Umfrage

Wie Studierende die Volkswirtschaftslehre an deutschen Hochschulen erleben

Welche Ziele und Erwartungen haben VWL-Studierende, welche Defizite und Stärken sehen sie, wie sehr hat sie das Studium in ihrem Denken und Handeln beeinflusst und wie nehmen sie die Pluralismus-Debatte wahr? Eine Umfrage an fünf deutschen Hochschulen gibt Aufschluss.

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Eine Reihe von Studien des Forschungsinstituts für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) hat in den letzten dreieinhalb Jahren systematisch den Zustand der Ökonomik in Deutschland untersucht. Dabei wurde unter anderem folgenden Fragen nachgegangen: Welche Lehrbücher werden an deutschen Hochschulen verwendet? Wie plural sind sie? Wie sind Lehrstühle besetzt? Und was denkt eigentlich der wissenschaftliche Nachwuchs über sein Fach?

Die Ergebnisse dieser Studien werden in einer Beitragsserie im Makronom veröffentlicht. Insgesamt gibt es zwölf Beiträge, von denen pro Woche immer einer montags erscheinen wird. In dieser Woche stellen Eva Schweitzer-Krah und Tim Engartner die Ergebnisse einer Erhebung unter Studierenden vor.

Im deutschsprachigen Raum fehlt es bisher an Erhebungen, die aus Sicht der Studierenden systematisch Aufschluss darüber geben, wie sie das Fach VWL und die Debatte um mehr Pluralismus wahrnehmen. Mit welchen Zielsetzungen und Erwartungen verfolgen sie etwa ihr Studium? Welche Defizite und Stärken sind aus ihrer Perspektive in der ökonomischen Bildung zehn Jahre nach der Finanz- und Wirtschaftskrise prävalent? Wie sehr hat sie das Studium der Volkswirtschaftslehre in ihrem Denken und Handeln beeinflusst? Und wie stark sind sie selbst in der Pluralismus-Debatte engagiert?

Diese Fragen stehen im Zentrum des vorliegenden Beitrags, der die Befunde einer explorativen schriftlichen Befragung unter Studierenden der VWL an fünf deutschen Hochschulen zusammenfasst (eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse finden Sie hier).

Wer wurde wie befragt?

Im Sommersemester 2017 wurden VWL-Studierende des 4. Fachsemesters an den Universitäten Bonn, Frankfurt (Main), Hamburg, Heidelberg und Mannheim befragt. Diese Standorte zählen laut Handelsblatt-Ranking 2015 zu den zehn größten deutschen Fakultäten für VWL, gemessen an der Zahl der dortigen Professuren (von 14 in Heidelberg bis 27 in Bonn). Die Universitäten bieten jeweils grundständige wirtschaftswissenschaftliche Bachelor- bzw. Masterprogramme an, die sich dem ökonomischen Mainstream in Deutschland zuordnen lassen.

Die Befragung erfolgte vor Ort in einer für das 4. Fachsemester verbindlichen Vorlesung. Dieser Auswahl lag die Überlegung zugrunde, dass Viertsemester im Vergleich zu Hochschulanfänger*innen über hinreichende Studienerfahrungen und disziplinspezifische Kenntnisse verfügen, um valide Aussagen zu den ökonomischen Lehrinhalten und -methoden sowie zur Wahrnehmung der Pluralismus-Debatte treffen zu können. Damit erweist sich diese Kohorte als geeignete Zielpopulation für das Erkenntnisinteresse der Untersuchung.

Durch das bewusste Auswahlverfahren anhand der Kriterien Studiengang, Fakultätsgröße, Mainstream-Orien­tierung, Fachsemesterzahl und Lehrveranstaltungspräsenz ist die Erhebung allerdings nicht repräsentativ. Sie erlaubt allein eine explorative Annäherung an die Frage, wie die aktuelle Ausgestaltung der ökonomischen Lehre in Teilen der nationalen Studierendenschaft wahrgenommen wird. Auffällig ist hierbei, dass die Befunde im Hochschul- und Geschlechtervergleich erstaunlich einheitlich ausfallen. Dies lässt vermuten, dass in der Stichprobe womöglich allgemeine Wahrnehmungsmuster zum Ausdruck kommen, die ggf. auch an anderer Stelle Geltung besitzen. Um dies näher überprüfen zu können, bedarf es allerdings weiterer Replikationen.

