Fremde Federn

Unsicherheits-Gesellschaft, BRICS Plus, Deep Warming

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Weshalb Rassismus und ökonomische Unsicherheit zwei Seiten einer Medaille sind, wieso unsere Energie-Gier langfristig zu Deep Warming führt und warum das Strohhalm-Verbot wirkungslos war – aber dennoch viel gebracht hat.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Die Unsicherheits-Gesellschaft

piqer:
Rico Grimm

Die US-Schulden-Aktivistin Astra Taylor hat in der New York Times einen Text geschrieben, der eine der großen Debatten unserer Zeit eine sehr interessante neue Facette hinzufügt. Ausgehend von Ungleichheit und Vermögensverteilung hat sie sich mit Unsicherheit beschäftigt. Sie schreibt:

Wirtschaftsfragen, so habe ich festgestellt, sind auch emotionale Fragen: die Scham, wenn ein Inkassobüro anruft, das Adrenalin, wenn die Miete oder Hypothek fällig ist, die Befürchtungen, wenn man an die Rente denkt.

Taylor glaubt, dass unsere Gesellschaften so gebaut sind, dass diese Unsicherheit maximiert wird. Sie nennt das „manufactured insecurity“. Sicherlich liest sich diese These in einem US-Kontext noch mal anders, aber die Grunddynamiken sind in allen kapitalistischen Ländern gleich:

Es ist schwer vorstellbar, dass eine Werbe- oder Marketingabteilung uns sagt, dass wir eigentlich in Ordnung sind und dass es die Welt und nicht wir sind, die sich ändern muss.

Ich habe diesen Text auch deswegen ausgesucht, weil er vielleicht (endlich!) dabei helfen kann, dass wir über die neuen Rechten und Rechtspopulisten nicht nur als ein Ergebnis der „Kulturkämpfe“ berichten, sondern auch als ein Ergebnis (gefühlten) wirtschaftlichen Niedergangs. Es ist nicht die Angst vor den Fremden, die die Wähler zu AfD & Co treibt, sondern auch die Angst davor, in wirtschaftliche Not zu geraten oder dabei zusehen zu müssen, wie die eigene Region den Bach heruntergeht.

Taylor schreibt:

Die Geschichte, auch die jüngste, zeigt, dass schwierige Zeiten oder sogar die bloße Erwartung solcher Zeiten – das Gefühl, wirtschaftlich unsicher zu sein und das Schlimmste zu erwarten, unabhängig davon, ob diese Ängste objektiv gerechtfertigt sind oder nicht – die Anziehungskraft von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit erhöhen können.

Rassismus und Unsicherheit sind zwei Seiten einer Medaille.

Die BRICS-Illusion

piqer:
Jannis Brühl

Ich habe gerade die große Freude, mich durch das Werk von Nassim Nicholas Taleb zu arbeiten. Der Börsenhändler und Statistiker schreibt sich schnell in Rage, und was stets eine Art Grundwut bei ihm erzeugt, ist der Zwang der Menschen – insbesondere von Analysten, Politikern und Journalisten – für alles, was geschieht, Kategorien und Schubladen finden zu müssen. Er ist also quasi Anti-Platonist, und sieht weit weniger Systematik in unseren Vorstellungen von der Welt als viele andere Menschen, sondern vielmehr den Zufall am Werk. Ich piqe heute aber nicht Taleb, sondern den Ökonomen Noah Smith. Der schreibt in seinem aktuellen Newsletter über die BRICS-Staaten, und was in diesen Begriff für eine Staatengruppe hineinprojiziert wird (was mich an Taleb denken ließ).

Eine Anti-Nato mit eigener Währung, die sich über drei Kontinente erstreckt: Solche Zerrbilder sind im Umlauf über die Zukunft der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), die sich vergangene Woche trafen und um sechs zusätzliche Mitglieder erweiterten (Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate).

Smith erteilt jenen, die BRICS ernstnehmen, eine Absage: Es handele sich lediglich um eine weitere Gruppe, mit der China versuche, Staaten an sich zu binden – womit Peking bislang aber nicht besonders erfolgreich gewesen sei.

Er hebt mehrere Punkte hervor:

  • Der wichtigste: China und Indien sind Rivalen. Menschen in Indien – und Brasilien – haben (politisch) überwiegend keinen Bock auf China. Distanz zu China ist auch der Grund dafür, dass wirklich wachstumsstarke Staaten wie Vietnam oder die Philippinen dem Bündnis wohl nie beitreten werden.
  • Der Neuzugang Saudi-Arabien ist US-Partner, die Anti-Nato-Theorie also brüchig
  • Die Staaten haben keinerlei gemeinsame Wertegrundlage
  • Nur Russland, Iran und China sind militärisch und in ihrer anti-demokratischen Ausrichtung wirklich eine Allianz, die Sinn ergibt. Nur für diese drei Staaten dürfte (wegen westlicher Sanktionen), eine Währungsfusion unter dem Renminbi attraktiv sein

Smith geht davon aus, dass auch mit elf Mitgliedern nicht viel von BRICS zu erwarten ist:

two short paragraphs are sufficient to list the sum total of all the nothing that the BRICS organization has so far succeeded in doing. And yet somehow people keep believing that BRICS is an organization of global importance. I don’t just mean people in the Western press, but a number of countries around the world.

