Nachruf

Zum Tod von Tony Atkinson

Originell, elegant, tiefgründig: Tony Atkinson war ein einzigartiger Ökonom und ein Vorbild für Generationen von Forschern und Studenten. Sein Werk wird weiterleben, wenn wir auch weiterhin dem Problem der Ungleichheit entgegentreten. Ein Nachruf von Thomas Piketty.

Anthony „Tony“ Atkinson (1944 – 2017). Foto: LSE

Am Morgen des 1. Januar 2017 ist Anthony B. Atkinson nach langer Krankheit im Alter von 72 Jahren verstorben. Das ist für uns ein unschätzbarer Verlust.

Anthony „Tony“ Atkinson besetzt in der Ökonomenszene eine einzigartige Position. Während des letzten halben Jahrhunderts stellte er die Frage der Ungleichheit – unter Missachtung der vorherrschenden Strömungen – ins Zentrum seiner Arbeit und demonstrierte, dass die Ökonomie zuallererst eine moralische Wissenschaft ist.

Tony wurde 1944 geboren. Sein erstes Buch veröffentlichte er 1969. Zwischen 1969 und 2016 schrieb er über 40 Bücher und publizierte mehr als 350 wissenschaftliche Aufsätze. Diese haben das weite Feld internationaler Studien zur Ungleichheit, Armut und der Verteilung von Einkommen und Vermögen verändert. Seit den 70er Jahren hat er zudem wichtige theoretische Papiere geschrieben, die insbesondere der Theorie der optimalen Besteuerung gewidmet waren. Atkinson interessierte sich immer für die praktischen Fragen der Politik und der sozialen Gerechtigkeit – und er verstand, dass der mächtigste Weg, Fortschritte zu erzielen, darin bestand, theoretische Analysen mit realen Daten zu verbinden.

Atkinsons wichtigste und tiefgründigste Arbeit dreht sich um historische und empirische Analysen von Ungleichheit. Er führte diese innerhalb eines theoretischen Rahmens aus, den er mit makellosem Können aufstellte und mit Bedacht und Mäßigung verwendete. Mit seinem markanten Ansatz, der gleichzeitig historisch, empirisch und theoretisch war, seiner extremen Rigorosität und seiner unbestreitbaren Integrität, sowie seines ethischen Abgleichs zwischen seiner Rolle als Forscher und der des britischen, europäischen und globalen Bürgers war Atkinson über Jahrzehnte hinweg ein Vorbild für Generationen von Studenten und jungen Forschern.

Zusammen mit Simon Kuznets führte Atkinson im Alleingang eine neue Disziplin innerhalb der Sozialwissenschaften und politischen Ökonomie ein: das Studium historischer Trends bei der Verteilung von Einkommen und Reichtum. Natürlich standen die Verteilungsfrage und langfristige Trends bereits im Zentrum der politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts, insbesondere bei den Werken von Thomas Malthus, David Ricardo und Karl Marx. Aber diese Autoren konnten sich nur auf begrenzte Daten beziehen und waren oftmals gezwungen, sich auf rein theoretische Mutmaßungen zu begrenzen.

Dank Kuznets und Atkinson konnten Analysen zur Einkommens- und Vermögensverteilung tatsächlich auf historischen Quellen basieren

Erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dank der Forschungen von Kuznets und Atkinson konnten Analysen zur Einkommens- und Vermögensverteilung tatsächlich auf historischen Quellen basieren. In seinem 1953er Meisterwerk Shares of Upper Income Groups in Income and Savings kombinierte Kuznets die ersten systematischen Aufzeichnungen zum amerikanischen Nationaleinkommen und Besitzverhältnissen (er hatte dabei geholfen, diese Aufzeichnungen überhaupt ins Leben zu rufen) und die aus der Bundeseinkommenssteuer (die 1913 nach langen politischen Kämpfen eingeführt worden war) resultierenden Daten, um die allererste historische Auflistung der jährlichen Einkommensverteilung aufzubauen.

