Rechtspopulistische Parteien mit Regierungsverantwortung haben in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen, um die Grundpfeiler des liberalen Staates zu demontieren. Beispiele dafür sind Ungarn unter Viktor Orbáns Fidesz-Partei und Polen unter der früheren Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Dies hat wichtige Fragen über die Wirksamkeit der EU-Schutzmaßnahmen gegen den demokratischen Rückschritt in ihren Mitgliedstaaten aufgeworfen.
Das Artikel-7-Verfahren der EU soll grundlegende Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schützen. Es hat sich jedoch als ineffektiv erwiesen. Daher hat die EU in jüngerer Zeit auf einen neuen Konditionalitätsmechanismus gesetzt, um den rechtsstaatlichen Rückschritten in Ungarn zu begegnen. Dieser Mechanismus ermöglichte es, mehr als 20 Milliarden Euro an EU-Geldern einzufrieren.
Geiselnahme als neue Verhandlungsstrategie
In einer neuen Studie zeigen wir, dass die ungarische Regierung auf die Entschlossenheit der EU mit einer Strategie reagiert hat, die wir als „Geiselnahme“ bezeichnen. Dabei nutzt die Regierung eines Mitgliedstaates ihr Vetorecht bei intergouvernementalen Entscheidungen in Kombination mit einer Strategie der taktischen Verknüpfung von Themen, um erhebliche Zugeständnisse in einem anderen, funktional nicht zusammenhängenden Politikbereich zu erlangen. Konkret hat Ungarn sein Vetorecht bei zentralen außenpolitischen EU-Entscheidungen im Kontext des Russland-Ukraine-Kriegs genutzt, die Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten erforderten, um sich Vorteile im Rechtsstaatlichkeitskonflikt mit der EU zu verschaffen.
Die Geiselnahme-Strategie ist vor allem im Kontext internationaler Organisationen untersucht worden. Besonders bedeutsam ist sie jedoch im vielschichtigen EU Governance-System mit seinen zahlreichen wiederkehrenden politischen Interaktionen und weitreichenden Veto-Möglichkeiten. Die institutionellen Rahmenbedingungen im EU-System spielen hierbei eine zentrale Rolle. Geiselnahme wird weithin als Verstoß gegen die informellen kooperativen Normen der EU betrachtet, die in Bereichen wie der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) vorherrschen. Von den EU-Mitgliedstaaten wird erwartet, dass sie zum Konsensaufbau in GASP-Verhandlungen beitragen, während die Nutzung eines Vetos auf Situationen beschränkt sein sollte, in denen elementare nationale Interessen auf dem Spiel stehen.
Die Verletzung dieser Normen kann zur Isolation eines Mitgliedstaates in der EU führen, was mit politischen Kosten verbunden sein kann. Um diese Kosten zu minimieren, ist es wahrscheinlich, dass sich ein „Geiselnehmer“ im EU-Kontext für eine „weiche Geiselnahme“ entscheidet, bei der versucht wird, die Verbindungen zwischen nicht zusammenhängenden Politikbereichen zu verschleiern. So kann ein Geiselnehmer durch rhetorische Verschleierung den äußeren Anschein aufrechterhalten, legitim zu handeln, während er gleichzeitig sein Vetorecht als Druckmittel in Hinterzimmer-Verhandlungen nutzt. Die formulierten Forderungen stellen möglicherweise nicht die „wirklichen“ Streitpunkte dar, sondern dienen als Vorwand, um Entscheidungen zu verzögern oder sogar zu blockieren.
Solche konstruierten Argumente können in einer Weise formuliert werden, die sie als legitime nationale Interessen oder sogar als gemeinsame Anliegen der EU erscheinen lässt. Dadurch sieht es so aus, als würden sie mit den informellen EU-Normen im Einklang stehen. Interessanterweise erleichtert diese rhetorische Verschleierung es auch den betroffenen Akteuren (der EU), substanziellen Forderungen nachzugeben, ohne den Eindruck zu erwecken, sich politischem Druck zu beugen.
Ungarns Erfolge
Wir identifizieren drei Hauptbedingungen für die Effektivität einer weichen Geiselnahme:
Die Veto-Drohung muss glaubwürdig sein. Der Geiselnehmer muss sein Gegenüber davon überzeugen, dass er ein Veto tatsächlich ausüben würde und bereit ist, dieses im Austausch für die geforderten Zugeständnisse zurückzunehmen.
Der Preis, den der Verhandlungspartner zahlen muss, wenn er den Forderungen des Geiselnehmers nachgeben würde, muss niedriger sein als die Kosten, die ein Veto verursachen würde.