Ergebnisse

Insgesamt beantworteten 351 Studierende den Fragebogen, wobei die jeweiligen Stichprobenzahlen zwischen 41 (Hamburg) und 120 (Mannheim) variierten (weitere Informationen zu den Charakteristika der Stichprobe finden Sie hier). Die Viertsemester gaben im Fragebogen zu 18 Items Auskunft. Diese bezogen sich auf drei Themenbereiche:

  • die Selbstreflexion der Studierenden, die ihre Studienmotivation, ihre Berufswünsche und ihre persönliche Entwicklung umfasst;
  • die Fachreflexion, die auf die Wahrnehmung und Bewertung des ökonomischen Lehralltags abzielt und
  • die Diskursreflexion, die sich mit der Kenntnis und dem Engagement der Befragten in der Pluralismus-Debatte auseinandersetzt.

Nachfolgend fassen wir die jeweiligen Kernergebnisse zusammen.

Idealistische Studienmotive und Berufsziele

Die befragten Studierenden wenden sich anfänglich aus idealistischen Beweggründen der Volkswirtschaftslehre zu. Sie waren schon immer an Wirtschaftsthemen interessiert (71,8%), möchten gesellschaftliche Zusammenhänge verstehen lernen (61,3%) und selbst einen aktiven Beitrag zu einer besseren Welt leisten (40,7%). Erst nachgeordnet folgen eigennützige Motive, wie z. B. die Verbesserung der individuellen Jobchancen mit einem Studienabschluss in Ökonomik (29,9%) oder das Bestreben, anhand des erworbenen Fachwissens für die persönliche Absicherung finanziell vorsorgen zu können (21,7%).

Dieser eher idealistisch geprägte Antrieb bei der Studienfachwahl schlägt sich auch in den Berufszielen der Befragten nieder. Neben klassischen Karrierewegen in den Sektoren Banken & Finanzen (18,5%), Unternehmensberatungen (10,3%) und Indus­trie (9,7%) finden sich unter den sechs am häufigsten genannten Bereichen ebenso die Felder Politik & öffentliche Verwaltung (14,3%), Forschung & Lehre (10,0%) sowie gemeinnützige Organisationen (9,4%).

Persönliche Veränderungen durch Wettbewerbsdruck

Der anfängliche Idealismus in der Stichprobe bleibt nach vier Semestern VWL allerdings nicht erhalten. Im Fragebogen wurden die Studierenden gebeten, für insgesamt 15 Eigenschaften bzw. Fähigkeiten anzugeben, ob sie im Laufe des Studiums eine Veränderung an sich beobachtet haben und falls ja, in welche Richtung (zunehmend bzw. abnehmend oder gleichbleibend). Dazu lag den Befragten eine fünfstufige Bewertungsskala vor.

Hochschul- und geschlechterübergreifend zeigt sich dabei dieselbe Tendenz: Gemeinwohlorientierte Eigenschaften wie Gerechtigkeitssinn, Idealismus, Solidarität und Hilfsbereitschaft treten in den Hintergrund, während vorteilsbedachte Attribute wie Leistungsdruck, Karriereambitionen und Konkurrenzdenken deutlich an Raum gewinnen. In ihrem Verhalten nehmen die Studierenden damit verstärkt Züge eines Menschenbildes an, das einem nutzenkalkulierenden „Homo oeconomicus“ entsprechen würde. Für diese Veränderung machen die Studierenden der Stichprobe vor allem einen Faktor verantwortlich: den immensen Wettbewerbsdruck in ihrem Fach, der hochschulweit beklagt wird (56,4%). Auch die ökonomische Lehre selbst betrachten die Viertsemester eher skeptisch (siehe unten).

 

Fachkritik

Insgesamt bestätigen die Studierenden der Stichprobe die Kritikpunkte der Pluralismus-Debatte: Sie nehmen im Lehralltag kaum Bezüge zu angrenzenden Disziplinen wahr, wie z. B. Geschichte, Psychologie oder Soziologie. Dabei stimmt der Großteil der Befragten (74,2%) der Aussage zu, dass Erkenntnisse aus anderen Fächern notwendig seien, um ökonomische Sachverhalte verstehen zu können. Stattdessen sei das VWL-Studium praxisfern (55%) und von einer starken mathematischen Grundausrichtung geprägt.

Dies zeigt sich besonders in den vermittelten Methoden: Es dominieren Gleichgewichts- (93,5%) und aggregierte ma­kroökono­mische Modelle (92,4%) sowie Regressions- bzw. Zeitreihenanalysen (78,6%). Andere sozialwissenschaftliche Zugänge wie Fallstudien (27,5%), Experimente (22,4%), Umfragen (11,4%) oder Diskurs- (8,4%) bzw. Netzwerkanalysen (3,0%) würden dagegen kaum in den ersten vier Semestern vermittelt. Dies gilt ebenso für Neuerungen innerhalb der VWL, wie z.B. die Bereiche Neuroökonomik (2,4%) und Ökonophysik (0,6%).

