Economists for Future

Die Sprache des Kapitalismus

Die Welt ist zweifellos ungleicher geworden. Aber wieso gibt es keinen kollektiven gesellschaftlichen Aufschrei gegen diese Entwicklung? Ein Beitrag von Daniel Stähr.

Bild: Pixabay

Unsere Gesellschaft befindet sich inmitten eines tiefgreifenden Transformationsprozesses. Im Zentrum: die Wirtschaft und die Suche nach Wegen zur Nachhaltigkeit. Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob uns dieser Wandel by disaster passiert – oder by design gelingt.

Die Debattenreihe Economists for Future (#econ4future) widmet sich den damit verbundenen ökonomischen Herausforderungen und diskutiert mögliche Lösungsansätze. Die Beiträge analysieren Engführungen in den Wirtschaftswissenschaften und Leerstellen der aktuellen Wirtschaftspolitik. Zugleich werden Orientierungspunkte für ein zukunftsfähiges Wirtschaften aufgezeigt und Impulse für eine plurale Ökonomik diskutiert, in der sich angemessen mit sozial-ökologischen Notwendigkeiten auseinandergesetzt wird.

Die Kooperation zwischen Economists for Future e.V. und Makronom startete mit der ersten Ausgabe 2019. Seitdem ist jährlich eine neue Reihe mit wechselnden Themenschwerpunkten erschienen. Die mittlerweile sechste Staffel beleuchtet nun Aspekte rund um das Thema Überfluss. Hier finden Sie alle Beiträge, die bisher im Rahmen der Serie erschienen sind.

Die Feststellung, dass die Vermögensungleichheit insbesondere in Europa und Nordamerika seit der Thatcher- und Reagan-Ära enorm zugenommen hat, ist weder besonders kontrovers noch neu. Spätestens seit Thomas Pikettys Kapital im 21. Jahrhundert (2014) hat die Ungleichheitsforschung einen prominenten Platz in den Wirtschaftswissenschaften sowie im öffentlichen Diskurs. Meldungen darüber, dass die beiden reichsten Familien in Deutschland mehr Vermögen besitzen als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, oder dass die zehn reichsten Menschen der Welt während der Corona-Pandemie ihr Vermögen verdoppeln konnten, wohingegen ein Großteil der Erdbevölkerung ökonomisch extrem unter der Pandemie litt, gehören quasi zum Alltag.

Die Frage, die am Anfang des gegenwärtigen politischen Diskurses stehen sollte, ist somit nicht die, nach den Gründen und Auswirkungen dieser zunehmenden Ungleichverteilung von Vermögen – denn die Antworten darauf sind bekannt. Die eigentliche Frage sollte lauten: Wieso gibt es keinen kollektiven gesellschaftlichen Aufschrei gegen diese Entwicklung?

Wenn der Guardian berichtet, dass das reichste Prozent für mehr klimaschädlichen Ausstoß verantwortlich ist als die ärmsten zwei Drittel der Erde, oder der Global Tax Evasion Report 2024 detailliert die (euphemistisch ausgedrückt) Steuervermeidungsstrategie der Überreichen beschreibt, gibt es keine Großdemonstrationen auf den Straßen europäischer oder nordamerikanischer Metropolen. Warum ist es kein beherrschendes Wahlkampfthema, dass das reichste Prozent der Deutschen über siebenmal so viel Vermögen verfügt wie die ärmere Hälfte (24% Anteil am Gesamtvermögen zu 3,5%; betrachtet man die reichsten zehn Prozent sind es sogar 58% zu 3,5%, Quelle: World Inequality Database)? Und wieso wird kaum diskutiert, dass dieses Vermögen zu fast zwei Dritteln aus Erbschaften oder Schenkungen stammt – und damit im wahrsten Sinne des Wortes leistungslos erwirtschaftet wurde?

Was rechtfertigt unsere Ungleichheit?

