Fremde Federn

Vermögensverteilung, Cluster-Verfolgung, billiger Solarstrom

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie wir bezahlbaren Wohnraum schaffen können, weswegen die politische Linke sich der Globalisierung nicht verschließen sollte und warum Deutschlands Corona-Strategie zu scheitern droht.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wie reich sind Sie wirklich?

piqer:
Antje Schrupp

Nicht nur Friedrich Merz und Olaf Scholz halten sich für ärmer als sie sind. Die meisten Menschen, die halbwegs gut verdienen, verschätzen sich, wenn man sie fragt, wie reich sie sind. Sie verorten sich zum Beispiel in der Mittelschicht, obwohl sie in Wahrheit zu den obersten zehn Prozent gehören. Oder sie glauben, noch zur Unterschicht zu gehören, obwohl sie in Wahrheit längst Teil der bessergestellten Bevölkerungshälfte sind.

Das hat auch psychologische Gründe: Menschen gesellen sich sozial in ähnlichen Einkommensgruppen zueinander, das heißt, die meisten kennen ungefähr gleich viel Leute, die mehr und die weniger Vermögen haben als sie selbst. Deshalb nimmt man sich selbst ungefähr im Mittelfeld wahr, und als Folge verorten sich Menschen mit überdurchschnittlichem Vermögen tendenziell zu weit unten in der Vermögenspyramide.

Zusätzlich zu Statistiken über die Vermögensverteilung in Deutschland enthält dieser Artikel auch einen Modellrechner, mit dem man anhand des eigenen Alters und Vermögens überprüfen kann, zu welchem Vermögenszehntel man tatsächlich gehört – ganz interessant für einen persönlichen Realitäts-Check.

Geld – Wie funktioniert das?

piqer:
Jannis Brühl

Geld soll ja recht wichtig sein, hört man immer wieder. Aber wie genau es in die Welt kommt, und ob in einer Gesellschaft „zu viel“ oder „zu wenig“ Geld im Umlauf sein kann, damit beschäftigt sich im Alltag kaum jemand. Mark Schieritz erzählt in der Zeit (der Artikel ist vom Januar) nicht nur anschaulich und anekdotenreich die Geschichte des Geldes von den Maulbeer-Scheinen der Mongolen über die Vor- und Nachteile des Zeitalters, in dem das Geld im Umlauf durch Gold gedeckt sein musste, bis zum Kampf gegen die letzte Finanzkrise. Er argumentiert dabei auch schlüssig aus der historischen Perspektive für einen Keynesianismus: Der Staat müsse mehr Geld drucken und ausgeben, um den Menschen zu helfen. Sparzwang und Inflationsangst führten zu falscher Politik.

Schieritz rechnet dabei mit einem seiner Lieblingsthemen ab: Der – vor allem sehr deutschen – Furcht vor der Hyperinflation. In der Weimarer Republik kam es schließlich zu einer Geldschwemme, in der Menschen zwar mit Scheinen Wohnungen tapezieren, aber sich praktisch nichts mehr kaufen konnten. Dass der Staat wie wild Geld drucke, sei nicht das Problem, schreibt Schieritz. Er müsse es nur zum richtigen Zeitpunkt tun – wenn es genug Arbeiter gebe.

Damit sich Papiergeld in neue Produkte verwandeln und auf diese Weise neue Werte schaffen kann, benötigt es einen Transformator, eine schöpferische Kraft. Das ist die menschliche Arbeit. Ist die nicht verfügbar, dann steht einer konstanten Menge an Gütern eine immer weiter steigende Menge an Geld gegenüber. Die Folge: Der Preis für das einzelne Gut steigt immer weiter. Nichts anderes ist Inflation.

Ein Artikel, den man gelesen haben sollte, wenn Politiker mal wieder behaupten, es sei kein Geld da, und man müsse „den Gürtel enger schnallen“. Schieritz argumentiert dafür, ihn offen zu tragen.

Solarstrom jetzt der kostengünstigste weltweit

piqer:
Nick Reimer

Der World Energy Outlook ist so etwas wie eine Glaskugel für den Blick in die Zukunft: Von der Internationalen Energieagentur veröffentlicht, beschreibt er die mittel- und längerfristige Entwicklung der Welt-Energieversorgung. Zwar handelt es sich dabei lediglich um Prognosen. Die aber sind in der Vergangenheit in einigen Aussagen erstaunlich häufig Realität geworden.

