Fremde Federn

Stockende Seidenstraße, Komplexitätsfalle, hybride Arbeitsplätze

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Das Problem mit „netto null“, ein Care Economy-Statement aus Kanada und 1.000 Lösungen für die Klimakrise.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Chinas Belt-and-Road-Initiative gerät ins Stocken

piqer:
Jürgen Klute

Die Seidenstraße – auch bekannt unter dem Namen Belt-and-Road-Initiative (BRI) – ist eines der größten Projekte der chinesischen Regierung. Bereits seit einigen Jahren arbeitet China an der Umsetzung dieses Projektes, das sich über Asien, Afrika, Australien und Europa erstreckt. Es geht bei der BRI um ein gigantisches Infrastruktur-Projekt mit hoher wirtschaftspolitischer und geostrategischer Bedeutung.

Bisher lief die Umsetzung des Projektes recht reibungslos. Derzeit scheint sie jedoch ins Stocken zu geraten. Zum einen hat die australische Regierung kürzlich bestehende Kooperationen mit der chinesischen Regierung bezüglich der BRI beendet. Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie scheinen das Projekt ebenfalls zu bremsen. Und mehr und mehr gerät die Geheimniskrämerei der chinesischen Regierung im Blick auf die abgeschlossenen Verträge bezüglich der BRI in die Kritik. Auch die EU beginnt ihre China-Politik kritisch zu hinterfragen. Nur die deutsche Bundesregierung bleibt dem alten Kurs der China-Politik verhaftet.

Thomas Kohlmann gibt in seinem Beitrag für die Deutsche Welle einen guten Überblick über die aktuellen Entwicklungen der Belt-and-Road-Initiative.

1.000 Lösungen für die Klimakrise

piqer:
Michaela Haas

Bertrand Piccard wurde damit bekannt, dass er als erster Mensch die Erde in einem Ballon und in einem Solarflugzeug ohne einen Tropfen Treibstoff umrundete. Der Schweizer Abenteurer, Psychiater und Umweltvisionär konzentriert sich vor allem auf ein Thema: die Klimakrise. Mit seiner Stiftung Solar Impulse hat er die Initiative „1.000 effiziente Lösungen“ gestartet, mit der er mehr als 1.000 Innovationen zur effizienten Bekämpfung des Klimawandels analysiert hat. Zum Solutions Guide, der digitalen Datenbank, geht es hier.

Bisher war es immer so, dass Umweltschutz als Bedrohung für die Wirtschaft gesehen wurde. Jetzt ist es genau umgekehrt. Das sind nicht nur schwammige Vorstellungen. Sondern wir haben die Lösungen für die Industrie, den Energiesektor, die Landwirtschaft und den Verkehr, um drastisch CO2 einzusparen und gleichzeitig die Wirtschaft anzukurbeln. Die wächst dann nicht mehr im traditionellen Sinn, sondern durch mehr Effizienz, während die Umwelt profitiert.

Ein Care Economy Statement aus Kanada

piqer:
Antje Schrupp

Eine Gruppe von kanadischen Wirtschaftswissenschaftler:innen hat ein Care-Economy-Statement veröffentlicht, das in einer komprimierten Form die zentralen Punkte aufführt, um die es beim Umbau zu einer Care-zentrierten Ökonomie gehen sollte. Die Covid-Pandemie habe gezeigt, dass die Vernachlässigung des Care-Sektors gravierende Folgen hat. Daher werden hier Vorschläge für einen Neuansatz gemacht. So sollten sich künftige politische und Budget-Entscheidungen an sechs Prinzipien orientieren:

1. Bezahlte wie unbezahlte Care Arbeit als grundlegende Komponente der Infrastruktur verstehen

2. Sowohl die, die Care benötigen, als auch die, die sie geben in den Blick nehmen und unterstützen

3. Care als qualifizierte Arbeit verstehen und Ausbildung und Arbeitsplätze entsprechend gestalten

4. Die ganze Bandbreite (Gesundheit, Kinderbetreuung, Pflege, Arbeitsbedingungen, usw.) der Politikfelder sehen

5. Öffentliche Investitionen in soziale Infrastruktur

6. Feministische, intersektionale, antikoloniale und antirassistische Ansätze

Außerdem werden traditionelle Mythen rund um Care-Arbeit widerlegt.

