Fremde Federn

Tranformations-Boykotteure, Emissions-Offsets, Gaspreise

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Spekulationsgetriebene Gaspreissteigerungen, wie ist es um die Digitalisierung der deutschen Verwaltung bestellt ist und welche Unsicherheitsfaktoren mit Dekarbonisierung durch Aufforstung verbunden sind.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Die Tranformationsboykotteure

piqer:
Jürgen Klute

Dass es nur eine überschaubare Gruppe von Unternehmen ist, die die globalen Gas-. Öl- und Kohlevorräte kontrolliert, ausbeutet und extrem viel Geld damit scheffelt, ist bekannt. Weniger bekannt ist, um welche Unternehmen es sich konkret handelt, wie dieser Wirtschaftssektor strukturiert ist und wie die dominierenden Unternehmen global agieren, um ihre Geldquellen auch in Zeiten der Energie- und Verkehrswende zu verteidigen.

Spiegel-Kolumnist Christian Stöcker hat mit seiner neuesten Kolumne ein bisschen Licht in diese dunklen Kanäle gebracht.

Zehn Banken, Finanzdienstleister und Staaten besitzen einer brandneuen, in einer wissenschaftlichen Publikation erschienenen Studie zufolge, gemeinsam die Rechte an fast fünfzig Prozent aller fossilen Brennstoffvorräte in privatwirtschaftlicher Hand.

schreibt Stöcker. Die wichtigsten Ergebnisse der von ihm erwähnten Studie skizziert Stöcker in seiner Kolumne. Er zieht den sehr einleuchtenden Schluss aus der Studie, dass die Investoren in fossile Energieproduktion, die bisher eine Dekarbonisierung der Wirtschaft massiv und erfolgreich blockieren, für die desaströsen Folgen ihrer Investitionen zur Rechenschaft gezogen werden müssen und dass die vom Export fossiler Energieträger abhängigen Staaten gedrängt werden müssen, alternative Wirtschaftsmodelle zu entwickeln.

Das kalifornische Cap & Trade-System und seine Offsetting-Probleme

piqer:
Dominik Lenné

Kalifornien hat ein großes Cap & Trade – System, um seine Emissionen zu senken. Es wurde 2008 als Teil der „Western Climate Initiative“ begründet, der mehrere US-Bundesstaaten und kanadische Provinzen angehörten. An der Gründung beteiligt war interessanterweise auch der damalige kalifornische Gouverneur Arnold Schwarzenegger. Es ist jetzt noch mit den entsprechenden Systemen im Bundesstaat Washington und den kanadischen Provinzen Québec und Nova Scotia verbunden, mit denen Emissionszertifikate ausgetauscht werden können.

Es deckt 74% der kalifornischen Treibhausgas-Emissionen ab und ist damit deutlich dichter als das europäische EU-ETS (EU Emission Trading System), das nur ca. 40% erfasst, aber dennoch fünf mal größer ist*. Seine Reduktionsziele sind ambitionierter, Klimaneutralität soll nämlich bereits 2045 erreicht werden, während die EU erst 2050 dort sein will.

Der gepiqte Text befasst sich mit einem Problem, das der EU auch nicht unbekannt ist: der mangelnden Verlässlichkeit sogenannter Offsets, hier solchen, die auf Forstwirtschaft beruhen. Das Thema ist ein bischen nerdig, aber ich kann mir vorstellen, dass der Eine oder die Andere es doch interessant findet. Offsetting auch in anderen Bereichen von Bedeutung (Luftverkehr, „voluntary carbon market“) und verdient mindestens einen extra-Piq.

Die beteiligten Treibhausgas-emittierenden Firmen und Institutionen müssen jährlich Emissionszertfikate entwerten, die ihnen zugeteilt wurden oder die sie gekauft haben. Waldbesitzer, die ihre Bewirtschaftungsweise so ändern, dass ihr Wald mehr Kohlenstoff bindet als vor der Änderung („Improved Forest Management“), erhalten dafür entsprechende Emissionzertifikate, die sie an die Firmen verkaufen. Der Anteil der Emissionen, die per Offsetting abgedeckt werden kann, ist auf einige Prozent beschränkt**.

Von emittiertem CO₂ ist nach 100 Jahren noch ca. 45%, nach 300 Jahren noch ca. 27% in der Atmosphäre (Quelle). Die Wiederaufnahme verlangsamt sich immer mehr, so dass auch noch nach 1000 Jahren ein bedeutsamer Rest übrigbleibt. In „nature based solutions“ gebundener Kohlenstoff sollte also möglichst lange auch gebunden bleiben.