1978 übertraf und überholte Atkinson Kuznets mit seinem fundamentalen Buch The Distribution of Personal Wealth in Britain, das er gemeinsam mit Allan Harrison geschrieben hatte. Er nutzte systematisch die britischen Nachlassverzeichnisse der 1910er bis 1970er Jahre, um auf magistrale Weise das Ausmaß zu analysieren, zu welchem ökonomische, soziale und politische Kräfte uns helfen können, die Entwicklungen bei der Vermögensverteilung zu verstehen – eine Verteilung, die insbesondere während dieser Zeit außergewöhnlicher Turbulenzen auf dem Prüfstand stand. Im Vergleich zu Kuznets´ Buch, das sich hauptsächlich um den Aufbau der statistischen Datenbank drehte, ging Atkinsons Werk insofern einen Schritt weiter, als dass es die Datensammlung besser mit der historischen und theoretischen Analyse verband.

Alle späteren Arbeiten zu den historischen Trends der Einkommens- und Vermögensungleichheit folgen in gewisser Hinsicht den bahnbrechenden Studien von Kuznets und Atkinson. Insbesondere die World Wealth and Income Database (WID.world) kann als reine Fortführung der Atkinson-Kuznets-Agenda angesehen werden.

Auf einer persönlicheren Ebene hatte ich das große Glück, Tony im Herbst 1991 kennen zu lernen, als ich ein junger Student an der London School of Economics war. Seine zahlreichen Ratschläge, die immer mit größtmöglicher Sorgfalt und Freundlichkeit daherkamen, hatten einen entscheidenden Einfluss auf meinen Werdegang. Kurz nachdem ich 2001 Les hauts revenus en France au 20e siècle veröffentlicht hatte, bekam ich die Chance, von seiner enthusiastischen Unterstützung zu profitieren. Tony war der erste Leser meiner historischen Abhandlungen zur Ungleichheit in Frankreich und griff sofort den britischen Fall (wo die historischen Einkommensdaten bisher noch nicht ausgewertet worden waren) sowie einige andere Länder auf.

Zusammen gaben wir 2007 und 2010 zwei dicke Bände heraus, die insgesamt 20 Länder abdeckten. Diese Arbeiten standen am Anfang der WID.world-Datenbank sowie meines 2014 erschienenen Buches Das Kapital im 21. Jahrhundert, das es ohne die Unterstützung von Tony niemals gegeben hätte.

Abgesehen von seinen historischen und bahnbrechenden Schriften war Atkinson über Jahrzehnte hinweg einer der führenden Spezialisten für vergleichende Untersuchungen bei der Messung von Ungleichheit und Armut in unseren zeitgenössischen Gesellschaften. Er war außerdem der unermüdliche Architekt von Projekten zur internationalen Kooperation auf diesen Themengebieten.

In seinem neuesten Buch, dem 2015 veröffentlichten Inequality: What Can Be Done?, konzentrierte er sich vollständig auf einen Aktionsplan und lieferte uns auf Grundlage seiner jahrzehntelangen Forschung zur Ungleichheit und Politik die Grundzüge eines radikalen Reformismus. Originell, elegant, tiefgründig – dieses Buch liefert uns die beste Mischung dessen, was die politische Ökonomie und der britische Progressivismus zu bieten haben.

Atkinson war ein großzügiger und rigoroser Gelehrter, eine einzigartige Quelle der Inspiration für uns alle. Er war auch der liebenswürdigste aller Mentoren. Obwohl er in den letzten Jahren seines Lebens gegen eine lange Krankheit kämpfte, blieb er bis zum Ende sehr aktiv, setzte die Arbeit an zahlreichen großen Projekten fort und stand sogar während der letzten Wochen noch im Austausch mit seinen Kollegen und Freunden.

Atkinson verlässt uns zu einem Zeitpunkt, an dem die Ungleichheit wohl das drängendste Thema ist, mit dem sich unsere Gesellschaften auseinandersetzen müssen. Sein Leben drehte sich darum, die Werkzeuge zu erschaffen, mit denen man die Ungleichheit messen, verstehen und bekämpfen kann. Sein Werk wird weiterleben, wenn wir auch weiterhin dem Problem der Ungleichheit entgegentreten. Wir werden ihn zutiefst vermissen.

 

Zum Autor:

Thomas Piketty ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Paris School of Economics und Autor zahlreicher Bücher zum Thema Ungleichheit, darunter der weltweite Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert.

Hinweis:

Dieser Beitrag wurde zuerst in englischer Sprache auf Pikettys Le Monde-Blog sowie auf dem Portal VoxEU.org veröffentlicht und unter Zustimmung des Autors ins Deutsche übersetzt.