Thomas Piketty kann uns dabei helfen, diese Frage zu beantworten. Nicht mit dem Kapital im 21. Jahrhundert, sondern mit Kapital und Ideologie (2019), seinem monumentalen Werk. Dem Buch liegt eine einfache These zu Grunde: Jede Gesellschaft braucht eine Rechtfertigung für ihre Ungleichheit. Wenn gesamtgesellschaftlich akzeptierte Erzählungen fehlen, die erklären, wieso es Menschen gibt, die sehr viel besitzen und andere extrem wenig, kann das Zusammenleben nicht funktionieren. Zu Feudalzeiten war die Erklärung für die enormen Vermögens- und Einkommensunterschiede zwischen dem Adel und dem Klerus auf der einen und der Landbevölkerung auf der anderen Seite der göttlicher Wille. Dieser legitimierte die Konzentration von Macht und Reichtum auf einige wenige. Was passiert, wenn eine Gesellschaft sich mit dieser Erklärung nicht mehr zufrieden gibt, hat die Französische Revolution exemplarisch gezeigt.

Heute ist die Erklärung subtiler – und daher umso wirkungsmächtiger. Das Heilsversprechen des Kapitalismus lautet: Jeder ist seines Glückes Schmied. Heutige Vermögens- und Einkommensunterschiede werden in erster Linie durch das Leistungsprinzip gerechtfertigt, völlig unabhängig davon, wie falsch diese Erklärung ist.

Die permanent wiederholte Geschichte geht wie folgt: Jeder Mensch, egal wie arm oder reich er geboren wurde, kann durch eigene Anstrengungen reich werden oder zumindest ein gutes Leben führen. Und selbst wenn wir inzwischen wissen, dass Faktoren wie Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft, Status der Eltern deutlich wichtiger sind als die eigenen Anstrengungen, verhalten sich die meisten Menschen nach diesem kapitalistischen Credo. Auch wenn vielen auf einer rationalen Ebene bewusst ist, dass sie in einem ungerechten System leben, investieren sie in Bildung, gehen studieren oder machen eine Ausbildung. Alles in der Hoffnung, dass die Gesellschaft sie für ihre Mühen mit einem schönen Leben belohnt. Bei aller Skepsis gegenüber dem kapitalistischen System, die sich in Umfragen immer wieder zeigt, verhalten sich die meisten dem System gegenüber konformistisch – ob aus wahrgenommener und empfundener Macht- und Alternativlosigkeit heraus oder nicht, spielt keine Rolle.

Die Sprache des Kapitalismus

Dieses paradoxe Verhalten lässt sich unter anderem durch einen Aspekt des menschlichen Zusammenlebens erklären, dessen Bezug zur ökonomischen Sphäre lange Zeit ignoriert wurde – unsere Sprache. Unter der Sprache des Kapitalismus verstehen der Kultur- und Geisteswissenschaftler Simon Sahner und ich ein sprachliches System, das sich in den vergangenen Jahrhunderten in Wechselwirkung mit unserem Wirtschaftssystem herausgebildet hat. Dies ist eine Säule, die den Kapitalismus stabilisiert, und hat im Kern drei Funktionen: Erstens verunklart es ökonomische Zusammenhänge. Zweitens verschleiert es Handlungsalternativen. Und drittens negiert es den menschlichen Faktor und stellt den Kapitalismus als Naturzustand des Zusammenlebens dar.

Dieses sprachliche System tritt am deutlichsten während Finanzkrisen zum Vorschein. Wenn beispielsweise die globale Finanzkrise 2007/08 vom damaligen Chef-Volkswirt des Internationalen Währungsfonds Olivier Blanchard als „perfekter Sturm“ bezeichnet wird, oder der Energieökonom Lion Hirth die Energiekrise 2022 als „Tsunami“ tituliert, werden menschengemachte Krisen in den Rang von (unvermeidbaren) Naturkatastrophen erhoben.

Aber anders als ein Tsunami, gegen dessen Entstehung der Mensch wirklich machtlos ist und vor dem er sich nur in Sicherheit bringen kann, waren die exorbitanten Energiepreiserhöhungen im Zuge des russischen Angriffskriegs eben kein Ereignis, dem sich Gesellschaften hilflos hingeben mussten. Wie der mitunter von der Ökonomin Isabella Weber für Deutschland konzipierte „Energiepreisdeckel” zeigte, ließen sich die Preiserhöhungen relativ leicht stoppen. Solche Maßnahmen sind natürlich mit anderen ökonomischen Kosten verbunden, die es als Gesellschaft gegeneinander abzuwägen gilt. Trotzdem: Anders als bei unerwarteten Naturkatastrophen sind Menschen Finanzkrisen eben nicht zwangsläufig schutzlos ausgeliefert.