Die Wirksamkeit einer weichen Geiselnahme hängt davon ab, inwieweit die Gegenseite die relativen Kosten verändern kann. Beispielsweise könnte die EU ein Veto umgehen, indem sie auf ein Politikverfahren mit qualifizierten Mehrheitsentscheidungen umsteigt oder indem sie sich außerhalb des EU-Rahmens koordiniert. Alternativ könnte die EU glaubwürdige Gegendrohungen formulieren.
Das Konzept der weichen Geiselnahme hilft uns zu verstehen, wie sich Ungarn im (Europäischen) Rat in Bezug auf den Russland-Ukraine-Krieg verhält. Mit mehreren glaubwürdigen Veto-Optionen ausgestattet, bestritt Premierminister Viktor Orbán jede explizite Verbindung zwischen seinen GASP-Vetos und dem sich verschärfenden Rechtsstaatlichkeitskonflikt mit der EU. Doch das Timing der ungarischen Veto-Drohungen und wichtiger Rechtsstaatlichkeitsentscheidungen deutete stark auf eine weiche Geiselnahme hin.
Zum Beispiel war Ungarn im November 2022 – nur eine Woche nachdem die Kommission vorgeschlagen hatte, 7,5 Milliarden Euro an EU-Geldern im Rahmen des Konditionalitätsmechanismus einzufrieren – die einzige Regierung, die sich weigerte, ein EU-Hilfspaket für die Ukraine in Höhe von 18 Milliarden Euro zu genehmigen. Orbán begründete diese Position mit der Notwendigkeit, die wesentlichen Interessen Ungarns und der EU in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu wahren. Da es für die EU von größter Bedeutung war, Einheit und Verantwortung in ihrer Unterstützung für die Ukraine zu zeigen, entschied der Rat, die eingefrorenen Gelder von 7,5 Milliarden auf 6,3 Milliarden Euro zu reduzieren – woraufhin Orbán sein Veto zurückzog.
Damit die weiche Geiselnahme wirksam sein konnte, war es entscheidend, dass die EU-Institutionen mitspielten und ebenfalls jede Verbindung zwischen den beiden Themenbereichen bestritten. Innerhalb der thematischen Grenzen der Rechtsstaatlichkeit argumentierend, erklärte der Rat, dass er seine Entscheidung, die eingefrorenen Gelder zu reduzieren, ausschließlich „im Lichte der Anzahl und Bedeutung der von Ungarn zufriedenstellend umgesetzten (rechtsstaatlichen) Maßnahmen“ getroffen habe.
Eine enge zeitliche Verbindung zwischen ungarischen Veto-Drohungen in der GASP und einer teilweisen Entsperrung von EU-Geldern zeigte sich erneut beim Europäischen Rat im Dezember 2023. An diesem Tag setzte Orbán sein Veto gegen die Eröffnung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aus – nahezu zeitgleich mit der Entscheidung der Kommission, 10,2 Milliarden Euro an eingefrorenen EU-Geldern freizugeben.
Die EU schlägt zurück
Trotz dieser Erfolge provozierte Ungarns Versuch Anfang 2024, eine EU-Entscheidung über ein 50-Milliarden-Euro-Finanzhilfepaket für die Ukraine als Geisel zu nehmen, die EU dazu, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Vertreter anderer Mitgliedstaaten begannen öffentlich, Ungarn des „Missbrauchs des Einstimmigkeitsprinzips“ zu beschuldigen. Sie erklärten zudem, dass sie planen würden, Ungarn zu umgehen, falls Budapest weiterhin die Ukraine-Hilfe blockiere. Zudem drohte die EU, gezielt gegen die ungarische Wirtschaft vorzugehen.
Dies deutet darauf hin, dass die EU nun bereit ist, die Kosten für Ungarns Strategie der weichen Geiselnahme zu erhöhen und alternative Wege zu finden, um ungarische Veto-Drohungen zu umgehen. In diesem Kontext sind auch die Ergebnisse des EU-Sondergipfels Anfang März 2025 zu sehen, als sich 26 EU-Regierungen gegen den russischen Angriffskrieg aussprachen und der Ukraine ihre „uneingeschränkte Unterstützung“ zusicherten – lediglich die ungarische Regierung unterzeichnete die Erklärung nicht.
Ob die nun härtere Position der EU gegenüber Ungarn langfristig erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. Sicher ist in jedem Fall, dass Geiselnahme eine ernste Herausforderung für die EU-Entscheidungsfindung in Zeiten von Krisen und Polarisierung bleiben wird.
Zu den Autoren:
Patrick Müller ist Professor für Europastudien an der Universität Wien und an der Diplomatischen Akademie Wien – Vienna School of International Studies.
Peter Slominski ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien.
Hinweise:
Eine englische Version dieses Beitrag ist zuerst auf dem EUROPP-Blog der London School of Economics erschienen. Die diesem Beitrag zugrundeliegende Studie finden Sie hier.