanz Barbara Lippert und vor allem Dušan Reljić die EU- und die deutsche Westbalkan-Politik analysieren und kommentieren, welche Fehler sie ihr vorwerfen und welche Konsequenzen sie vorschlagen.