Beeindruckend ist die Liste der Erstunterzeichner:innen, die zeigt, wie weit ein solches Verständnis von Wirtschaft als Care in Kanada bereits gesellschaftlich verankert ist. In Deutschland hingegen gilt konsequente Care-Economy immer noch als ein Ansatz links-feministischer Außenseiter:innen.

Das sieht man auch an der Medienberichterstattung rund um Corona, wo in den schier endlosen Talkshows das Thema Care-zentrierte Ökonomie praktisch inexistent ist. Man diskutiert nur über Einzelbereiche, etwa die Belastung von Eltern oder die Situation der Pflegekräfte, häufig bedauert man sie mitfühlend und lädt Betroffene ein. Aber das reicht nicht.

In der Komplexitätsfalle?

piqer:
Thomas Wahl

Gerade erleben wir, wie schwierig und komplex es ist, ein Land durch schwierige Zeiten zu „steuern“. Ein zunächst einfach erscheinendes Problem, ein ansteckendes aber teilweise tödliches Virus zu bändigen, zerfällt in eine Kaskade von tausenden Teilproblemen. Deren Lösung kollidiert wiederum mit tausenden Gesetzen und Regeln, Zuständigkeiten, Interessen, Ansichten und Interpretationen. Es fehlen Informationen, die durch den überbordenden Datenschutz auch nicht einfach beschafft werden können. Die Bürokratien und Entscheidungsebenen agieren langsam, uneinheitlich und übervorsichtig. Das ganze soziale und wirtschaftliche System scheint zu ächzen, Reibungen sowie Streitpunkte nehmen zu und die Unübersichtlichkeiten wachsen.

Da wird ein Artikel aus dem Jahr 2007 wieder interessant, den „Brand eins“ – wohl aus aktuellem Anlass – wieder veröffentlicht. Er beginnt zunächst im Politischen. Wenn wir etwa unseren Politikern im Bundesrat oder auf den Konferenzen der Ministerpräsidenten zusehen, versteht man besser.

Politiker handeln nicht. Sie verhandeln. Und sorgen dafür, dass das politische System an Überkomplexität erstickt. … Da kommen die Informationen zum einen in einer Menge, die kein normaler Mensch bewältigen kann. Und zum Zweiten sind diese Informationen politisch vorgefiltert. …..Am Ende des parlamentarischen Aushandlungsprozesses stehen dann Gesetze wie die sogenannte Gesundheitsreform. Also Gesetze, die kaum ein Experte versteht und die den politisch interessierten Bürgern nicht vermittelbar sind. Das ist nicht nur ineffizient, sondern systemgefährdend.

So weit so hart. Doch dabei bleibt es natürlich nicht. Gesetze, die man nicht versteht und deren Wirkungen unklar sind, lassen sich auch nicht zielführend durchsetzen. Was natürlich zu Legitimationsproblemen der Demokratie und des Rechtsstaates führt. Und einfach alles ganz simpel zu gestalten, was man als Ratschlag oft hört, scheint an der Kompliziertheit und Verflochtenheit unserer Gesellschaftsstrukturen zu scheitern. Oder hat Oswald Metzger recht, wenn er meint:

„Die Politik hat sich selbst in eine Komplexitätsfalle manövriert. Es dominiert das Fachidiotentum.“ Leute, die den Überblick bewahren, gebe es immer weniger, und im Grunde spürten auch alle, dass „die Summe der Entscheidungen von Fachidioten mit Tunnelblick am Ende nur Mist ergibt“. Metzger nennt das die „organisierte Verantwortungslosigkeit, die einfache Wirkungszusammenhänge verkennt“.