Der Fokus der volkswirtschaftlichen Betrachtung bleibt zudem auch nach der Finanz- und Wirtschaftskrise auf Individuen als zentrale Erkenntnisobjekte gerichtet (46,9%), während globale Systemzusammenhänge (29,9%), Institutionen (12,5%) oder Gruppen (5,1%) bzw. Netzwerke (4,5%) weiterhin wenig Aufmerksamkeit erfahren.

In gleicher Weise problematisch erscheint den Befragten der mangelnde gesellschaftliche Bezug des Faches. In einer Priorisierungsaufgabe konnten Studierende eine Rangfolge zur wahrgenommenen Relevanz von sechs vorgegebenen Grundthemen bilden. Dabei offenbart sich eine deutliche Kluft zwischen den wissenschaftlich verfolgten und den gesellschaftlich drängenden Fragen der Gegenwart: Aus Sicht der Viertsemester konzentriert sich die Volkswirtschaftslehre überwiegend auf Aspekte der neoklassischen Knappheitsproblematik – zentrale soziale Herausforderungen wie das „gute Leben“ oder der Umgang mit Ungleichheit finden demgegenüber kaum Beachtung. Forschung und Praxis driften damit in der Wahrnehmung der Studierenden auseinander. Dies ist auch deshalb als gravierend einzustufen, da sich die Befragten der Stichprobe nicht zuletzt für ein Studium der VWL entschieden haben, um einen gesellschaftlichen Beitrag leisten zu können (siehe oben). Diesem Ziel kommen sie in der Fachreflexion jedoch nicht näher.

 

Kaum Beteiligung an der Pluralismus-Debatte

Das Auseinanderdriften zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und die wahrgenommenen Einseitigkeiten in der ökonomischen Hochschullehre führen allerdings nicht dazu, dass sich die Studierenden verstärkt für eine Erneuerung ihres Faches einsetzen. Zwar hat der Großteil der Befragten schon von der Pluralismus-Debatte gehört. Nur wenige verfolgen diese jedoch intensiv und allein ein Bruchteil ist persönlich engagiert, etwa über die Teilnahme an entsprechenden Veranstaltungsreihen oder durch die Mitarbeit in lokalen Initiativen.

Offenbar geben viele Studierende der Befolgung des klassischen Prüfungsstoffes den Vorzug vor einer Beteiligung an der Pluralismus-Debatte, von deren Ausgang sie selbst kaum mehr profitieren dürften

Die Pluralismus-Bewegung steht damit vor dem Dilemma, trotz der breiten inhaltlichen Zustimmung innerhalb der Studierendenschaft kaum aktive Unterstützer*innen gewinnen zu können. Hierfür scheint der erlebte Wettbewerbsdruck in der VWL maßgeblich zu sein. Dieser mindert einerseits die allgemeine Bereitschaft der Befragten, sich selbstlos und idealistisch einzubringen (siehe oben). Zum anderen regt er die Studierenden dazu an, stärker eigennützig abzuwägen, wie sie Zeit, Energie und Ressourcen für ihren persönlichen Studienerfolg investieren. Offenbar geben sie dabei der Befolgung des klassischen Prüfungsstoffes den Vorzug vor einer Beteiligung an der Pluralismus-Debatte, von deren Ausgang sie selbst kaum mehr profitieren dürften. Damit fehlt der studentischen Pluralismus-Bewegung indes der notwendige Impetus, um flächendeckende Veränderungen in der VWL anstoßen zu können.

 

Schlussfolgerung

Sollten sich diese explorativen Ergebnisse in weiteren Untersuchungen bestätigen, dann wären für den Erfolg der Pluralismus-Debatte und die inhaltliche Erneuerung der VWL zusätzliche Impulse jenseits der Studierendennetzwerke umso wichtiger. Diese könnten das fehlende studentische Engagement über die Mobilisierung anderer Anspruchs- und Interessengruppen womöglich kompensieren. Hierbei wären vor allem drei Aktionskreise denkbar:

1.) Hochschulpolitische Initiativen, die die Pluralisierung der klassischen ökonomischen Lehre vorantreiben;

2.) alternative Bildungsangebote mit interdisziplinärem und multiparadigmatischem Zugriff, welche beispielsweise durch unabhängige Träger verantwortet werden; sowie schließlich

3.) eine verstetigte sozialwissenschaftliche Begleitforschung. Letztere könnte verstärkt auf die blinden Flecken der gegenwärtigen VWL aufmerksam machen und so zu einer empirischen Fundierung der Pluralismus-Debatte beitragen.

 

Zu den AutorInnen:

Eva Schweitzer-Krah ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt politische Bildung der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Tim Engartner ist an der Goethe-Universität als Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt politische Bildung tätig.

 

Hinweis:

Alle Beiträge der Serie finden Sie hier.