In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Der Roboter „Peanut“ lässt Beschäftigte noch lange ruhig schlafen
piqer:
Ole Wintermann
Wie kurz stehen wir davor, dass künstliche Intelligenz und Roboter den Menschen (weitere) Jobs wegnehmen werden? Es mangelt nicht an einer Vielzahl von Studien von Wirtschaftsforschungsinstituten und Beratungsfirmen, die in Zahlenkolonnen versuchen, die Zukunft der Jobs zu ergründen. Daher ist es angeraten, ab und zu einen Realitätscheck durchzuführen. Einen solchen Check findet man in dem aktuellen Wired-Text über „Peanut”, den Kellner-Roboter.
Wie auch in Deutschland zu beobachten, gibt es in den USA nach den Lockdowns in Folge der Pandemie einen starken Arbeitskräftebedarf in der Gastronomie, da in der Zwischenzeit viele Beschäftigten den Job aus der Gastronomie heraus gewechselt haben.
Peanut ist, so seine Entwickler, dafür gedacht, als verlängerter Arm des Menschen in der Gastronomie zu dienen. Der Roboter ist ein mithilfe der Lidar-Technik selbstfahrendes und autonom steuerndes Tablett, das im Restaurant Geschirr von Platz A zu Platz B bringen kann. Der Roboter kann aber nicht flexibel seine Routen bei Auftauchen eines Hindernisses abändern, er kann nicht die Teller selbsttätig auf die Tische stellen, er kann nicht wirklich mit den Menschen kollaborieren. Er ist auf eine regelmäßige Interaktion mit dem Menschen über ein Bedienfeld angewiesen, um sinnvolle Dienste ausüben zu können. Vergleichbare Roboter im Einsatz für die Polizei oder im Pflegebereich haben im Verlaufe der letzten Monate die nach wie vor starke Begrenztheit des Einsatzgebietes dieser Roboter aufgezeigt.
Komplexität, Kreativität und Zusammenarbeit werden noch lange für Roboter unerreichbar sein, so schließt der Autor Matt Simon.
Überzeugungsarbeit und Überzeugungstäter – eine Annäherung
piqer:
Thomas Wahl
Andere zu überzeugen ist eine uralte, weit verbreitete menschliche Tätigkeit. Oft aber negativ besetzt, als Manipulation, Propaganda, egoistische und falsche Werbung oder eben als reiner Machtkampf vorverurteilt. Außer natürlich wenn es um die eigene, gute Sache geht. Das Negative gibt es natürlich auch. Nur das Dilemma ist, die Unterscheidung ist schwierig. Unser Wissen basiert auf Informationen, „gepaart mit einer Beurteilung, die auch von der Überzeugungskraft anderer abhängt.“ Das ist ein Grundprinzip von Gesellschaft.
Allerdings, der Artikel hat recht, es gibt wohl kaum Analysen, die die gesamtgesellschaftliche Gewichtung dieser Kategorie Arbeit empirisch vornehmen und einordnen. Es werden jedoch zwei Beispiele genannt. Etwa das der Ökonomen Deirdre McCloskey und Arjo Klamer, die vor rund 25 Jahren eine entsprechende Rechnung vornahmen:
Mit einer Handgelenk-mal-Pi-Methode schätzten sie, dass ein Viertel der amerikanischen Wirtschaftsleistung der Überzeugungsarbeit zuzuordnen ist. Dazu haben sie einzelne Beschäftigungskategorien in den Vereinigten Staaten herangezogen und diese mit einem Gewicht versehen, das der geschätzten Zeit entsprechen soll, die bei einer Beschäftigung mit Überzeugung verbracht wird. Dies ist offenbar ein grobes Mass. Der Ökonom Gerry Antioch hat die Rechnung 2013 nochmals angestellt und kam auf einen Wert von einem Drittel.
Diese Methode auf die Schweiz angewandt, ergäbe ein ähnliches Muster:
Im Jahr 1991 betrug der Anteil an der Gesamtbeschäftigung etwas mehr als ein Viertel der Wirtschaftsleistung und steigerte sich später auf gut ein Drittel. Die genauen Zahlen sind mit Vorsicht zu geniessen.
