Fremde Federn

Ungleichheit, KI-Wertschöpfungskette, AfD-Verbot

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Ein Interview mit einem publizistischen Demokratiefeind, wie KI Politikfolgenabschätzungen im Umweltbereich ermöglicht und warum eine geringere Ungleichheit Gesellschaften zufriedener macht.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Was in der Gesellschaft macht uns zufrieden: geringe Ungleichheit

piqer:
Dominik Lenné

Dieser sehr differenzierte, inhaltsreiche, gut lesbar geschriebene Artikel über Forschung zu der Frage, welche Eigenschaften einer Gesellschaft das Glück ihrer Mitglieder fördert, beginnt mit der Frage, wie man Glück überhaupt misst. Es gibt verschiedene Ansätze, aber der verbreitetste ist die einfache Frage nach einer Selbsteinschätzung auf einer Skala mit zehn Stufen.

Es werden mehrere Einflüsse diskutiert: Einkommen, Gene, soziale Kontakte und Vertrauen, soziale Sicherheit und der Bevölkerungsanteil von Immigranten. Von diesen gehe ich nur auf das Erste und Dritte hier etwas ein.

Es gibt das „Easterlin-Paradoxon“, nachdem der Aufstieg zu höherem Einkommen innerhalb einer Gesellschaft glücklicher macht, das über zehn oder zwanzig Jahre verlaufende Reicherwerden der Gesellschaft als Ganzes jedoch nicht. Die Erklärung ist, dass die Zufriedenheitseinschätzung von der eigenen Stellung in der Umgebung abhängt, also durch Vergleichen entsteht. Es konnte in mehreren Studien gezeigt werden, dass die Menschen bei geringerer Einkommensspreizung zufriedener sind, auch wenn das mittlere Niveau vielleicht niedriger ist. Ungleichheit macht Stress.

„Soziales Kapital“ ist das System der Bindungen, in dem wir leben und das Vertrauen, das diese repräsentieren. Es ist ein wichtiger Faktor für Zufriedenheit. Wenn ökonomisches Wachstum mehr Arbeitsstunden und mehr Konkurrenz bedeutet, kann es das soziale Kapital vermindern.

Die Gleichung vieler Ökonomen: „Zufriedenheit = pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt“, die als evident angesehen wird, geht in Wahrheit nicht auf. Diese Erkenntnis ist aber, da unintuitiv, am Rand unseres Weltwissens verblieben. Zum Sozialprodukt alternative Indizes als Zielgröße für Regierungshandeln setzen sich nur sehr langsam durch, wenn überhaupt.

Die anderen Einflüsse referiere ich hier nicht – man lese den Artikel.

Anmerkung: 

Wenn wir uns die auf Gallup-Umfragen beruhende Welt-Glück-Karte anschauen, sehen wir, dass der globale Süden, besonders Afrika, aber auch der gesamte Streifen von der Türkei über Iran, Afghanistan, Pakistan, Indien bis Myanmar schlecht wegkommt. Armut und Konflikte sind objektiv kein guter Nährboden für Zufriedenheit.

Man muss sich u.U. ein kostenloses Konto beim New Scientist einrichten, um den Artikel lesen zu können.

Die KI-Wertschöpfungskette sichtbar gemacht

piqer:
Magdalena Taube

Ist KI zuverlässig oder eine außer Kontrolle geratene Technologie? Nimmt KI uns die Jobs weg? Was macht KI mit unseren Gehirnen, unserer Kultur und unserer Gesellschaft? KI wird vielschichtig diskutiert. Und das ist gut so.

Ana Valdivia – Dozentin für Künstliche Intelligenz, Regierung und Politik am Oxford Internet Institute – hat die KI-Wertschöpfungskette untersucht und eine sehr anschauliche und lehrreiche Grafik auf Twitter veröffentlicht. Sie zeigt die Verbindung zwischen einem Ingenieur, der in Großbritannien einen Algorithmus trainiert, einem Minenarbeiter, der in Kasachstan Tantal abbaut, einem Ingenieur in Mexiko, der in einem Rechenzentrum arbeitet, einem Arbeiter in Taiwan, der Grafikprozessoren herstellt, und einem Arbeiter in Kenia, der Elektroschrott entsorgt.

Die dazugehörige Studie wird in diesen Tagen durch die Autorin auf arxiv veröffentlicht und dürfte, wie die lebhaften Diskussionen um die Grafik auf Twitter zeigen, für Gesprächsstoff sorgen. Schließlich geht es um die unsichtbar gemachten Verbindungen unserer digitalen Gesellschaft – die KI als Allheilmittel und Bedrohung ersten Ranges ‚feiert‘ – zu einer Welt, in der ‚unsere‘ KI gemacht wird. Nur wenn wir diesen Zusammenhängen nachgehen, können wir die vielen Diskussionen, die wir über KI führen, so führen, wie sie geführt werden sollten: mit einem informierten Blick für die ethisch-ökologisch-ökonomischen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten im internationalen Maßstab, die wir sonst in unserer Blase ausblenden.