Eventuell gibt es einfach zu viele Menschen, die Angst vor einem Herausforderer der Nato haben – und mindestens ebenso viele, die auf einen solchen Herausforderer hoffen. Beide Lage projizieren ihre Gedanken (oder Gefühle?) in die BRICS hinein. Ein Fehlschluss, der Nassim Nicholas Taleb sicherlich in Rage gebracht hätte, so naiv ist er.

Unsere Energie-Gier führt langfristig zu Deep Warming

piqer:
Ole Wintermann

Mark Buchanan beschreibt aus seiner Sicht eines Physikers das langfristig auftretende Problem der Erwärmung unserer Atmosphäre durch die Abwärme, die energetischen Prozessen zu eigen ist oder mit den Worten eines Nicht-Physikers formuliert: Die Abwärme unserer Existenz könnte uns gefährlich werden.

Egal, ob es das Triebwerk eines Flugzeugs ist, das die Luft erwärmt, ob es die Viehfarm in den USA ist, auf der die Abwärme der vielen Rinder die Luft erwärmt oder ob es einfach die Bewegung eines Autos ist, das mit seinem Fortkommen die uns umgebenden Moleküle in einen höheren energetischen Zustand hebt, der sich dann als Wärme offenbart; all diese täglichen Begleiterscheinungen unserer Existenz führen der Atmosphäre Energie zu und bedrohen das natürlich Energiegleichgewicht zwischen Einstrahlung der Sonne und Abstrahlung von Energie in den Weltraum über die CO2-bedingte Klimaerwärmung hinaus.

Seit ca. 20 Jahren wird dieser bereits messbare Erwärmungseffekt von Physikern diskutiert, die mit Blick auf den 1. und den 2. Satz der Thermodynamik hinterfragen, ob unsere menschliche Zivilisation unter rein physikalischen Aspekten betrachtet auf Dauer überhaupt überleben kann. Auch die fortdauernde Steigerung der Energieeffizienz wird dieses Problem, das sich aus der Physik ergibt, nicht lösen können, da unser Energiebedarf (und der Umfang der damit einhergehenden Abwärme) schneller steigt als jeder Effizienzfortschritt. Zudem wird das Abwärmeproblem insbesondere durch den Rückgriff auf die auf der Erde geologisch gespeicherte Energie (wozu auch die Geothermie gehört) verstärkt.

Kann es eine Lösung dieses neuen Hitze-Problems geben?

Elektromobile Revolution oder Erhalt unserer Meeresböden?

piqer:
Magdalena Taube

Der zerstörungswütige Industriezweig namens „Bergbau“ schickt sich an, eine der letzten unberührten Lebenssphären unserer Erde für seine Zwecke zu „erschließen“: die Tiefsee. Das gilt der Fachwelt sowie Aktivist*innen als schwerwiegende Umweltbedrohung. Die Wissenschaftsjournalistin und Meeresbiologin Olive Heffernan schreibt in einem absolut lesenswerten Artikel:

Wir stehen vor dem Beginn eines grünen Goldrauschs, bei dem seltene Metalle, die für den Übergang zu einer klimafreundlichen Wirtschaftsform erforderlich sind, in großen Meerestiefen abgebaut werden.

Exemplarisch für den räuberischen und verantwortungslosen Vorstoß ist The Metals Company (TMC), ein Start-up aus Vancouver, das schon Anfang 2024 in der Clarion-Clipperton-Zone (CCZ) tätig werden will. Die CCZ erstreckt sich zwischen Hawaii und Mexiko und umfasst 4,5 Millionen Quadratkilometer, was 60 Prozent der Fläche Austra­liens entspricht.

Die TMC betrachtet den Tiefseebergbau als rare Gelegenheit, bislang unerschlossene Vorkommen wertvoller Erze zu erschließen, die für die Entwicklung und den Ausbau vermeintlich grüner Technologien, also Elektroautos, Solarzellen oder Windturbinen, gebraucht werden. Die Schätzungen des Unternehmens gehen davon aus, dass die in den von ihm beanspruchten CCZ-Gebieten geförderten Mengen an Nickel, Kupfer, Kobalt und Manganerzen ausreichen, um mehr als 250 Millionen Batterien für Elektroautos herzustellen.

Es gibt jedoch vielerlei Bedenken, was die ökologischen Folgen betrifft, zumal es wie gesagt noch keine Regeln für den Tiefseebergbau in diesem Bereich des Pazifik gibt. Es besteht die Gefahr, dass lokale Arten aussterben; darunter auch Spezies, die wissenschaftlich noch gar nicht erfasst sind. Eine neuere Studie hat ergeben, dass fast 90 Prozent der in der CCZ entdeckten Tierarten der Fachwelt bislang völlig unbekannt waren.