Im Artikel wird dies in einer interessanten Tabelle veranschaulicht. Leider werden solche hocheffizienten Überzeugungstäter wie Umweltorganisationen etc. nicht separat aufgeführt und gewichtet. Auch die Arbeit in den sozialen Netzwerken ist sicher schwer zu erfassen. Etwas überraschend für mich war der gesamtgesellschaftliche Vergleich zwischen der Produktivitätsentwicklung von Werbebranche und Maschinenbau:
Wenn die Produktivität der Werbebranche mit derjenigen des Maschinenbaus über den Zeitraum von 1998 bis 2018 verglichen wird, ist die Angelegenheit eindeutig. Während der Maschinenbau produktiver wurde, sank bei der Werbung die Bruttowertschöpfung im Verhältnis zur Beschäftigung. Bei der Anzahl Vollzeitstellen sieht das Bild umgekehrt aus: Die Stellen in der Werbebranche stiegen in diesem Zeitraum um 12%, im Maschinenbau ging die Beschäftigung um 17% zurück.
In dem Zusammenhang nennt der Artikel auch das Vorurteil zu den wachsenden „Bullshit-Jobs“ vor allem in den dienstleistenden Hierarchien und Branchen. Eine harte Kritik daran hatte der Anthropologe David Graeber (2013, 2018) vorgetragen, die sofort von vielen ungeprüft übernommen wurde.
Damit sind Jobs gemeint, deren Sinnhaftigkeit unklar ist und die man nicht vermissen würde, wenn es sie nicht gäbe. Das Konzept lässt sich sicherlich auf einige Beschäftigungen in einer reinen Überzeugungsindustrie anwenden. Graeber spricht von 20 bis 50% aller Beschäftigten, die ihren Job als sinnlos betrachten.
Wichtige Hypothesen Graebers sind u.a.:
- dass die Zahl der Arbeitnehmer mit nutzlosen Jobs hoch ist (d. h. 20–50%);
- dass diese im Laufe der Zeit rapide zugenommen haben;
- dass nutzlose Jobs „spirituelle Gewalt“ und schlechte psychische Gesundheit verursachen.
Eine empirische Analyse von Wissenschaftlern der Universitäten Cambridge und Birmingham kommt jedoch zu anderen Erkenntnissen. Sie halten es für wichtig, solche „Behauptungen in nicht-akademischen Publikationen wie denen von Graeber ernst zu nehmen und sie einer strengen empirischen Prüfung zu unterziehen“. Und sie können mit einer Umfrage zu Arbeitsbedingungen in Europa zeigen,
dass 2015 nur knapp 5% der Befragten meinten, ihre Arbeit sei sinnlos. Zudem ist dieser Anteil seit 2005 gesunken, was im Gegensatz zu einer Vorhersage von Graeber steht. Dieser Befund deutet darauf hin, dass vermehrte Überzeugungsarbeit in einer Volkswirtschaft zumindest aus Sicht der Beschäftigten nicht negativ sein muss.
Man könnte sogar vermuten, dass besonders Tätigkeiten, in denen überzeugt werden soll, als besonders sinnstiftend empfunden werden. Aktivisten in NGO werden das sicher bestätigen. Aber auch Ernährungsberater, Politiker oder Gesundheitsdienstleister werden das sicher bejahen.
Fazit: Glaube nie sofort einem Überzeugungstäter, sei nie ohne Skepsis und versuche zu prüfen. Aber achte die guten Absichten …
Was bringen die Steuerpläne der Parteien – und wer profitiert?
piqer:
Alexandra Endres
Wie wollen CDU, FDP, SPD, Grüne und Linke die Steuer-, Sozial- und Familienpolitik nach der Bundestagswahl verändern? Wer hat etwas davon, und wer würde verlieren?