Die Art und Weise, wie wir unser Wirtschaftssystem (sprachlich) beschreiben, bestimmt ganz entscheidend, wie wir es gestalten. In den vergangenen Jahren haben auch Ökonom*innen angefangen, sich mit den Auswirkungen von Sprache auf ökonomische Kennziffern zu beschäftigen – sei es anhand linguistischer Analysen von Zeitungsartikeln, um das Maß an ökonomischer Unsicherheit zu bestimmen (siehe die Pionierarbeit der Ökonomen Dan Baker, Nicholas Bloom und Steven Davis), oder die eingehende Analyse von Zentralbankkommunikation (siehe dazu bspw. die Arbeit aus den letzten zwei Jahrzehnten von Alan S. Blinder).

Die inzwischen berühmte „Whatever it takes“-Rede des damaligen EZB-Chefs Mario Draghi zur Hochzeit der sogenannten europäischen Schuldenkrise 2012 verdeutlichte die enorme Macht von Sprache (hier in Form von Zentralbankkommunikation) für diesen klassischen Bereich der wirtschaftswissenschaftlichen Analyse. Draghis Versicherung, die EZB würde alles tun, was nötig sei, um den Euro zu retten, und sein eindrückliches „And believe me, it will be enough“ haben keine neuen Informationen offenbart. Das wäre aber nötig, damit man in der heterodoxen Wirtschaftstheorie erklären könnte, wieso die Ausschläge auf den Finanzmärkten nach Draghis Rede aufhörten. Dass die EZB, wie es in ihrem Mandat eindeutig festgelegt ist, alles tun würde, um den Euro zu retten, ist selbstverständlich. Es war Draghis entschlossenes Auftreten und seine eindringliche Sprache, die für die enorme Wirkung seiner Rede gesorgt haben.

Wir alle sprechen kapitalistisch, oder das Problem mit der „hart arbeitenden Mitte“

Bei der Sprache des Kapitalismus handelt es sich aber nicht um eine Verschwörung, ein von der Wall Street gelenktes Komplott, um am Status quo festzuhalten. Wir alle sprechen sie und verfestigen damit unbewusst Machtverhältnisse. Nirgends wird das deutlicher als beim Lob der sogenannten „hart arbeitenden Mitte” der Gesellschaft. Auf den ersten Blick scheint an dieser Redewendung, die fester Bestandteil des politischen Diskurses ist, nichts problematisch zu sein: Ist eine Politik, die sich an die Vielzahl der Menschen richtet, nicht wünschenswert?

Bei genauerer Betrachtung funktioniert der Ausdruck der „hart arbeitenden Mitte“ allerdings nur, wenn diesem implizit Bevölkerungsgruppen gegenübergestellt werden, die eben nicht hart arbeiten. Und in diesem Kontext dürfte bei den meisten Menschen nicht die Assoziation an überreiche Erb*innen abgerufen werden, die von dem Geld leben, was andere erarbeitet haben, sondern an von Armut betroffene Menschen. Die „hart arbeitende Mitte“ reproduziert den kapitalistischen Mythos der Leistungsgesellschaft. Weil die Menschen in der Mitte hart arbeiten, haben sie es verdient, dass Politik für sie gemacht wird. Die ärmsten Menschen einer Gesellschaft, so schwingt es meistens mit, arbeiten eben nicht hart und sind dementsprechend selbst an ihrer Situation schuld.

Es gibt unzählige weitere Beispiele, wie Sprache dazu beiträgt, den kapitalistischen Status quo mit all seinen Ungerechtigkeiten heute entgegen aller Kritik aufrechtzuerhalten. Dabei ist die größte Leistung des Kapitalismus, von seiner eigenen Alternativlosigkeit zu erzählen. In vielen Debatten kommt, sobald Menschen ihre Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem artikulieren, die Keule der Kapitalismusbefürworter: „Wollt ihr denn zurück in den Sozialismus?”

Der Kampf der Systeme des 20. Jahrhunderts zwischen den USA und der Sowjetunion dauert in diesem Sinne bis heute an. Der Kapitalismus hat gesiegt und ist damit das beste System. Sein Gegner, der real existierende Sowjet-Sozialismus, die einzige vorstellbare Alternative. Ein Argument, das so unsinnig ist wie wirkungsstark. Denn der Sozialismus fungiert als Symbol für ein hartes, entbehrungsreiches und unfreies, kurz gesagt ein schlechtes Leben. Die oft, vor allem von Marktliberalen und Konservativen, vertretene Logik ist einfach: entweder Kapitalismus oder Verzicht.