So lange Zeiträume sind für lebende Systeme wie Wälder nicht vorhersehbar – das kalifornische Air Resources Board hat sich deshalb darauf beschränkt, eine Bindungsdauer von mindestens 100 Jahren zu verlangen. Leider ist aber der Wald oft Opfer von Ereignissen, die diese Bindungsdauer erheblich verkürzen und so das Offsetting anullieren: Baumkrankheiten, Insektenbefall, Dürren, Überschwemmungen, Stürme, übermäßiger Holzeinschlag und schließlich Brände. Dort ist noch nicht das Ausweichen (Leakage) der Emissionen durch erhöhten Holzeinschlag in nicht geschützten Beständen mitgezählt.

Das ARB fordert zur Sicherheit 10 – 20% Zertifikate mehr als aus der eigentlichen Berechnung hervorgehen, um diese erwartete Verminderung der Speicherdauer auszugleichen. Diese bilden den „buffer pool“, der aus Anteilen für die verschiedenen Arten von Risiko zusammengesetzt ist. Die Autoren des Textes haben nun herausgearbeitet, dass allein die Verluste durch die Waldbrände der vergangenen zehn Jahre den dafür vorgesehenen Anteil der Sicherheitsmarge aufgebraucht haben. Etwas Ähnliches stellten sie für Baumkrankheiten fest.

Dies ist nicht das einzige Problem mit Offsets in Kalifornien. Hier wurde festgestellt, dass die berechnete Kohlenstoffaufnahme von Anfang an deutlich zu hoch angesetzt wurde. Mit anderen Worten: es ist haarig.

Was sind Folgerungen für uns daraus? Dekarbonisierung durch Aufforstung ist unsicher und muss mit erheblichen Abschlägen angesetzt werden. Paul Davies von der Coalition for Negative Emissions, einem Thinktank, der das Wissen zu diesem Thema sammelt und verbreitet, schlägt sogar einen Abschlag von 90% für Nature Based Offsets vor (Quelle). Das würde die Offset-Kosten natürlich entsprechend erhöhen, die Offsets aber auch von dem nicht ganz unberechtigten Vorwurf befreien, „reine Ablasszahlungen“ zu sein.

Der gepiqte Artikel beruht auf diesem Paper.

* Durch das kommende EU-ETS2 für Verkehr und Gebäude wird die Abdeckung der europäischen Emissionen durch ein Cap & Trade -2 System auf ca. 80% steigen; das EU – System wird damit ca. zehn mal größer werden als das kalifornische.

** Das ist im Text falsch wiedergegeben; nicht die Offsets machen 75% der kalifornischen Emissionen aus, sondern das gesamte Cap & Trade – Programm.

Über spekulationsgetriebene Gaspreissteigerungen

piqer:
Jürgen Klute

Folgt mensch der deutschen Debatte über die extremen Steigerungen der Gaspreise und infolge auch der Strompreise, dann ergibt sich schnell der Eindruck, dass sich daran gar nichts ändern lässt – wahlweise weil es Folge einer naturgesetzähnlichen Marktgesetzlichkeit ist oder des völkerrechtswidrigen russischen Überfalls auf die Ukraine, gegen die mensch nun aber leider auch nichts machen kann. Also müssen alle irgendwie den in solchen Situationen gern bemühten Gürtel enger schnallen.

Der Logik dieser Debatte sollte mensch nicht leichtfertig Glauben schenken. Eric Bonse liefert in Beitrag auf seinem Blog gute Argumente für diese Skepsis. Die Gaspreissteigerungen wären wohl vermeidbar gewesen, hätte die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung sich auf die Argumente des liberalen belgischen Premierministers Alexander De Croo (Open VLD) eingelassen. Der hatte im Vorfeld und auf dem EU-Gipfel vom März 2022 für ein Einfrieren der Gaspreise auf EU-Ebene votiert, wie das deutschsprachige belgische Nachrichtenportal Flanderninfo am 10. März 2022 berichtete. In den Preissteigerungen sieht De Croo eine Marktverzerrung:

„Premierminister Alexander De Croo (Open VLD) plädiert für ein Einfrieren der Gaspreise auf europäischer Ebene. Ihm zufolge sind die hohen Preise das Ergebnis von Hysterie und Spekulation, sodass eine Preisobergrenze die einzig mögliche Lösung wäre: „Die Mittel kommen nun aus der Staatskasse und gehen an Lieferanten und Russland. Wir können das nicht länger hinnehmen“, sagte der belgische Regierungschef am Donnerstagnachmittag in der Sendung Villa politica.“

Weiterhin schlug De Croo einen gemeinsamen Einkauf von Gas auf EU-Ebene vor: „Energiekrise: Auch Belgiens Premier De Croo schlägt EU-weite gemeinsame Gaseinkäufe vor“ (Flanderninfo, 23.03.2022)

Doch die Bundesregierung blockiert diesen Weg, wie Eric Bonse darlegt, wie aber auch schon Flanderninfo in einem Artikel vom 26. März 2022 berichtete.