Für die Süddeutsche Zeitung haben Forscher*innen des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) das einmal durchgerechnet – so gut es eben ging, denn die Angaben in den Wahlprogrammen der Parteien sind nicht immer sonderlich präzise. FDP und Linke werden ziemlich konkret, die anderen drei Parteien aber nicht. Die Forscher*innen mussten deshalb bestimmte Annahmen selbst setzen, um überhaupt rechnen zu können.
Ihre Ergebnisse in Kürze:
Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) reserviert seine Wohltaten vor allem für Gutverdiener ab 80 000 Euro, so wie es sonst nur die FDP vorsieht. Die Konsequenz: Die berechneten Vorschläge von Union und Liberalen vergrößern die Kluft zwischen Arm und Reich (g)emessen am wissenschaftlichen Ungleichheitsmaß Gini (…).
Würden hingegen die Vorschläge von SPD, Grünen oder Linken umgesetzt, würde sich die finanzielle Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft verringern.
Das ZEW hat sich auch etwas genauer angeschaut, wie die Pläne der Parteien auf unterschiedliche Einkommensgruppen wirken: Für die sprichwörtliche Mitte der Gesellschaft will ausgerechnet die Union besonders wenig tun. Die Linke hingegen würde Haushalte mit mittleren Einkommen besonders stark entlasten. Menschen mit hohem Einkommen sollen nach dem Willen von Union und FDP künftig besonders entlastet werden. SPD, Grüne und Linke hingegen streben an, Gutverdiener stärker zu belasten.
Umgekehrt gilt:
„SPD, Grüne und Linke kümmern sich in ihren Wahlprogrammen besonders um jene Menschen, die wenig verdienen. Am auffälligsten agieren dabei die Linken, die Haushalten mit bis zu 20 000 Euro brutto im Jahr rund zehn Prozent mehr Geld versprechen – für keine gesellschaftliche Gruppe tut die Partei mehr.“
(…)
Die FDP verspricht Menschen mit niedrigem Einkommen trotzdem mehr, als mancher vermuten würde. Etwa durch allgemein niedrigere Steuersätze und ein Chancengeld gegen Kinderarmut. Die Prioritäten bleiben aber klar. So dürfen Topverdiener ab 100 000 Euro mit einem viermal so starken Finanzplus rechnen wie Geringverdiener.
Noch weniger hat die Union im Angebot. Prozentual bringen ihre Vorschläge Menschen mit niedrigem Einkommen von allen fünf untersuchten Parteien am wenigsten. Die Union ist das Schlusslicht – wie schon bei der Mittelschicht.
Und wer zahlt?
Die Pläne der Linken würden – zumindest unter den Bedingungen der Modellrechnung – dem Staatshaushalt 90 Milliarden Euro einbringen. Bei den Grünen und der SPD ist das Plus deutlich niedriger. Die Pläne von CDU und FDP hingegen würden ein Loch von 33 beziehungsweise 88 Milliarden Euro reißen.
Das liegt daran, dass beide Parteien höhere Steuern und zusätzliche Schulden vermeiden wollen. Die Union beispielsweise setzt darauf, dass ihr Programm ein Turbo-Wachstum entfacht – das soll dann ihre Versprechen an die Bürger finanzieren.
Ob diese Rechnung aufgeht, weiß niemand.
PS: Wer sich nicht nur über die finanz- und steuer-, sondern auch über die klimapolitischen Pläne der Parteien informieren möchte, dem seien sechs Interviews in der aktuellen Ausgabe der ZEIT empfohlen: mit Annalena Baerbock, Armin Laschet, Olaf Scholz, Christian Lindner, Janine Wissler und Alice Weidel. Wie der Steuer-Schwerpunkt der Süddeutschen sind sie nur für Abonnenten zugänglich.
PPS: Transparenzhinweis: Ich schreibe regelmäßig für ZEIT ONLINE, die Onlineausgabe der ZEIT.
Warum unser Bild von Emmanuel Macron nicht ganz stimmig ist
piqer:
Dirk Liesemer
Vielleicht ist Frankreich geografisch zu nah, vielleicht müsste es auf dem amerikanischen Kontinent liegen, damit wir ein klareres Bild von seinem derzeitigen Präsidenten hätten. Wir wissen sicher mehr über Obama, Trump und Biden und deren entscheidende Minister als über den Staatschef unseres wichtigsten Nachbarlandes. Mal nur so gefragt: Französischer Premierminister ist wer noch mal? Oder ist es eine Premierministerin?
