In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Was die Wirtschaft aus der Corona-Krise lernen könnte
piqer:
Antje Schrupp
Die Corona-Krise hat traditionelle ökonomische Parameter in Frage gestellt. Zum Beispiel hat sie gezeigt, dass Marktwirtschaften unvorhergesehene globale Krisen nicht ohne massive Interventionen des Staates bewältigen können. Sie hat die enorme Bedeutung von Arbeitskräften in Medizin, Pflege, Kinderbetreuung und Einzelhandel gezeigt, deren gesellschaftlicher „Wert“ sich allerdings nicht in dem Preis niederschlägt, der dafür bezahlt wird. Und sie hat gezeigt, wie problematisch es ist, den großen Bereich der unbezahlten ökonomischen Aktivitäten bei Planungen nicht zu erfassen und zu berücksichtigen.
Die italienisch-amerikanische Ökonomin Mariana Mazzucato beschäftigt sich schon seit langem mit der Frage des „Wertes“ von Waren und Dienstleistungen und hat die Bedeutung des Staates als wirtschaftlichem Akteur betont. In diesem Interview erläutert sie, was das für eine Post-Corona-Ökonomie bedeutet und warum Innovation nur aus einer globalen, intersektionalen Perspektive gedacht werden kann.
Steht TTIP vor einem Revival?
piqer:
Jürgen Klute
In den Zeiten vor Trump galt das EU-USA Freihandelsabkommen TTIP als Teufelszeug. Kein anderes Handelsabkommen hat soviel Protest erzeugt wie TTIP. Sogar eine Europäische Bürgerinitiative gegen TTIP wurde gestartet. Sie wurde zurückgezogen, nachdem Donald Trump kurz nach seiner Wahl die Verhandlungen zum TTIP-Abkommen aussetzte.
Die vierjährige Amtszeit von Donald Trump zeigte, dass ein Verzicht auf Handelsabkommen keine gute Lösung ist. Jedenfalls nicht dann, wenn die Alternative zu den klassischen Handelsabkommen ein Handelskrieg à la Trump ist. Außerdem hat China in diesen Tagen mit 15 asiatischen Ländern das als „RCEP“ bezeichnete Handelsabkommen geschlossen. Die Mitgliedsländer zählen ungefähr 2,2 Milliarden EinwohnerInnen und produzieren etwa 30% der globalen Wirtschaftsleistung.
Der künftige US-Präsident Joe Biden war als Vizepräsident von Barack Obama zuständig für Handelspolitik und in dieser Rolle auf amerikanischer Seite mit den TTIP-Verhandlungen betraut. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob TTIP mit der Amtsübernahme durch Joe Biden vor einem Revival steht.
Dieser Frage geht Jakob Arnold in einem Beitrag für die Zeitschrift Cicero nach. Arnold rekonstruiert die kritischen Punkte des TTIP-Abkommens. Er geht sie Punkt für Punkt durch und fragt, inwieweit sie einer Wiederaufnahme der Verhandlungen im Wege stehen könnten. Für die Mehrzahl der neuralgischen Punkte an TTIP sieht Arnold Möglichkeiten einer pragmatischen Lösung. An ihnen dürfte aus seiner Sicht eine Wiederaufnahme der Verhandlungen nicht scheitern.
Als den entscheidenden Konfliktpunkt sieht Arnold die mangelnde Transparenz der bisherigen Verhandlungen über das Freihandelsabkommen. Bliebe es bei der bekannten und in der Vergangenheit heftig kritisierten Intransparenz, argumentiert Arnold, dann dürfte es keine Wiederaufnahme der Verhandlungen geben. Mann und Frau dürfen gespannt sein, ob er mit dieser Einschätzung richtig liegt.
PS: Die Alternative zum Handelskrieg à la Trump muss nicht in der Rückkehr zur alten Freihandelspolitik liegen. Statt eines Free Trade Agreements (FTA) ist auch ein Fair Trade Agreement denkbar. Käme es zu einer Neubestimmung der EU-Handelspolitik, dann hätten sich die harten Konflikte um TTIP gelohnt. Ansätze dazu haben sich in dem Konflikt herausgebildet, vor allem im Blick auf die Streitschlichtungsmechanismen.