Sicherlich will niemand ernsthaft in die sozialistischen Systeme der DDR oder Sowjetunion zurück. Die Kritik am gegenwärtigen Kapitalismus bedeutet nicht, dass sich Menschen nach diesen autoritären Regimen sehnen. Vielmehr drückt sie den Wunsch nach einer gerechteren und nachhaltigeren Welt aus. Viele Errungenschaften des Kapitalismus, die übrigens nicht selten aus staatlich finanzierter Forschung stammen (wie die Ökonomin Mariana Mazzucato in ihren Büchern betont), würden auch in einer postkapitalistischen Gesellschaft bestehen bleiben. Und auch marktwirtschaftliche Strukturen sind per se nichts, was einzig und allein dem Kapitalismus inhärent ist.

Wo ist das postkapitalistische Verlangen?

Dennoch fehlen heute Erzählungen über lebenswerte postkapitalistische Systeme. Es fehlt das, was der britische Kulturwissenschaftler Mark Fisher als postkapitalistisches Verlangen beschreibt. Wir wissen, dass das gegenwärtige System mangelhaft ist und darin viele Menschen auf der Strecke bleiben. Das bekommen wir medial auch immer wieder gespiegelt. Seien es erfolgreiche Filme wie Parasite, The Menu oder Triangle of Sadness oder Serienhits wie Succession oder White Lotus, regelmäßig werden uns die Auswüchse eines ungebremsten Kapitalismus vor Augen geführt. Aber genau dort stoppen diese Erzählungen eben auch. Sie weisen auf nichts außer ihrer inhärenten Kapitalismuskritik.

Der reine Konsum dieser Filme und Serien hat somit keinerlei Potenzial für echte Veränderung. Ganz im Gegenteil, wir konsumieren diese Medien als Ersatzhandlung. Wir können uns danach in unserer kapitalismuskritischen Haltung bestätigt fühlen, aber es wird kein Verlangen nach einer alternativen Zukunft ausgelöst. Besonders deutlich wird das bei der Amazon-Prime-Hitserie Fallout, die auf der gleichnamigen Videospielreihe basiert. Hier kommt nach dem Ende des Kapitalismus, der zum Untergang der Zivilisation führt, wortwörtlich die Apokalypse. Im Vergleich zu dieser postapokalyptischen Szenerie wirken die Versäumnisse des modernen Finanzkapitalismus geradezu harmlos. Eine ubiquitäre, realistische und begehrenswerte Darstellung einer Welt, die sich aus den Fesseln des modernen Kapitalismus befreit hat, existiert noch nicht.

Sprache und die Geschichten, die wir uns als Gesellschaft im und über den Kapitalismus erzählen, sind nicht allein verantwortlich für dessen Resilienz. Eine solche Behauptung wäre naiv und fahrlässig. Aber Sprache ist einer der Stabilisierungsmechanismen des Kapitalismus, der bisher wenig berücksichtigt wurde und potenziell viele Menschen erreichen kann – ohne, dass es dafür Veränderungen durch langwierige politische Prozesse braucht.

Im ersten Interview, das Simon Sahner zu Die Sprache des Kapitalismus gegeben hat, wurden wir gefragt, welchen sprachlichen Kniff wir vorschlagen, was in dem Sinne unser ökonomischer Genderstern sei, um das Reden über ökonomische Zusammenhänge zu verbessern. Die ernüchternde Antwort lautet: Es gibt nicht den einen. Aber wenn wir bewusster und genauer über das Wirtschaftssystem sprechen, in dem wir leben, und Machtverhältnisse und Alternativen klarer benennen, kann das ein erster Schritt auf dem Weg in eine gerechte Zukunft sein.

 

Zum Autor:

Daniel Stähr ist Ökonom, Essayist und freier Autor. Aktuell promoviert er zum Thema „Narrative Economics“ an der FernUniversität in Hagen. Im Frühjahr 2024 erschien sein Buch „Die Sprache des Kapitalismus, das er gemeinsam mit dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Simon Sahner geschrieben hat, und mit dem sie für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2024 nominiert sind.