Jetzt liegt der World Energy Outlook 2020 vor, mit einigen bemerkenswerten Ergebnissen: Erstens ist Solarenergie schon heute in fast allen Ländern auf der Welt günstiger als Strom aus einem neuen Kohle- oder Gaskraftwerk. Zwar habe Corona die Geschwindigkeit des Wachstums der Erneuerbaren gebremst, dies aber nur kurzzeitig, die Erneuerbaren sind die Gewinner der Krise. Bis zum Jahr 2030 würden Wind- und Solarenergie jedes Jahr im Schnitt um zehn Prozent wachsen. So haben sich etwa die globalen Investitionen in Offshore-Windkraft nach Daten von Bloomberg im ersten Halbjahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr auf 35 Milliarden US-Dollar verdreifacht. IEA-Chef Fatih Birol:

„Solarenergie wird der neue König des weltweiten Strommarktes. Nach heutigen Rahmenbedingungen wird Photovoltaik nach 2022 jedes Jahr einen Rekord bei neuen Kapazitäten aufstellen.“

Corona hat zweitens das Machtgefüge der Energiewelt verändert. Dem Bericht zufolge fällt die Kohle-Nachfrage in diesem Jahr mit sieben Prozent so niedrig aus wie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr. Zwar baut beispielsweise China weiterhin neue Kraftwerke, die Zahl der Kohlekraftwerke weltweit ist aber im ersten Halbjahr 2020 erstmals geschrumpft – um die Leistung von 18.800 Megawatt. Bis 2030 könnten acht Prozent weniger Kohle auf dem Markt gefragt sein als noch vor der Pandemie angenommen, schreiben die Autoren.

Drittens: Für den Klimaschutz wird Corona kurzfristig einen starken Effekt mit sich bringen, um ganze sieben Prozent werden die Treibhausgasemissionen in diesem Jahr sinken, solch einen Rückgang gab es noch nie in der Menschheitsgeschichte. Knapp 60 Prozent des Welterdölverbrauchs entfallen auf den Transportsektor. Mit dem wochenlangen Lockdown in fast allen Staaten war die Nachfrage derart eingebrochen, dass der Preis für ein Barrel der US-Sorte WTI zwischenzeitlich sogar ins Minus gerutscht ist: Wer Erdöl kaufte, bekam Geld dafür.

Allerdings sieht die IEA diesen Rückgang skeptisch, Grund dafür sei eine Wirtschaftskrise. Dauerhaft niedriges Wirtschaftswachstum sei aber keine Strategie für einen niedrigen CO2-Ausstoß. So Prognostiziert die Internationale Energieagentur viertens, dass der Weltenergiehunger drastisch steigen wird bis zum Jahr 2040 – von derzeit 14.406 Millionen Tonnen auf dann 17.085 Millionen Tonnen. Noch einmal IEA-Direktor Birol:

„Auch wenn die CO2-Emissionen in diesem Jahr rekordverdächtig gesunken sind, reicht das nicht aus, um die Emissionen auch in Zukunft niedriger zu halten.“

Wie sich die Klimakrise auf den Immobilienmarkt auswirkt

piqer:
Daniela Becker

„Der Markt“ wird zugunsten Klimaschutz-Technologien und CO2-reduziertem Wirtschaften gar nichts positiv beitragen, solange Produkte und Dienstleistungen die dadurch verursachten Kosten durch Umwelt- Klimaschäden nicht abbilden (externe Kosten nicht internalisiert sind, wie es im Wirtschaftssprech heißt). Was „der Markt“ aber sehr wohl abbilden wird, sind Schäden und Probleme, die die Klimakrise verursacht.

Ein ganz konkretes Beispiel arbeitet die NYT heraus. Der Text geht der Frage nach, wie schnell Immobilienpreise von Häusern in besonders gefährdeten Gebieten sinken werden.

The idea that climate change will eventually ruin the value of coastal homes is neither new nor particularly controversial. In 2016, the then-chief economist for the federal mortgage giant Freddie Mac warned that rising seas “appear likely to destroy billions of dollars in property and to displace millions of people.” By 2045, more than 300,000 existing coastal homes will be at risk of flooding regularly, the Union of Concerned Scientists concluded in 2018.