Paradigmenwechsel in der europäischen Infrastruktur-Förderung
piqer:
Tiemo Wölken
Mit dem sich abzeichnen Kohleausstieg gibt es ein neues Diskussionsfeld der Energiewende: das Erdgas. Im Europäischen Parlament haben wir kritisiert, dass die Gesetzgebung aus dem Jahr 2013 zu Transeuropäischen Energienetzen nicht mehr zeitgemäß ist. Auch die Europäische Kommission scheint das so zu sehen:
Klaus-Dieter Borchardt, stellvertretender Generaldirektor der GD Energie lässt sich folgendermaßen zitieren:
The projects we needed for security of supply are on their way — they will be commissioned in the coming years. I don’t see any natural gas infrastructure that would be needed in terms of contributing to decarbonisation. If natural gas will be reduced and will decrease by 13 per cent in 2030, one could optimise the flows of natural gas in some dedicated pipelines, which would free up other pipelines, which can then be repurposed for the transport of renewable fuels. This makes much more sense, so that we can use those free pipelines for the transport of bio-methane, hydrogen, bio-gas. Making sensible use of the existing infrastructure will also bring down the cost of infrastructure for the new energy carriers in the larger gas sector. I do not rule out that some smaller projects for natural gas are necessary, but I don’t see that those projects will become PCI projects and funded by CEF.
The whole question on the future PCI and natural gas infrastructure and CEF seems to be very big, but in fact it is very tiny. If you apply the criteria, it will not be there.
Das sehr detaillierte, auch für Fachleute interessante Interview ist Teil eines Rechercheprojektes von Investigate Europe, das sich „Die Gasfalle“ nennt. Diese Falle, die Planung teurer Infrastruktur, die bald obsolet sein könnte, müssen wir mit europäischer und nationaler Politik unbedingt vermeiden.
Gerade in Corona-Zeiten sollten wir eine CO2-Steuer einführen
piqer:
Ole Wintermann
Die Debatte um eine CO2-Steuer und alternative Ansätze wie den Emissionshandel haben im letzten Jahr zu dem politischen Beschluss geführt, ab 2021 zum Schutz des Klimas eine eher symbolische Besteuerung von CO2-Emissionen in Deutschland einzuführen. Nach den ersten Monaten der Corona-Krise wurde von den Akteuren, denen der Klimaschutz am politischen Herzen liegt, zudem gefordert, die erwartete Rückkehr auf den Wachstumspfad nach der Corona-Zeit zu nutzen, um ein grünes Wachstum umschwenken.
All diese Ansätze zum stärkeren Klimaschutz wurden von den politischen EntscheiderInnen in Deutschland (und anderswo) mit dem Hinweis abgelehnt, man dürfte nicht die “Wirtschaft gefährden” durch unnötige Kostenbelastungen. Dieser Argumentation gegen mehr Klimaschutz haben sich ForscherInnen der Universität Princeton angenommen und Vorschläge entwickelt, wie aus der Corona-Krise heraus mehr Klimaschutz möglich wäre. Der Ansatz ist relativ simpel: Gegenwärtig – durch Corona bedingt – extrem niedrige Benzinpreise sollten genutzt werden, um gerade jetzt einen größeren CO2-Aufschlag durch eine höhere CO2-Steuer einzuführen. Würde dies umgesetzt, so bekämen die VerbraucherInnen genau die Preise zu sehen, die sie sowieso aus „normalen“ Konjunktursituationen gewohnt sind.
Die AutorInnen der Studie schlagen letztlich vor, die Krise zu nutzen, um eine neue Form des politischen Vorgehens zu wählen:
„With markets already reorienting to adjust to supply-and-demand shocks brought on by the pandemic, introducing carbon pricing now would result in marginally less disruption and could actually help drive greener economic activity.“
Neben den offensichtlichen politökonomischen Vorteilen eines solchen Vorgehens wäre ein weiterer Vorteil, dass der Schock auf die Ölpreise nicht mehr zu einer temporären Wettbewerbsverzerrung der Energiepreise führt, die dadurch entstehen kann, dass “unnatürlich” preiswertes Öl plötzlich die Kosten regenerativer Energie künstlich verteuert.