Die Liste der irreparablen Umweltbelastungen ist lang. Auch für den Fischfang wird es katastrophale Folgen geben. Die Autorin erklärt ferner, dass Akteure wie TMC nicht darauf warten wollen, bis die Regelwerke stehen. Sie werden alle erdenklichen Gesetzeslücken nutzen, um ihr Geschäft in Zusammenarbeit mit kleinen Inselstaaten voranzutreiben.

Höchste Zeit, sowohl die kapitalaffine Politik des „grünen Umbaus“ infrage zu stellen als auch zivilgesellschaftliche Kräfte zu bündeln, um die Verwandlung der Tiefsee in ein extraktivistisches El Dorado aufzuhalten.

Replik zu Hans Werner Sinns Angriff auf deutsche Klimapolitik

piqer:
Dominik Lenné

Der emeritierte Ökonomieprofessor und ex-Chef des ifo-Instituts hat jüngst in der FAZ (Bezahlschranke) die deutsche Klimapolitik als unsinnig (keine Doppelbedeutung beabsichtigt) gebrandmarkt. Insbesondere ist er mit der kontraintuitiven Behauptung aufgefallen, dass weniger Spritverbrauch in Deutschland (durch E-Autos) einfach zu mehr Spritverbrauch woanders führe und deshalb am Ende zu mehr Emissionen. Der „deutsche Alleingang“, der immer wieder in fruchtlosen Diskussionen mit Dekarbonisierungsgegnern auftaucht, sei also bloß ein nutzloser Verzicht auf Wohlstand. Diese befremdliche Ansicht wäre nicht der Rede wert, wenn Sinn nicht trotz vielfacher absonderlicher Einschätzungen immer noch als Autorität gehandelt würde.

Lion Hirth, Professor für Energiepolitik an der Hertie School, hat nun – ebenfalls in der FAZ – , eine Replik dazu geschrieben. Deren wesentlicher Inhalt ist auch ohne Bezahlschranke auf MSN.com zu lesen, was hier gepiqd worden ist.

Tenor ist, dass das Basis-Weltmodell der Wirtschaftswissenschaft, in dem Menschen in Märkten nur nach ihrem momentanen lokalen Vorteil handeln, zu unterkomplex ist, um die reale Welt zu beurteilen. Insbesondere gebe es Organisation und Kooperation – auch implizite, die dort nicht enthalten seien. Der Artikel ist kurz und klar.

Geldanlagen verständlich, aber nicht simpel erklärt

piqer:
Antje Schrupp

Seit etwa einem Jahr gibt es den Podcast „Geldtipp – Pferdchen trifft Fuchs“, den die Wirtschaftsjournalist*innen Stefanie Burgmaier (springerprofessional.de) und Ralf Vielhaber (Fuchsbriefe), alle zwei Wochen online stellen. Sie sprechen darin über verschiedene Möglichkeiten der Geldanlage – von klassischen Sparbriefen über nachhaltige Investments bis Kryptowährungen oder Edelmetalle – und erklären deren genaue Funktionsweise ebenso wie Chancen und Risiken, wobei die Meinungen zu Letzterem zwischen den beiden durchaus mal auseinandergehen. Dabei greifen sie auch aktuelle Trends auf, so beschäftigt sich eine der neueren Folgen mit der Frage, ob angesichts des Preisrückgangs bei Immobilien jetzt ein guter Zeitpunkt ist, dort zu investieren.

Auch wenn ich selbst nicht auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten bin, höre ich die kurzen Gespräche gerne, weil sie niedrigschwellig Wissen über die Finanzwirtschaft vermitteln und dabei eine gute Balance halten zwischen Verständlichkeit und notwendigem Tiefgang. Ein Hör-Tipp für alle, die ein gewisses Interesse und Vorwissen haben, aber keine wirklich professionelle Expertise.

Warum das Strohhalm-Verbot wirkungslos war, aber viel gebracht hat

piqer:
Rico Grimm

Das US-Umwelt-Magazin Grist hat eine schöne Reihe, „Remember When“ heißt sie. Darin schaut das Magazin, was Klima- und Umwelthypes eigentlich wirklich gebracht haben. In diesem Artikel betrachten sie das Verbot von Plastikstrohhalmen; eine extrem erfolgreiche Kampagne, weil sie inzwischen in vielen Bundesstaaten und Städten der USA sowie in der gesamten EU verboten sind. Einerseits, andererseits ist es aber auch eine extrem erfolglose Kampagne, weil von den acht Millionen Tonnen Plastik, die jedes Jahr im Meer entsorgt werden, nur 0,025 Prozent von Strohhalmen stammen. Der Kampagne wurde deswegen, auch weil so viele Stars und Celebritys mitmachten, schnell „Greenwashing“ vorgeworfen.

Der Text zeigt aber, dass es ganz so einfach nicht ist. Denn erstens ist das Strohhalmverbot ein sehr gutes Beispiel dafür, dass Aktivismus direkt in Gesetze münden kann, die weiterhelfen und zweitens ist eine Kampagne gegen Strohhalme aus Plastik natürlich auch eine Kampagne gegen Plastik. Der Kampf gegen das einzelne, gut greifbare Beispiel hilft dem Kampf gegen das etwas abstraktere Konzept.