Eine aktuelle Recherche von Wissenschaftler des „National Bureau of Economic Research“ zeigt: In Florida sind die Verkäufe von Eigenheimen in jenen Gebieten, die am stärksten vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen sind, seit etwa 2013 gesunken.

Die Daten lassen sich so interpretieren, dass der US-amerikanische Immobilienmarkt bereits heute unter der Klimakrise leidet. Die Recherche konzentriert sich dabei aber nicht auf Preisrückgänge, sondern versucht, ein früheres Signal von Schwierigkeiten zu erkennen, nämlich einen Rückgang der Zahl der Häuser, die den Besitzer wechseln.

Wenn dem so ist, lässt sich leicht vorstellen, dass eine gleiche Logik für Gebiete anzuwenden ist, die in jüngster Zeit mehrfach von durch die Klimakrise verstärkten Naturkatastrophen betroffen waren (Flut, Dürre, Feuer).

Wohnungsfrage: Sind Enteignungen wirklich die Lösung?

piqer:
Frederik Fischer

Der immer hörenswerte Podcast „Systemrelevant“ der Hans Böckler Stiftung widmete sich in einer der letzten Folgen der Rolle des Staates auf dem Wohnungsmarkt. In Berlin kann man spätestens seit der Einführung des Mietendeckels live miterleben, wie komplex die Regulierung von Märkten sein kann. Der Mietendeckel ist mit besten Absichten und bewundernswert viel politischem Mut auf den Weg gebracht worden. Die Bilanz bleibt aber durchwachsen. Freuen dürfen sich Bestandsmieter in großen Altbauten und guten Lagen. Weniger erfreulich ist die Situation für alle, die momentan eine Wohnung in Berlin suchen.

Aber um den Mietendeckel geht es in der Folge nur am Rande. Im Kern steht die Frage, welche Rolle der Staat spielen kann, um insbesondere in Großstädten bezahlbares Wohnen zu garantieren. Der Ökonom Sebastian Dullien erklärt in einer kompakten halben Stunde die Historie des großen Ausverkaufs öffentlicher Liegenschaften und die Konsequenzen für die Situation heute. Statt kostspieliger Enteignungen plädiert er für eine stärkere Bautätigkeit der öffentlichen Hand – wohlgemerkt nicht nur im sozialen Wohnungsbau. Das Ziel müsse eine stärkere Durchmischung sein, um nicht heute die Brennpunkte von morgen zu bauen.

Ich habe in der Folge viel gelernt und gerne zugehört. Überzeugen konnten mich die Argumente letztendlich aber nur bedingt. Denn das Elend der Großstädte ist nicht zuletzt auch ein ästhetisches. Wenn die öffentliche Hand baut, sieht das Ergebnis selten schöner aus als in den „begehbaren Anlagedepots“ (Niklas Maak) der Renditejäger. Was ich für aussichtsreicher halte, ist eine strenge Konzeptvergabe an Baugruppen und Genossenschaften. Hier stehen weder Profitmaximierung noch Kostenminimierung an erster Stelle, sondern die Wohnqualität und der gestalterische Anspruch. Schließlich leben die Auftraggeber später selbst in dem, was sie da beauftragen. Eine weitere Alternative zu (den nicht zuletzt klimaschädlichen) Neubauten, ist die Revitalisierung und Umnutzung von leerstehenden Baudenkmälern. Insbesondere in B- und C-Lagen machen Investoren meist einen großen Bogen um diese städtebaulich wichtigen Gebäude. Und je kataloghafter unsere Städte aussehen, desto wichtiger sind historische Gebäude im Stadtbild.

Einblick in die Welt der Shortseller

piqer:
Jannis Brühl

Seit dem Fall Wirecard sind Leerverkäufer wieder in der öffentlichen Diskussion wie seit der Staatsschulden-Krise nicht mehr. Finanzwetten gegen Unternehmen können Aktienkurse massiv unter Druck setzen – und Leerverkäufer profitieren. Dieser lesenswerte und lehrreiche Report beschreibt an einem aktuellen Fall – dem badischen Finanzdienstleister und M-Dax-Unternehmen Grenke AG – wie ein Unternehmen schlagartig von Leerverkäufern „angegriffen“ wird. Spezialisierte Finanzfirmen veröffentlichen dicke Dossiers über angebliches oder tatsächliches Fehlverhalten der Firmenspitze, im Fall Grenke sind es die folgenden Vorwürfe:

Der Gründer soll sich „an dubiosen Zukäufen bereichert haben, das Unternehmen in Betrug in Großbritannien verwickelt, die Bilanz aufgehübscht worden sein“. Stimmt alles nicht, sagt Grenke. Alles gerichtsfest abgeklärt, sagt der Leerverkäufer Fraser Perring – der sich immerhin zugute halten kann, die Luftnummer Wirecard vor den meisten anderen erkannt zu haben. Aber bedeutet das, dass auch seine Behauptungen über Grenke stimmen? Der Kampf zwischen Mittelständler und Shortseller ist brutal, der Wetteinsatz ist eine große Firma und sehr viel Geld. Ein Drama, wie es zukünftig immer häufiger vorkommen könnte.

(Hier nochmal eine Erklärung aus dem Artikel, was Leerverkäufe sind:

Investoren borgen sich dazu Anteilsscheine und vereinbaren, diese zu einem festgelegten Stichtag nebst Leihgebühr wieder zurückzugeben. Bevor die kritischen Dossiers erscheinen, stoßen die Shortseller die geliehenen Papiere ab. Kaum sind die Vorwürfe auf dem Markt und der Kurs mächtig unter Druck, decken sie sich wieder preiswert ein. Die gekauften Aktien geben sie dann zurück und streichen die Differenz ein. Das ist legal – so lange die erhobenen Anschuldigungen auch stimmen.)

Die Pandemie verstärkt den Trend zur Digitalisierung der Arbeit

piqer:
Ole Wintermann

Das World Economic Forum hat seinen “The Future of Jobs Report 2020” veröffentlicht, in dem sich einige spannende Erkenntnisse finden lassen. Es geht den Autorinnen darum, die mittelfristigen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf den Trend zur Digitalisierung der Arbeitswelt durch eine Kombination von qualitativer und quantitativer Analyse herauszufinden. Hierfür wurden nicht nur statistische Daten genutzt, sondern es wurden auch weltweit sogenannte “Business Leaders” befragt. Der Nachteil solcher Befragungen ist natürlich immer, dass diese nur über die Beschäftigten urteilen; was fehlt ist wie immer in vergleichbaren Fällen die Bewertung des Führungsverhaltens in der Krise – ein nicht unwichtiger Aspekt bei der Bewältigung der digitalen Transformation.

Es wird davon ausgegangen, dass die Pandemie den grundlegenden Trend zur Digitalisierung der Arbeitswelt weiter verstärken wird und damit die Herausforderungen an die Beschäftigten weiter ansteigen werden. Die Autorinnen sprechen von einer “doppelten Disruption”. Jede zweite Business Leaderin geht von einer Reduzierung der Zahl der eigenen Arbeitskräfte bis 2025, jede dritte Business Leaderin von einer Steigerung der Zahl der eigenen Arbeitskräfte aus. Der technologisch bedingte Abbau von nicht mehr benötigten Jobs wird zunehmen, das Schaffen neuer Jobs wird an Geschwindigkeit verlieren. Dennoch gehen die Autorinnen davon aus, dass weltweit bis 2025 mehr Jobs geschaffen als vernichtet werden.

Qualifikationen, die bis 2025 zunehmend nachgefragt werden, sind: Kritisches Denken, analytisches Denken, Problemlösungsfähigkeiten, Selbst-Management, aktives Lernen, Resilienz, Stress-Toleranz und – natürlich – Flexibilität. Die Business Leaderinnen gehen im Schnitt davon aus, dass 44% der Arbeitsplätze in Form vom Remote Work ausgefüllt werden können.

Weitere Ergebnisse sind, dass:

  • die Pandemie – stärker noch als die Finanzkrise – die Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt verstärken wird,
  • gerade die derzeit arbeitslosen Menschen bei ihrer Fortbildung mehr als die Beschäftigten auf Zukunftsbereiche (Data Science et al.) Wert legen,
  • Unternehmen stärker als in der Vergangenheit Humankapital, die Umwelt und soziales Kapital in die eigenen Bilanzierung integrieren müssen und
  • insbesondere der öffentliche Sektor großen Nachholbedarf bei Umschulungen und Umwandlungen von Tätigkeiten in Richtung von Zukunftsbereichen aufweist.

Letztlich dürfte aber die über allem stehende Kernaussage in der Erinnerung bleiben: Die Pandemie erhöht die Geschwindigkeit der digitalen Transformation.