Warum alles gleich aussieht, Teil 2

piqer:
Jannis Brühl

Dies ist ein Follow-up-piq. 2022 habe ich hier „Warum alles gleich aussieht“ geschrieben. Darin ging es um das Airspace-Essay des Reporters Kyla Chayka, das 2016 auf The Verge erschienen war. Chayka beschrieb darin, wie AirBnB und andere Plattformen die Welt langsam geformt hatten – bis viele Orte gleich aussahen („Minimalist furniture. Craft beer and avocado toast. Reclaimed wood. Industrial lighting. Cortados. Fast internet.“).

Der Guardian hat nun einen Auszug aus dem Buch „Filterworld“ von Chayka veröffentlicht. Darin führt der den Gedanken fort und geht in die Tiefe: Unsere analoge Kultur wird demnach nicht nur von der Ästhetik, sondern auch von Funktionsweisen und Algorithmen von Social Media geprägt, insbesondere dem von Instagram. Das Essay kreist jenen Punkt ein, an dem das Digitale in die vermeintlich getrennte Offline-Welt schwappt – und zeigt damit zugleich unfreiwillig, dass diese Unterscheid tatsächlich obsolet geworden ist.

Die Digitalisierung als Verlängerung der Globalisierung hat einen irritierenden Effekt: Sie standardisiert eine eigentlich diverse Welt. Die Vernetzung führt zumindest kulturell zu Vereinheitlichung. Chayka hält das für ungut, was er anhand von Café-Besitzern von Bukarest bis Australien beschreibt:

Pursuing Instagrammability is a trap: the fast growth that comes with adopting a recognisable template, whether for a physical space or purely digital content, gives way to the daily grind of keeping up posts and figuring out the latest twists of the algorithm – which hashtags, memes or formats need to be followed. Digital platforms take away agency from the business owners, pressuring them to follow in lockstep rather than pursue their own creative whims.

Bleibt die Frage, was dagegen hilft. Chayka setzt auf den Klassiker unter den Gegengiften: Offline-Gemeinschaften.

 In a way, coffee shops are physical filtering algorithms, too: they sort people based on their preferences, quietly attracting a particular crowd and repelling others by their design and menu choices. That kind of community formation might be more important in the long run than attaining perfect latte art and collecting Instagram followers

Wie so oft stellt sich die Frage, ob so ein idealistisch-simples „macht doch einfach offline was Schönes“ reichen kann. Die Tyrannei des Algorithmus wirkt schließlich auch auf jene, die sich ihr zu entziehen versuchen.

KI ermöglicht Politikfolgenabschätzung im Umweltbereich

piqer:
Ole Wintermann

Eine relativ kurze Meldung der University of California, Berkeley, lässt aufhorchen, auch wenn sich die Ergebnisse der Analyse der dort beschriebenen Künstlichen Intelligenz wegen der unterschiedlichen Rechtssysteme in den USA und Deutschland nicht 1:1 auf Deutschland übertragen lassen: Ein Team der Universität hat eine KI daraufhin trainiert, die vergangene und die zukünftig prognostizierte Wirkung von Regularien, die Feuchtgebiete, Flussläufe und Trinkwasser-Reservoirs beeinflussen, zu untersuchen.

Was diese Methode so bedeutend macht ist, dass, so wie es ein Forschender formuliert, die KI die DNA einer umweltpolitischen Aktivität entschlüsselt und damit die betroffene Fläche der Aktivität ex ante abschätzt und ex post überprüfen kann. Hiermit kann KI die Performanz einer politischen Entscheidung direkt messbar machen. Die Implikation dieser Methode kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, wenn Wissenschaft den nächsten Schritt geht, und diese Methode auch auf andere Politikfelder ausweitet. In Deutschland gab es seit den 1970ern immer wieder den Versuch einer systematischen Politikfolgenabschätzung. Diese rückt mit dieser neuen Methode in greifbare Nähe und könnte Politik rationaler und weniger parteipolitisch gefärbt werden lassen.

Weshalb rechtliche Schritte gegen die AfD doch nötig sind

piqer:
Jürgen Klute

Seit der Veröffentlichung der Correctiv-Recherche zu den Deportations-Plänen rechtsextremer Kreise inklusive der Neo-Nazi-Partei AfD ist nicht nur die Anzahl von Demonstrationen gegen diese menschenverachtenden und menschenrechtswidrigen Pläne in einem erfreulichen Maße nach oben geschnellt. Auch die Debatte um rechtliche Schritte gegen die AfD und ihren thüringischen Repräsentanten Björn Höcke, der schon seit längerem Deportations-Pläne propagiert, ist intensiver geworden.