Wenn Einfachheit ein Garant für Funktionsfähigkeit ist, warum machen wir es nicht wie z.B. Österreich oder Dänemark?

In Österreich sorgte eine kräftige Entrümpelung des Steuerrechts, verbunden mit einer konsequenten Sparpolitik, dafür, dass es wirtschaftlich deutlich bergauf ging. Dänemark macht mit einem stark vereinfachten Arbeitsmarktrecht die freudige Erfahrung der Fast-Vollbeschäftigung.

Dazu, meint der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, habe unser deutsches System zu viele Vetospieler.

Wenn in Deutschland eine Idee auf dem Tisch liegt, beginnt die Feilscherei. Zum Beispiel das Einkommensteuermodell mit drei Steuertarifen der Weniger-Staat-Partei FDP: 15, 25 und 35 Prozent. Steuerlich absetzbar wäre nichts mehr. Ausnahmen: keine. Punkt. Der durchformulierte Gesetzentwurf hat 33 Seiten, die aktuelle Gesetzgebung 475. Warum nicht so? Oder ähnlich? Aber eben verständlich.

Vereinfachen scheint nötig, aber es ist offensichtlich sehr schwer, die komplexe Wirklichkeit mit einfachen Regeln abzubilden. Und wir Deutschen scheinen auch die Einzelfallgerechtigkeit zu lieben. Also bevorzugen wir Gesetze, die jeden „Spezialfall“ abdecken. Die Unübersichtlichkeit wächst dadurch zusätzlich.

„Komplexität zu reduzieren hat den Preis, dass man Ungleichheit und Vielfalt erträgt“, …. Denn Vereinfachung ist mit dem Wahren von Besitzständen inkompatibel. Wer Einfachheit will, muss Freiheit zulassen. Die Kehrseite von mehr Freiheit ist mehr Ungleichheit. Und Ungleichheit ist mit deutschen Wählern nicht zu machen. Auch dann nicht, wenn Vereinfachung unter dem Strich den meisten, wenn auch nicht allen, nützt.

Im Prinzip müssten Politiker oft unangenehme Wahrheiten verkünden, was beim Volk nicht gerade beliebt ist. Und so sitzen Volk und seine Politiker in der Komplexitätsfalle – solange bis es kracht?

Wie die Erdgas-Lobby in Europa um ihr Geschäft kämpft

piqer:
Alexandra Endres

Die Zeit der fossilen Brennstoffe scheint ja nun tatsächlich abzulaufen. Jedenfalls in Europa: Bis 2050 will die EU (netto) klimaneutral werden. Das heißt, sie verspricht, dann keine Treibhausgase mehr auszustoßen und die Emissionen auszugleichen, die doch noch entstehen.

Damit ist nicht nur das Geschäftsmodell von Kohle- und Ölunternehmen in Gefahr, sondern auch das der Erdgasindustrie. Dabei galt Gas lange als vergleichsweise sauber. Aber (netto) klimaneutral bedeutet eben, dass auch Brennstoffe, die relativ geringe Emissionen verursachen, nicht mehr verwendet werden dürfen, wo immer man sie ersetzen kann.

Wie die Gasindustrie unter diesen Umständen jetzt um ihre Existenz kämpft, hat ein deutsch-italienisches Team von CORRECTIV und IRPIMedia recherchiert:

Die Gaslobbyisten setzen sich für sogenannten blauen* Wasserstoff ein. Sie stellen ihn als sauber und klimafreundlich dar, obwohl das nicht stimmt. Sie beschreiben ihn als besonders kostengünstig und argumentieren, man brauche den Wasserstoff zumindest für eine Übergangszeit. Auch das ist fragwürdig.