Anmerkung zum Ende: Man sollte den Aussagen von “Business Leaderinnen” jedoch immer etwas skeptisch gegenüberstehen, da ein Großteil von ihnen durch systemisch bedingten Konservatismus geprägt ist. Die Methode stellt aber dennoch eine gute Möglichkeit dar, sich günstig dem “Best Guess” anzunähern.

Arbeit, Arbeit – ist das halbe Leben …

piqer:
Anja C. Wagner

In Niederösterreich wird jetzt ein 3-jähriges Pilot- und Forschungsprojekt gestartet, das einer Umkehr der bisherigen Bringschuld der Erwerbsfähigen entspricht: Nicht mehr die Arbeitslosen befinden sich zentral in der Pflicht, auf Jobsuche zu gehen, sondern der Staat findet und schafft Arbeitsplätze, die die Menschen annehmen können (!), nicht müssen.

Konkret bedeutet dies, dass alle „Langzeitbeschäftigtenlosen“ aus Gramatneusiedl, einem kleinen Ort nahe Wien, eine Jobgarantie seitens des Arbeitsmarktservices (AMS) erhalten. „Beschäftigung“ meint natürlich bezahlte Erwerbsarbeit, eh klar. Diese soll nunmehr aktiv den Arbeitslosen seitens des AMS angeboten werden. Und das bedeutet, es muss räumlich vertretbar eine Arbeitsstätte gefunden werden.

Also braucht es Anreizsysteme für die Arbeitgeber*innen und die sieht wie folgt aus:

Wenn eine Gemeinde oder ein Unternehmen einen der Gramatneusiedler Langzeitarbeitlosen einstellt, bietet man an, drei Monate alle Kosten zu übernehmen. Für weitere neun Monate werden zwei Drittel der Arbeitskosten gedeckt.

So was in der Art kannten wir in Deutschland unter dem Begriff „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ (ABM). Diese wurden ab 2012 nicht mehr gefördert (offiziell als Resultat ihres Erfolges) – und bedienten auch eher das prekäre Segment.

In Niederösterreich ist man gespannt auf das Projekt, von dem im ersten Schritt 70 Personen mit „guter Arbeit“ profitieren sollen, weitere können folgen. Begleitet wird das Ganze von Wissenschaftler*innen der Universitäten Wien und Oxford, die damit eine weitere große soziologische Forschung empirisch begleitend aufsetzen.

Bereits nach der Weltwirtschaftskrise wurde an diesem Ort eine der bedeutendsten soziologischen Studien durchgeführt: „Die Arbeitslosen von Marienthal“ untersuchte die Wirkungen einer Fabrikschließung in der Marienthal-Siedlung in Gramatneusiedl in einer großen empirischen, bahnbrechenden, qualitativen wie quantitativen Untersuchung.

Die Siedlung existierte damals nur aufgrund der Fabrik – und von einem Tag auf den anderen waren dort alle arbeitslos. Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisel gingen auf Empfehlung des damaligen Vorsitzenden der österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer der Frage nach, was diese soziale Katastrophe mit den Menschen macht. Die Ergebnisse spiegeln bis heute den Arbeitsfetisch der Sozialdemokratie als auch der Linken wider: Drei Viertel aller arbeitslosen Männer fielen in Apathie und Depression, wussten nichts mit ihrer Zeit anzufangen und verloren jede sinnvolle Tagesstruktur. Sie kannten ja nichts anderes in der aufkommenden Industriegesellschaft. Im Gegensatz zu den Frauen, die weiter den familiären Laden am Laufen hielten. (Davon und von dem Folgenden steht in dem verlinkten Artikel aber nichts.)

Ein weiteres wichtiges „Learning“, von dem selten berichtet wird: Das Viertel der Männer, die (heute würde man sagen) resilienzfähig waren, überlebte diese Phase gut. Für sie war klar, dass dies eine zwar schwierige Lebensphase sei, aber bessere Zeiten wieder kommen würden. Sie planten ihr Leben nach dieser Katastrophe, während die Mehrheit sich in den Moment fallen ließ. Das ist vergleichbar zu der „trotzigen Zuversicht“, wie sie auch das „Stockdale Paradox“ zum Ausdruck bringt. (Ich hatte hier davon berichtet, ca. bei Minute 27.)