Fünf deutschen Mythen geht Macron-Biograf Joseph de Weck in dem unten gepiqden Text nach: Ist Macron tatsächlich habgierig („will unser Geld“), ist er neoliberal und „an Europa gescheitert“, ist er ein Napoleon und in Wirklichkeit in seinem Land unbeliebt?
Man hat solche Dinge schon häufiger gelesen und gehört. Sie sind auch so schön eingängig, ja stereotyp, aber stimmen sie? De Weck argumentiert dagegen (nicht ohne dabei über einen „in Deutschland weltberühmten Frankreich-Erklärer“ zu lästern).
Aktueller Hintergrund für seinen Text: Allmählich beginnt in Frankreich der nächste Wahlkampf – und damit auch hierzulande wieder mehr Berichterstattung. Dass sie oft differenzierter ist, als es de Wecks Text nahelegt: geschenkt.
Offen bleibt, warum es bei uns solch ein Zerrbild gibt. Der Verweis auf die deutsche Vorliebe für gewisse französische Autoren (Houellebecq, Eribon) ist sicher nicht falsch, aber das allein wird es nicht sein. Allein, dass man immer mal liest, die Franzosen wünschten sich ihre „Grande Nation“ zurück, oder gar dass sie sich bis heute als eine solche bezeichneten: Schon das zeigt, wie sehr manche Frankreichbilder nicht ganz up to date sind.
Die Klimabilanz von Armin Laschet
piqer:
Daniela Becker
Nachdem das Bundesverfassungsgesetz mehr Klimaschutz anmahnte, überschlug sich Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) fast mit seinen Bekenntnissen zum Ausbau der erneuerbaren Energien. Zwischenzeitlich hat sich gar eine Klimaunion gegründet, die innerhalb der CDU für entschlossene Klimapolitik lobbyiert und eine „Argumentationshilfe“ mit weitreichenden Forderungen vorgelegt hat. Auch die Wahlkampagne der CDU scheint ganz im Zeichen des Klimaschutzes zu stehen.
Auf den Wahlplakaten ist die Sache klar. „Klima schützen, Jobs schaffen“, prangt auf einem der Motive, die CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak am Dienstag vorgestellt hat.
Die taz hat mal nachgesehen, wie es mit dem Klimaschutz in dem Bundesland läuft, in dem der Unionskanzlerkandidat Armin Laschet regiert.
Kurzum: Nicht gut. Gerade wurde dort ein „Klimaschutzgesetz“ von der schwarz-gelben Koalition verabschiedet, das – so die Kritik der Umwelt- und Branchenverbände – den Windkraftausbau massiv behindern wird.
Denn darin wird Gemeinden nicht nur erlaubt, einen Mindestabstand von 1.000 Metern von Windrädern zu Wohnbebauung festzulegen, sondern dieser soll im Gegensatz zu ähnlichen Regelungen in anderen Bundesländern schon zu Mini-Siedlungen mit nur drei Gebäuden gelten.
Die Auswirkungen dürften dramatisch sein. „Langfristig ist damit jeder zweite Windkraftstandort in NRW gefährdet“, sagt der Vorsitzende des Landesverbands Erneuerbare Energien, Reiner Priggen. Besonders problematisch: Die Regelung bezieht sich auch auf das Repowering, also den Ersatz alter Windräder durch neue. „Konkret bedeutet das: Selbst bei bestehenden Windkraftanlagen können Kommunen verhindern, dass Altanlagen durch neue Windräder ersetzt werden“, erklärt Priggen, der bis 2015 Fraktionsvorsitzender der Grünen im Düsseldorfer Landtag war. Er spricht deshalb von einem „schwarzen Tag“ für die Windkraft. Die versprochenen „neuen Jobs“ dürften so nicht zu schaffen sein.