Dennoch scheinen die Industrievertreter damit Erfolg zu haben. Zumindest sitzen sie in den relevanten Gremien und sie erhalten auch Zugang zu den politischen Entscheidungsgremien, auf EU-Ebene ebenso wie in Deutschland.

Es stehen Milliarden auf dem Spiel – Milliarden für die Förderung von Pipelines für den Transport von Wasserstoff, aber auch viel Geld für Firmen, die diese Technologie entwickeln. Und nicht zuletzt Milliarden, die klimaschädliche Energieproduktion bedienen könnten.

In der Recherche spielt auch Joachim Pfeiffer eine Rolle, CDU-Bundestagsabgeordneter und langjähriger energiepolitischer Sprecher seiner Partei. Pfeiffer setzte sich auf politischer Ebene sehr für die Förderung von Wasserstoff ein. Nebenher war er

bis Ende 2020 im Beirat der kanadisch-malischen Firma Hydroma, die Wasserstoff aus Entwicklungsländern in Westafrika nach Deutschland exportiert. Hydroma hält nach eigenen Angaben das größte natürliche Wasserstoff-Feld in Mali. Auf unsere Anfrage hat die Firma nicht reagiert.

Auf die Anfrage an Pfeiffer, welche Rolle er bei der Wasserstoffstrategie in seiner Heimatregion Stuttgart gespielt habe, erhielt Correctiv Post vom Anwalt.

* Wirklich klimafreundlich ist nur der grüne Wasserstoff, der mithilfe erneuerbarer Energien erzeugt wird. Aber es gibt da ein Problem: Es gibt nicht genug davon.

Wenn alle Stahlkonzerne auf grünen Wasserstoff umsteigen, würden die Windräder in Deutschland nur für sie laufen.

Blauer Wasserstoff hingegen wird aus Erdgas hergestellt. Klimafreundlich ist das nicht.

Die Abscheidung und Speicherung des erzeugten Kohlendioxids (CCS) wäre die einzige Lösung, um diesen Prozess laut seiner Befürworter „sauber“ zu machen. Die Technologie wird schon seit Jahrzehnten gefördert, bleibt aber extrem teuer und funktioniert bislang nicht.

Google führt das Konzept des hybriden Arbeitsplatzes ein

piqer:
Ole Wintermann

Gut in Erinnerung geblieben ist uns allen die Empörung der deutschen Arbeitgeberverbände, als es darum ging, mobiles Arbeiten als Teil der Lockdown-Maßnahmen verpflichtend einzuführen und sich weite Teile der Politik dafür aussprachen. Man entschloss sich zum Festhalten am Status quo, statt die neuen pandemiebedingten Arbeitsumstände als gegeben zu betrachten und pragmatisch nach Chancen dieser Veränderungen zu suchen.

Und erneut zeigt Google den deutschen Arbeitgeberinnen, wie man es besser machen kann. In einer Mail an alle Google-Angestellten hat Googles CEO Sundar Pichai die Flucht nach vorn angetreten, weiß er doch, dass die Pandemie in dem global agierenden Unternehmen vor Ort noch lange nicht beendet sein wird.

Er spricht davon, dass in den Ländern, in denen es möglich war, inzwischen 60% der Angestellten in die Büros zurückgekehrt sind. Gleichzeitig haben die Angestellten aber auch die Flexibilität des mobilen Arbeitens zu schätzen gelernt. Auf Basis der Erfahrungen der letzten Monaten hat eine interne Arbeitsgruppe einen Rahmen für einen zukünftigen hybriden Arbeitsplatz bei Google erarbeitet, der Flexibilität, Freiheit, Fokussierung und soziale Interaktion gewährleisten soll.

Google wird zur zur hybriden Arbeitswoche übergehen, sodass im Schnitt 3 Tage in den Büros und 2 Tage dort gearbeitet werden kann, wo man möchte. Das Büro soll in erster Linie dazu dienen, ein Ort des Zusammentreffens und nicht etwa des Ausführens von Arbeit zu sein.