Der Unterschied zwischen dem Ansatz der Bundesregierung und etlichen anderen Regierungen von EU-Mitgliedsländern wie auch der EU-Kommission liegt offensichtlich darin, dass die EU auf eine Entlastung der Verbraucher setzt (die im Ergebnis natürlich auch den Energielieferanten zugutekommt), die Bundesregierung hingegen auf eine Entlastung der Energieunternehmen auf Kosten der Verbraucher. Dies ergibt sich aus dem SPIEGEL-Artikel „Gasumlage: EU lehnt Mehrwertsteuer-Ausnahme ab – schlägt aber Alternativen vor“ vom 17. August 2022. Der liberale Ansatz aus Belgien und anderen EU-Ländern hat gegenüber dem deutschen Ansatz den Vorteil, dass weder Verbraucher noch öffentliche Kassen übermäßig belastet würden, weil die Marktverzerrungen durch regulative Eingriffe von vornherein vermieden würden.

Doch nach wie vor sieht es nicht so aus, dass die Bundesregierung bereit ist, sich auf einen sozial und wirtschaftlich sinnvollen Ausweg aus der durch Spekulationen getriebenen Preisexplosion einzulassen, wie auch Bonse noch einmal in seinem Artikel bestätigt.

„42 Prozent schämen sich, Arbeitslosengeld II zu beziehen“

piqer:
Charly Kowalczyk

Schlange stehen im Jobcenter. Billig einkaufen im Discounter. Zeit totschlagen vor dem Fernseher. Bilder, die viele Menschen mit Hartz IV Empfänger verbinden. Ob sie stimmen oder nicht, das Label Hartz IV ist zum Stigma geworden. Langzeitzustand arbeitslos. Gefühlt heißt das für viele Hartz IV-Betroffene, unten angekommen zu sein. So beginnt Nicole Dittmer von Deutschlandfunk Kultur ihre Anmoderation. Äußerst treffend. Ihr Interview-Gast in Studio 9 ist Arbeitsmarktexperte Jürgen Schupp, Professor für empirische Sozialforschung an der FU Berlin.

Es geht um die Agenda 2010. Dabei um die Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Vorschläge für die Veränderungen hatte eine Kommission unter der Leitung des ehemaligen VW-Personalvorstands Peter Hartz entwickelt und bereits im August 2002 der damaligen rot-grünen Bundesregierung vorgelegt. Also das ist jetzt genau 20 Jahre her. Ein Grund Geburtstag zu feiern? Wohl eher nicht. Aber es lohnt schon, sich Zeit für ein Resümee zu nehmen.

„Der Begriff Reform hat ja eigentlich eine positive Konnotation und ich denke, unstrittig ist, dass mit dieser Reform die damals hohe Zahl an Arbeitslosen, immerhin über fünf Millionen, wirklich begonnen wurde, schrittweise abzubauen und die Arbeitsmarktforschung ist sich eigentlich einig in der Bewertung, dass den Hartz IV-Reformen dabei auch einen signifikanten Anteil beigemessen werden muss. Aber nicht minder relevant sind die makroökonomischen Bedingungen, die letztendlich auch zur Halbierung der Arbeitslosigkeit nach einer längeren Zeit geführt haben.“

Mir klingt noch heute Gerhard Schröder bei der Ankündigung der Arbeitsmarktreformen im Ohr: „Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ Fördern war dann in der Realität wesentlich seltener als Abfordern. Häufig mussten Menschen, um weiter finanzielle Unterstützung zu erhalten, irgendeine Arbeit annehmen. Qualifikation spielte häufig keine große Rolle. Wer die Arbeit nicht annahm, wurde sanktioniert. Würde ging oft im Jobcenter verloren. Selbstbestimmung sowieso. Wer da nicht hin musste, konnte froh sein. Wer da (schon mal) hin musste, kann ein Lied davon singen.