Die Mehreinnahmen einer solchen Steuer könnten entweder an die Steuerzahler zurückgegeben werden, in grüne Investitionen oder in die sozialen Sicherungssysteme – gerade in Corona-Zeiten eine wichtige Alternative – fließen.
Mittelstand in Hackerhand
piqer:
Marcus von Jordan
Ex-piqd-Kurator Hakan Tanriverdi hat ziemlich schockierende Gesprächsprotokolle zu Lösegeldverhandlungen aus dem dark-net gefischt und mit Christian Sachsinger diese sehr spannende und wichtige Doku draus gebastelt.
Früher ist einem Mittelständler mal eine Lagerhalle abgebrannt – heute gibts dafür sogenannte Ransomware. Damit gehackt, wird der Großteil der Daten eines Unternehmens von außen verschlüsselt. Dann wird über Lösegeld verhandelt. Zwischendrin schicken die Erpresser mal so eine Art Finger des Entführungsopfers in Form von ein paar Dateien, die wieder entschlüsselt werden dürfen.
Am Ende wird gezahlt. Viel gezahlt. Ohne Garantie. Aber steuerlich absetzbar.
Noch kann die EU Orbán und Kaczynski stoppen
piqer:
Jürgen Klute
Dieser Gastbeitrag im Tagesspiegel lässt sich als Appell an die politisch Verantwortlichen in der EU und an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft (sprich: Bundeskanzlerin Angela Merkel) lesen, sich nicht mehr länger von dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán und seinem politischen Komplizen in Warschau, Jaroslaw Kaczynski, vorführen zu lassen.
Der Gastbeitrag kommt aus der Feder von George Soros, den Orbán zu einem der Hauptfeinde des ungarischen Volkes stilisiert hat, weil Soros, der ungarische Wurzeln hat, sich seit langem für die Stärkung einer offenen und demokratischen Gesellschaft in Ungarn einsetzt.
Den Erpressungsversuch von Orbán und Kaczynski, mit ihrem Veto den EU-Haushalt einschließlich der dringend benötigen Corona-Hilfen zu blockieren, interpretiert Soros nicht als ideologische Auseinandersetzung über ein abstraktes politisches Konzept, sondern als Versuch einer Verteidigung eines kriminellen Geschäftsmodells, das sich hinter der nationalistischen und identitären Rhetorik der beiden verbirgt – ein Geschäftsmodell, mit dem sich vor allem Orbán und Kaczynski selbst bereichern auf Kosten der ungarischen und polnischen Gesellschaft:
„Es ist nicht so sehr ein abstraktes Konzept“, so Soros, „wie der Rechtsstaat, gegen dass sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und, im geringeren Umfang, Polens faktischer Herrscher Jaroslaw Kaczynski wenden. Für sie repräsentiert der Rechtsstaat eine praktische Grenze für persönliche und politische Korruption. Das Veto ist ein verzweifeltes Vabanquespiel zweier Serientäter.“
Soros beschreibt in seinem Beitrag zum einen, wie insbesondere Orbán dieses Geschäftsmodell in Ungarn organisiert hat und wie er es politisch unangreifbar zu machen versucht.
Zum anderen, und das ist aus meiner Sicht der interessantere Teil seines Beitrags, beschreibt Soros einen Weg, wie die EU das Veto von Orbán und Kaczynski gegen den EU-Haushalt umgehen könnte. Er nimmt damit einen Vorschlag des belgischen Liberalen und Europaabgeordneten Guy Verhofstadt auf. Es liegt in der Hand der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der deutschen EU-Ratspräsidentschaft unter der Leitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Machbarkeit dieses Weges schleunigst zu prüfen und ihn dann schnellstmöglich umzusetzen. Das Europäische Parlament dürfte einen solchen Weg unterstützen. Es könnte einer der letzten Chancen der EU sein, sich gegen die Aushöhlung der Demokratie und des Rechtsstaats von innen zu verteidigen.