Krisenphasen zu durchleben mit Blick auf eine Zukunft, die vielleicht positiver ausfällt als der aktuelle Zustand, das wäre eine persönliche Eigenschaft, die alle Menschen im 21. Jahrhundert der VUCA-Welt ausprägen müssten. Und dabei sollten ihnen die bildungspolitischen Strukturen helfen.

Ob der Arbeitsfetisch entlang einer bezahlten Erwerbsarbeit dabei als stabilisierende Stütze gelten muss und weiterhin dauerhaft kann, zweifle ich an. Es gibt aber genug anderes zu tun. (Fragt mal all die Ehrenamtlichen und Care-Arbeiter*innen!) Lediglich die finanzielle Absicherung der Menschen muss gegeben sein. Mehr nicht. Geld steht dafür weltweit genug zur Verfügung. Nur über die Verteilung müssten wir sprechen.

Bin trotzdem sehr auf die Untersuchungsergebnisse gespannt. Immerhin macht man sich Gedanken. Und das ist gut so!

Worin besteht die Ideenarmut vieler Linker?

piqer:
Achim Engelberg

Hart geht Branko Milanovic mit vielen Linken ins Gericht: dabei meint er vor allem diejenigen, die sich an die „gute alte“ Zeit der sozialdemokratischen Epoche zurücksehnen und diese wiederherstellen wollen.Das ist aber für den zurzeit in New York lehrenden Ökonomen und Publizisten schlicht unmöglich.

Schlimmer noch als diese Ideenarmut ist aber der Versuch, eine vergangene Welt heraufzubeschwören, die mit moderner Lebensweise und moderner Wirtschaft völlig unvereinbar ist.

Dabei meint der in Belgrad geborene, in Jugoslawien aufgewachsene und 1987 promovierte Star-Ökonom auch eigene Illusionen, seinen eigenen argen Weg der Erkenntnis. Dieser verleiht seinen Texten eine Schärfe, die einige bestimmt abstößt, aber wer erkennen möchte, sollte sie – auch und gerade im Widerspruch – lesen.

Hier kann man sich aus dem Munde von Paul Collier dessen Position erläutern lassen, die Branko Milanovic schneidend kritisiert:

Collier plädiert dafür, die reiche Welt einzumauern, um Migration zu unterbinden, die angeblich kulturell disruptiv wirkt und die heimischen Arbeitskräfte schwächt. Eine solche Strategie, die besonders von den dänischen Sozialdemokraten verfolgt wird, rechtfertigt Collier damit, dass weniger entwickelte Länder durch den Weggang besonders qualifizierter und ehrgeiziger Arbeitskräfte noch tiefer in die Armut rutschen würden. Es liegt jedoch auf der Hand, dass die wahren Motive für eine solche Politik anderswo zu suchen sind.

Gut gebrüllt, Branko Milanovic, aber was möchten Sie?

Will die Linke unter den aktuellen Bedingungen in der Realität bestehen, muss sie ein Programm vorlegen, das den einstigen Internationalismus und Kosmopolitismus mit einer starken Umverteilung im Lande kombiniert.

Sie muss die Globalisierung unterstützen, ihre negativen Begleiterscheinungen abschwächen und ihr unzweifelhaftes Potenzial letztlich dazu nutzen, das Einkommen der Menschen in aller Welt anzugleichen.

Wer es genauer wissen will, greife zum Buch „Kapitalismus global – Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht“, dessen deutsche Übersetzung gerade bei Suhrkamp erschienen ist.

EU-Sanktionsdebatten: Autokraten strafen, ohne das Volk zu treffen

piqer:
Keno Verseck

Die EU führt zurzeit eine der größten und kontroversesten Sanktions- und Rechtsstaatlichkeitsdebatten der vergangenen Jahre. Es ging und geht in den letzten Wochen zum einen um neue Sanktionen gegen Russland wegen der Vergiftung Alexej Nawalnys und gegen Belarus wegen der gefälschten Präsidentschaftswahl und den Repressionen gegen die Protestbewegung im Land.

Zum anderen führt die EU auch eine Debatte um Sanktionsmöglichkeiten gegen Mitgliedsländer wie Polen und Ungarn, deren Regierungen eine antidemokratische Umgestaltung ihrer Länder betreiben. Konkret streitet man darüber, ob die Vergabe von Fördergeldern mit der Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze und Standards verknüpft wird.