  • Ein weltweiter Wechsel zwischen den Standorten von Google soll deutlich erleichtert werden.
  • Es wird möglich sein, auf Dauer remote und damit jenseits des Standortes des eigenen Teams zu arbeiten. In beiden Fällen – neuer Standort oder komplett remote – wird das Gehalt an die Lebenshaltungskosten vor Ort angepasst.
  • Die Angestellten dürfen künftig 4 Wochen im Jahr und am Stück von einem beliebigen Ort auf der Welt arbeiten.
  • Es werden in den Teams Fokus-Zeiten eingeführt, die vor Sitzungsterminen schützen sollen.
  • Regelmäßige weltweite “Reset-Tage” sollen dem gezielten Abschalten von der Arbeit dienen.

All diese Maßnahmen müssen natürlich mit den Vorgesetzten und den Teams abgesprochen werden und können nur dann in Anspruch genommen werden, wenn die eigene Rolle mit einer solchen Flexibilität kombiniert werden kann.

Gentechnik, KI, Super-Rechner: Rettet uns die Wissenschaft?

piqer:
Sven Prange

Einer der Komplexitätssteigerer unserer Zeit ist, dass Fortschritt durch Technologie nicht sequenziell, sondern parallel geschieht. Die Folgen muss man sich ein wenig vorstellen, wie bei einem chemischen Wirkstoff: Jeder einzelne von ihnen verursacht eine Wirkung, vermischt man sie aber mit anderen, entstehen womöglich ganz andere Wirkungen. So ist es auch mit den drei großen technologischen Umbrüchen unserer Zeit: das maschinelle Lernen (vereinfachend auch oft künstliche Intelligenz genannt), neue Super-Computer und Fortschritte in der Erforschung des Lebens durch Gentechnologie. Alle drei dieser Technologien, die unterschiedlichen Wissenschaften entspringen, haben für sich das Potenzial, die Welt zu verändern. Längst aber verbinden sie sich auch miteinander – mit wiederum neuen Möglichkeiten.

Dieses breite Bild zu zeichnen, über die einzelnen Disziplinen hinauszuschauen, das ist die Stärke dieser Doku. Gleichzeitig zeigt sie auch die Grenzen von wissenschaftlich begründetem Fortschritt. Denn bei jeder dieser Technologien ist unklar, ob ihr Nutzen größer sein wird als die (meist gesellschaftlichen) Schäden, die schon jetzt absehbar sind. Die Innovationen der vergangenen Jahrzehnte werfen zahlreiche Fragen auf: Welche Möglichkeiten und welche Gefahren bringen sie mit sich? Wie verändert sich das Selbstverständnis des Menschen, wenn sein Alltag zunehmend von lernenden Algorithmen beherrscht wird und wenn menschliches Leben mithilfe von Gen-Scheren umgestaltet werden könnte? Das alles sind Fragen, mit denen diese Doku die Debatte auf eine angenehme Meta-Ebene hebt.

Das Problem mit „netto null“

piqer:
Daniela Becker

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum deutschen Klimagesetz stark auf den Aspekt der Generationengerechtigkeit abgehoben. In diesem Zusammenhang möchte ich diesen Text dreier Wissenschaftler empfehlen, die sich mit dem Konzept „netto null“ auseinandersetzen und das für ein Problem halten.

Die Idee des „netto null“ basiert darauf, man könne Treibhausgasemissionen, die an einer Stelle entstehen an anderer Stelle ausgleichen – sowohl räumlich als auch zeitlich. „Netto null“ ist also nicht gleichbedeutend mit „null Emissionen“.

Im Zentrum des Textes steht ein kritischer Blick auf so genannte „Kohlendioxid-Entfernungs-Techniken“. Darunter fallen CCS, diverse Formen des Geoengineering, aber auch die Idee, man könne alleine mit Baumpflanzungen den Klimawandel stoppen.