„Also die dunklen Seiten sind bspw., dass auch neue Zumutungen getroffen wurden. Die Zumutung einmal, bedingt durch die Abschaffung der damaligen Arbeitslosenhilfe mit dem Hartz IV System, was dann einen einheitlichen Regelsatz von damals 345 Euro für alle Alleinstehenden zur Folge hatte, während vorher in der Arbeitslosenhilfe jeweils die Erwerbsbiografie der Langzeitarbeitslosen gewürdigt wurde und differenziert in seiner Höhe war. (…) In der Bevölkerung ist die Skepsis gegen das Hartz IV System sehr, sehr hoch und ich denke (…) dass es vielfach auch zu einer Überforderung der Betroffenen geführt hat. Insbesondere in Ostdeutschland, wo es schlicht und ergreifend auch überhaupt keine Jobangebote oder offene Stellen gab und vielfach dann gefordert wurde, dass Bewerbungen geschrieben werden für Kurzfrist-Maßnahmen, die zu keiner dauerhaften, integrativen Perspektive für die Betroffenen geführt hatte. Dadurch war der Begriff, dass für alle die Arbeitslosigkeit schnell beendet werden würde, für alle zur Fiktion geworden.“

Jürgen Schupp spricht über das Versäumnis der Politik, den Mindestlohn schon damals einzuführen, was die Hartz-Kommission auch 2002 vorgeschlagen hatte. Der ist dann erst 2015 eingeführt worden. Allerdings halten sich noch immer viele Unternehmen nicht an die Bezahlung des Mindestlohns. Und: In Deutschland sind stattdessen Hunderttausende prekäre Arbeitsverhältnisse entstanden. Der Arbeitsmarktforscher zieht dabei Zusammenhänge zur Agenda 2010.

Für eine Studie hat er Langzeitarbeitslose befragt, auch mit Blick auf das Bürgergeld, das 2023 Hartz IV oder Arbeitslosengeld II ablösen wird. Diese Passage des Interviews finde ich besonders interessant. Doch die nehme ich jetzt nicht vorweg. Reinhören lohnt sich allemal.

Wie ist es um die Digitalisierung der Verwaltung bestellt?

piqer:
Daniela Becker

Während wir bei Amazon ein Produkt per 1-Klick bestellen können, ist die Abfrage einer Geburtsurkunde bei einer deutschen Behörde oft eine wochenlange Odyssee. Ein Zustand, von dem wir alle wissen, aber irgendwie auch hingenommen haben. Deutschland kann Digitalisierung halt nicht.

In diesem ersten Teil einer Spezialfolge von „Lage der Nation“ gehen Philip Banse und Ulf Buermeyer der Frage nach, wie schlecht es um die Digitalisierung der deutschen Verwaltung steht: sehr schlecht.

Wie absurd es dann aber tatsächlich immer noch ist, hat zumindest mich doch noch einmal schockiert. Bei einem Vor-Ort-Termin begleiten die beiden eine Verwaltungsangestellte bei einem simplen Bezahlvorgang, der kafkaesk viel Arbeit und ausgedrucktes Papier beinhaltet.

Während man das noch irgendwie lustig finden könnte, zeigt das Beispiel von Menschen die Hartz IV beantragen müssen, was für eine zusätzliche Schikane diese Vorgehen für Menschen in Not darstellen. Man muss nicht besonders viel Phantasie haben, um sich vorzustellen zu können, wieviel schwieriger dann komplexere Vorgänge sind. (Wie etwa die Genehmigung von Windkraftanlagen.)

Das Problem: Jedes Land – oft jede Verwaltungseinheit – kocht seit Jahren sein eigenes Süppchen. Eigens entwickelte Programme können nicht miteinander kommunizieren. Standards gibt es keine. Die Pflicht zur Digitalisierung endet oft bei einem PDF auf der Webseite. Die Prozesse dahinter sind analog wie eh und je. Scheindigitalisierung nennen die beiden Podcaster diesen Zustand.

Interessant fand ich das Fazit der beiden: Natürlich ist die fehlende Digitalisierung  ganz offensichtlich ärgerlich, teuer und auch ein riesiges Problem für die deutsche Wirtschaft. Aber das vielleicht viel wesentlichere Problem ist, dass die Identifikation der Bürger:innen (und auch der Verwaltungsangestellten) mit dem Staat verloren geht. Statt stolz sein zu können, schämt man sich für die Rückständigkeit des Landes.

(In Teil 2 soll es Lösungsansätze und Positivbeispiele geben. Allerdings wurde schon verraten, dass für diese Beispiele erheblich länger gesucht werden musste als für die negativen.)