In der Debatte haben sich prominente Beteiligte und Betroffene überwiegend gegen pauschale Sanktionen ausgesprochen. So etwa plädieren Alexej Nawalny und die inhaftierte belarussische Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa für gezielte Einreisesperren und Vermögenseinfrierungen gegen hochrangige Offizielle aus Russland und Belarus, da auf diese Weise nicht das Volk mitbestraft werden würde. Ähnlich ist es im Fall Ungarns, in dem derzeit darüber diskutiert wird, wie man Viktor Orbán, seine Regierung und Orbán-nahe Magnaten sanktionieren könnte, ohne die Ungarn zu treffen, beispielsweise dadurch, dass Fördergelder für Investitionsprojekte in oppositionellen Städten und Gemeinden wegfallen. Stichwort: „Orbán aushungern“ – wie es die EP-Vizepräsidentin Katarina Barley formulierte. Das Projekt Democracy Reporting des Balkan Investigative Research Network hat in Ungarn mit oppositionellen Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen sowie mit Politologen gesprochen und ist dabei unter anderem der Frage nachgegangen, ob eine dezentralisierte Vergabe von EU-Fördergeldern möglich wäre und auch die gewünschten Ergebnisse erzielen würde. Ein nuancierter Beitrag zu einem Thema, bei dem viele mit wohlfeilen Parolen und Forderungen um sich werfen.

Warum Deutschlands Corona-Strategie gerade zu scheitern droht

piqer:
Krautreporter

Ob Gesundheitsämter schnell genug Kontaktketten nachverfolgen können, ist entscheidend. Können sie es nicht mehr, stecken zu viele Menschen unabsichtlich andere an. Und das sorgt früher oder später für exponentielles Wachstum. Stecken sich zu viele an, können Gesundheitsämter die Kontaktketten nicht mehr schnell genug nachverfolgen.

Das ist der Mechanismus (aka Teufelskreis), der uns im Moment alle beschäftigt. Die Fragen dazu: Bei wie vielen Gesundheitsämtern ist diese Schwelle schon überschritten? Wo verlieren die Gesundheitsämter den Überblick? Und: Braucht es deshalb einen Strategiewechsel?

Silke Jäger schaut sich in diesem Text an, wie ein Strategiewechsel aussehen könnte und was dafür nötig wäre. Als Beispiel zieht sie dazu Japan heran – ein Land mit einer ähnlich alten Bevölkerung und einer ähnlichen Behördenstruktur. Auch dort sind lokale Gesundheitsbehörden mit der Aufgabe befasst, Kontakte nachzuverfolgen. Auch dort wird das zu einem großen Teil analog organisiert. Doch die Strategie unterscheidet sich von der Deutschlands: Japan konzentriert sich auf das Finden von Clustern.

Diese Strategie passt gut zu den Eigenschaften des Coronavirus. Denn verschiedene Studien zeigen, dass nur circa 10 Prozent der Infizierten für circa 80 Prozent der Ansteckungen sorgen. Es neigt zur Clusterbildung. Japans Ansatz zielt darauf ab, jeweils den Menschen zu finden, der alle anderen um sich herum angesteckt hat. Weil sich mit dem Finden dieses Menschen die Clusterstruktur besser verstehen lässt. Damit ist das Land ziemlich erfolgreich. Obwohl es ein Risiko eingeht, denn so können natürlich auch Infektionen unbemerkt bleiben.

Jetzt könnte man denken: Ist ja klasse. Könnte Deutschland doch auch so machen. Doch so einfach ist es nicht. Denn nicht nur die Strategie der Behörden ist wichtig. Viel wichtiger ist, dass Behörden und Bevölkerung gut zusammenarbeiten. Wenn man also darüber nachdenkt, die Kontaktnachverfolgung anders zu organisieren, müssen sehr viele Dinge mitbedacht werden. Unter anderem: Passt die Strategie wirklich zu dem, was die Bevölkerung mittragen kann? Und: Was müssten Behörden ändern, um Menschen zu ermächtigen, sinnvolle Entscheidungen zu treffen? Spoiler: Appelle allein reichen nicht.

Der Artikel ist mit dem Link unten einige Tage für alle freigegeben. Krautreporter gibt es nur, weil Menschen wie du uns finanzieren – und mitmachen. Das verändert unseren Journalismus. Mehr über Krautreporter erfährst du hier.