The current consensus is that if we deploy these and other so-called “carbon dioxide removal” techniques at the same time as reducing our burning of fossil fuels, we can more rapidly halt global warming. Hopefully around the middle of this century we will achieve “net zero”. This is the point at which any residual emissions of greenhouse gases are balanced by technologies removing them from the atmosphere.

This is a great idea, in principle. Unfortunately, in practice it helps perpetuate a belief in technological salvation and diminishes the sense of urgency surrounding the need to curb emissions now.

We have arrived at the painful realisation that the idea of net zero has licensed a recklessly cavalier “burn now, pay later” approach which has seen carbon emissions continue to soar. It has also hastened the destruction of the natural world by increasing deforestation today, and greatly increases the risk of further devastation in the future.

Ursächlich für den irreführenden Gedanken, man könne „heute verbrennen, sich später drum kümmern“ sind nach Ansicht der Autoren hybride Klima-Ökonomie-Modelle (Integrated Assessment Models). Sie ermöglichten es den Modellierern, wirtschaftliche Aktivitäten mit dem Klima zu verknüpfen, indem sie zum Beispiel untersuchten, wie Veränderungen bei Investitionen und Technologie zu Veränderungen bei den Treibhausgasemissionen führen könnten.

Der Vorteil: Auf diese Weise kann man politische Maßnahmen am Computerbildschirm ausprobieren, was ggf. kostspielige Experimente erspart. Sie sind bis heute eine wichtige Orientierungshilfe für die Klimapolitik. Die drei Autoren sehen jedoch auch ein großes Problem in dieser Art der Modellierung:

Unfortunately, they also removed the need for deep critical thinking. Such models represent society as a web of idealised, emotionless buyers and sellers and thus ignore complex social and political realities, or even the impacts of climate change itself. Their implicit promise is that market-based approaches will always work. This meant that discussions about policies were limited to those most convenient to politicians: incremental changes to legislation and taxes.

Das implizite Versprechen, dass (ausschließlich) marktbasierte Ansätze zum Klimaschutz funktionieren, hat sich bis heute nicht erfüllt – im Gegenteil, die Emissionen sind rasant weiter angestiegen und steigen immer noch.

Carbon reduction technologies and geoengineering should be seen as a sort of ejector seat that could propel humanity away from rapid and catastrophic environmental change. Just like an ejector seat in a jet aircraft, it should only be used as the very last resort. However, policymakers and businesses appear to be entirely serious about deploying highly speculative technologies as a way to land our civilisation at a sustainable destination. In fact, these are no more than fairy tales.

Der ganze Text ist ein dringender Appell an Politiker*innen, aber auch andere Wissenschaftler*innen, die Klimakrise als so dringlich wahrzunehmen und zu kommunizieren, wie sie ist. Die Emissionen müssen ab sofort und in diesem Jahrzehnt drastisch reduziert werden.

The only way to keep humanity safe is the immediate and sustained radical cuts to greenhouse gas emissions in a socially just way.

Ich empfehle den ganzen Text im Original zu lesen und im Hinterkopf zu behalten für die Debatten um ein neues Klimagesetz in den nächsten Monaten; etwa wenn es um den für 2038 festgelegten Kohleausstieg geht oder Technologien, die vielleicht irgendwann einmal CO2 reduzieren könnten, heute aber noch gar nicht existieren.

Die problematische Gedankenwelt des Silicon Valleys

piqer:
IE9 Magazin

„Think Big!“, „Move Fast and Break Things!“, „Fail Better!“ und viele weitere Sinnsprüche aus dem Silicon Valley haben es in der Start-up- und Technologie-Welt weit gebracht. Schließlich würde jedes Land und jede Region gerne das nächste Google, Facebook oder Uber hervorbringen. Oder?