Umfang der Gig-Arbeit in den USA nimmt weiter deutlich zu

piqer:
Ole Wintermann

In den USA ist die Arbeitslosenquote inzwischen auf den niedrigsten Stand seit 53 Jahren gesunken. Unternehmen finden nicht mehr ausreichend Fachkräfte. Dennoch kann die Steigerung der Gehälter nicht mit der Inflation mithalten. Gleichzeitig verharren viele Unternehmen in einer organisatorischen Starrheit, die durch die Pandemie nur vorübergehend aufgehoben war. Folge: Der Anteil der mit Gig-Arbeit beschäftigten Menschen an allen Beschäftigten steigt immer weiter an.

Die im Text interviewten Fachkräfte und Matching-Plattformen wie Uber und Lyft geben übereinstimmend an, dass es drei Gründe sind, die zu einem weiteren Anstieg der Gig-Arbeiten geführt haben: Erstens erwarten Beschäftigte nach der Pandemie, dass Unternehmen in der Gestaltung der Arbeitszeiten deutlich flexibler werden. Da Unternehmen aber Probleme mit Flexibilitäten im Sinne der Beschäftigten haben, kehren viele Menschen ihrem Arbeitgeber den Rücken. Zweitens reduziert die Inflation die realen Gehälter, so dass Zusatzverdienste zwingend notwendig werden. Und drittens können sich Menschen bei der Ausübung von Gig-Arbeit tendenziell mehr mit Tätigkeiten beschäftigen, die sie auch persönlich interessanter finden.

Beim Angebot solcher Gig-Arbeiten konkurrieren zwei Modelle miteinander. Zum einen sind es Plattformen, die wie Uber zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber vermitteln. In diesem Fall greifen für die Beschäftigten kaum soziale Absicherungen. Im zweiten Modell bündeln Plattformen die Zeitarbeit-Angebote der Arbeitgeber. In diesem Fall arbeiten die vermittelten Menschen als Angestellte mit der entsprechenden sozialen Absicherung (Stichwort Zeitarbeitsfirma). Über die Gewichtung der Modelle auf dem US-Arbeitsmarkt trifft der Text aber leider keine Aussage.

Damit zeigt sich erneut, dass Gig-Arbeit nicht per se verurteilt werden sollte, da sie in sehr vielen Fällen eben auch eher den Präferenzen der Arbeitenden entspricht.

Nicht besorgt, sondern bescheuert

piqer:
Hasnain Kazim

Heute empfehle ich einen kleinen Wutausbruch von Nikolaus Blome im „Spiegel“: Er regt sich auf über Leute, die jetzt Bundeskanzler Olaf Scholz „Volksverräter“ und „Hau ab!“ entgegenschleudern.

Es sind dieselben Leute, die in diesem Ton mal gegen „Ausländer“ und „Flüchtlinge“ wüten, mal Sorge vor einer „Umvolkung“ haben, dann, bei Corona, „gechipped“ zu werden und jetzt, wegen des Krieges Russlands gegen die Ukraine und wegen der steigenden Preise deswegen eine „Enteignung“ befürchten.

Wie viel Verfolgungswahn geht in einen einzelnen Kopf? Sollte man es also nicht gleich lassen mit der Ansprache?

… fragt Blome. Zu Recht. Jetzt wird Kritik kommen, er „pauschalisiere“ und „verallgemeinere“. Aber das tut er nicht. Er spricht genau die Leute an, die es betrifft. Selbstverständlich kann, darf, soll man die Art der deutschen Migrations- und Flüchtlingspolitik kritisieren, die Corona-Maßnahmen und auch den Kurs in Sachen Russland und Ukraine. Aber doch nicht so!

Es gebe

eben auch eine Grenze, jenseits derer sind bestimmte Bürger [und eben nicht alle Bürger; Anmerkung H. K.] nicht mehr besorgt, sondern bescheuert, und es wäre an der Zeit, das einmal laut auszusprechen.

… schreibt Blome weiter, und ich stimme ihm zu, außer dass ich das schon seit Jahren ausspreche, denn es war schon seit Jahren an der Zeit. Zu Recht kritisiert er auch, dass Politiker aller Couleur permanent vor einem „Wutwinter“ warnen und diesen Typen damit unnötig Macht und Aufmerksamkeit verleihen.

Ich jedenfalls bin nicht bereit, mir von einer letztlich recht kleinen Gruppe diktieren zu lassen, in welchen gesamtgesellschaftlichen Modus wir zu schalten haben. Nicht schon wieder.

Wie gut!

Leseempfehlung.