Auf der einen Seite argumentieren BefürworterInnen rechtlicher Schritte, dass die im Falle eines Erfolgs die AfD finanzielle empfindlich treffen würden. Kritikerinnen verweisen hingegen darauf, dass ein solches Verfahren sehr lange dauert und die AfD sich als Opfer inszenieren könne und im Falle eines Scheiterns sich sogar als verfassungskonform darstellen könne.

In einem Essay für die taz hat Andreas Fischer-Lescano das Für und Wider rechtlicher Schritte noch einmal genauer unter die Lupe genommen. Fischer-Lescano lehrt Verfassungsrecht und Internationales Recht an der Universität Kassel und leitet dort außerdem das Fachgebiet Just Transitions.

Gut begründet kommt er zu dem Schluss, dass rechtliche Schritte gegen die rechtsextreme AfD mit hoher Wahrscheinlichkeit angesichts der bisherigen Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes Erfolg haben dürften. Aber selbst dann, wenn die diskutieren rechtlichen Schritte nicht zum gewünschten Erfolg vor dem BVerG führen sollten, hält Fischer-Lescano rechtliche Schritte für nötig und sinnvoll. Auch für diese Einschätzung nennt er gute Gründe, allerdings auch Bedingungen, unter denen ein ausbleibender juristischer Erfolg sich dennoch zu einem politischen Erfolg wenden kann.

Ein in der aktuellen Debatte unbedingt empfehlenswerter und lesenswerter Debattenbeitrag!

Zum Stand des Greenwashings in der Nahrungsmittelindustrie

piqer:
Ole Wintermann

Ebenso wie die Erdölindustrie gerät auch zunehmend der Teil der Nahrungsmittelindustrie unter Druck, der seine Produkte größtenteils auf der Massentierhaltung (Schlachtung und Milcherzeugnisse) aufbaut. Dabei ist festzustellen, so die Bestandsaufnahme der Washington Post, dass Begriffe wie z.B. „klimafreundlich“ für Produkte genutzt werden, die eindeutig nicht als solche deklariert werden können, oder wie es es ein Wissenschaftler ausdrückt: Es gibt keinen klimafreundlichen Burger, der auf der Haltung von Nutztieren basiert.

Die Nahrungsmittelindustrie und die Gastronomie versuchen dabei – ungewollt oder bewusst – die Komplexität der Nomenklatura, der Berechnungsmethoden und der Lieferketten zu nutzen, um am Ende der Lieferkette den Begriff der Klimafreundlichkeit nutzen zu können. So wird dieser Begriff beispielsweise von Fleischproduzenten bezüglich der eigenen Fleischprodukte genutzt, da die GHG-Emissionen des Produktes gerade einmal 10% unter dem Branchenschnitt liegen.

Zu Recht wird auf Planungen der EU hingewiesen, Greenwashing demnächst zu verbieten. Erste Schritte wie das Verbot, Fliegen als klimafreundlich zu deklarieren, wurde ja bereits unternommen.

Der Text bietet eine gute Übersicht über die entsprechende Situation auf dem US-Fleisch- und Burger-Markt. Letztlich kann nur an die Fleischproduzenten appelliert werden, ihr Geschäftsmodell, das auf der Ausbeutung von Lebewesen basiert, grundsätzlich zu überdenken.

Hubert Seipel: Interview mit einem publizistischen Demokratiefeind

piqer:
Jan Freitag

Korrupte Journalist*innen zerstören nicht nur ihr Berufsethos, sondern Pluralismus, Pressefreiheit, mithin die gesamte Demokratie. Weil er den Anschein von Seriosität erweckt, sind solche wie Hubert Seipel, der sich seit Jahren fürstlich dafür bezahlen lässt, den russischen Diktator Wladimir Putin publizistisch ins bestmögliche Licht zu stellen, gefährlicher als rechte Demagogen.

Daran ändert auch ein aufschlussreiches Interview in der Zeit wenig. Es bietet aber Aufschluss über Hubert Seipels Denken und Handeln, seine Sicht auf Kolleg*innen, Branche, Transparenz und Moral, die in einem bemerkenswerten Zitat gipfelt, das die zynische Geschmeidigkeit seiner Argumentationsversuche gut zum Ausdruck bringt:

Was ich hasse, sind Journalisten, die einen Missstand benennen, aber nicht ausschließlich berichten, sondern die Gelegenheit nutzen, um sich selbst vor die Kamera zu stellen, um zu zeigen, dass sie selbst `gute´ Menschen auf dem richtigen Weg sind.

Wer diesen Artikel von Götz Hamann liest, versteht den Diktatoren-Freund Hubert Seipel ein bisschen besser – mehr aber noch, warum Rechtsextreme von Viktor Orbán über Donald Trump und Wladimir Putin bis hin zu Björn Höcke aktuell so erfolgreich sind.