Der deutsche Literaturwissenschaftler Adrian Daub, der als Professor an der Stanford University forscht und lehrt, lernte das Valley von Innen kennen, aber mit der Perspektive eines Beobachters. In seinem Buch Was das Valley denken nennt beschäftigte er sich damit, wo die oft erstaunlich simplen Vorstellungen der amerikanischen Tech-Industrie über den Lauf der Welt eigentlich herkommen. Das Denken des Valleys fasst er im Interview mit 1E9 so zusammen.

Adrian Daub: Das Valley versteht unter denken den Versuch, die Gründe für den Erfolg ganz bestimmter Personen, Unternehmen oder Wirtschaftssektoren zu finden – und uns diese Gründe als einzigen möglichen Weg in die Zukunft zu verkaufen. Das geht einher mit einer starken Verknappung dessen, was Erfolg, Veränderung oder Freiheit bedeutet. Gewisse Begriffe werden verabsolutiert, so dass am Ende der Eindruck entsteht, die Plattformen, denen das Silicon Valley seinen Reichtum verdankt, die aber andere arm halten, seien unvermeidlich, universell und global plausibel.

Daub erklärt, wie die kalifornische Hippie-Kultur der 1960er sowie die Werke von Nietzsche, René Girard, Joseph Schumpeter oder auch Ayn Rand die heutige radikal-libertäre und doch irgendwie linke Denkweise beeinflussten. Die Autorinnen und Autoren wurden dabei allerdings oft eher missverstanden, meint der Wissenschaftler. So zum Beispiel Schumpeters Konzept der schöpferischen Zerstörung im Kapitalismus. Adrian Daub:

Allerdings hat er den Begriff der „schöpferischen Zerstörung“ sehr vorsichtig eingesetzt. Er bezog ihn vor allem auf Monopolisten, denen von Herausforderern das Wasser abgegraben wird. Er hat damit aber, soweit ich ihn verstehe, nicht staatliche Monopole wie die Post gemeint – und auch nicht die Taxifahrer in einer Stadt oder Hunderttausende von Tante-Emma-Läden. Für das Silicon Valley sind aber genau die plötzlich die bösen Monopolisten und irgendwelche Schnösel aus San Francisco die Herausforderer, die eigentlich von Milliardären bezahlte trojanische Pferde sind.

Schumpeter habe außerdem nicht behauptet, Disruption sei per se gut für die Gesellschaft. Er machte sie nur als Merkmal des Kapitalismus aus, das irgendwann sogar zu dessen Ende und zum Sozialismus führen werde, weil die Gesellschaft die ständigen Umbrüche nicht mehr erträgt.

Gründer, die sonst durchs Raster fallen

1E9 interviewte Adrian Daub gemeinsam mit Julia Kümper und Verena Würsig, die gemeinsam einen neuartigen Start-up-Inkubator namens Ventreneurs starten. Damit wollen sie Menschen das Gründen ermöglichen, die im bisherigen System durchs Raster fallen. Sie wollen damit auch zeigen, dass der Mythos vom wagemutigen Entrepreneur, der viel riskiert und die ausgetretenen Pfade verlässt, um mit einem erfolgreichen Start-up die Welt zu einem besseren Ort zu machen, oft ein Etikettenschwindel ist. Denn in der Tech-Industrie überwiegen weiße, männliche Gründer aus der finanziell gut ausgestatteten Mittelschicht, die eigentlich nicht allzu viel zu verlieren haben.

Julia Kümper: Umso schlimmer ist deswegen, dass diese Vorstellung des erfolgreichen Entrepreneurs die Schablone für alle Menschen geworden ist, die ein Unternehmen gründen wollen. Ich fände es vollkommen in Ordnung, wenn wir sagen würden: Das ist eine:r der 30 Typen von Held:innen, die wir mit Gründung verbinden. Doch im Moment wird dieser Mythos für alle als Ziel angesehen.