Auch ansonsten findet sich von den Forderungen der Klimaunion nichts in Armin Laschets aktueller Politik.
Bei Laschet ist der Kontrast zu den radikalen Ankündigungen noch sehr viel größer. Sein gerade verabschiedetes Landesklimaschutzgesetz sieht für 2030 keine Klimaneutralität vor, wie von der KlimaUnion gefordert, und auch keinen Rückgang der CO2-Emissionen um 65 Prozent, wie sie auf Bundesebene geplant sind. Sondern gerade mal 55 Prozent. Umweltschützer*innen aus Laschets Heimatland halten die auf den Wahlplakaten inszenierte Verbindung von Ökologie und Ökonomie darum schlicht für Desinformation, für Fake. Das nordrhein-westfälische Klimaschutzgesetz sei „verfassungswidrig“, meint Dirk Jansen, NRW-Geschäftsleiter des BUND, mit Blick auf das Klimaschutzurteil des Verfassungsgerichts vom Mai.
Wie passend, beziehungsweise unpassend, dass im neuen Klimaschutzgesetz NRW steht: Die Klimaschutzziele des Landes „begründen keine subjektiven Rechte und klagbaren Rechtspositionen“. Nicht nur Klimaklagen, sondern auch Klimaproteste sollen künftig erschwert werden.
Im neuen Versammlungsgesetz, das vom Kabinett bereits gebilligt, aber noch nicht vom Landtag beschlossen wurde, soll das Tragen von „uniformähnlichen Kleidungsstücken“ bei Demonstrationen verboten werden, sofern dies „einschüchternd“ wirke. Als Beispiel dafür nennt die Gesetzesbegründung ausdrücklich die „gleichfarbigen Overalls“, die die Teilnehmer*innen bei den Kohle-Protesten der Initiative „Ende Gelände“ tragen – und zwar in einem Atemzug mit Hitlers SA und SS.
Im letzten Jahr hat Armin Laschet mal den Satz gesagt: „Wir regieren NRW so, wie ich es mir auch für den Bund vorstellen würde“. Nach Klimakanzler klingt das eher nicht.
Ein Gespräch über Klassismus und demobilisierte Klassen
piqer:
Christian Huberts
Wenn man so richtig viele Klicks und Engagement auf seinem Medium haben möchte, reicht es, komplexe und heterogene emanzipatorische Bewegungen und Theorien auf einen Begriff und einen möglichst absoluten (oft konstruierten) Widerspruch zu reduzieren. Gefühlt Hunderte Texte zu so genannter »Identitätspolitik« – reich an Empörungspotenzial, selten an kritischer Erkenntnis – illustrieren das ganz eindrücklich. Je weniger Differenzierung sowie Auseinandersetzung abseits anekdotischer Evidenz, desto besser, denn auf Twitter wird schon irgendwer wieder was richtig Blödes als Beweisstück A geäußert haben. Und damit das nicht langweilig wird, muss ab und zu eine neue begriffliche Sau durch das Dorf gejagt werden. Zuletzt wurde also Anti-Klassismus zum »Klassenkampf für Softies« und war auf einmal quasi im Alleingang daran schuld, dass Deutschland noch keine klassenlose Gesellschaft ist. Diese Post-Millenials sind aber auch zu nichts zu gebrauchen!
In Ordnung, genug der Polemik. Umso erfrischender ist es, wenn sich ein Gespräch erst gar nicht mit den Clickbait-Debatten aufhält und stattdessen direkt in die konkreten und vielfältigen Aspekte des Themas einsteigt. In der Sendung Sein und Streit im Deutschlandfunk Kultur sprechen der Soziologe Klaus Dörre und die Kulturanthropolog*in Francis Seeck über die demobilisierte Klassengesellschaft, in der Parteien und Gewerkschaften ihrer Rolle trotz wachsender Ungleichheit nicht gerecht werden, und Anti-Klassismus durchaus zu einer Mobilisierung beitragen kann. Es geht um die Meritokratie-Kritik von Michael Sandel, Ungleichheit in der Corona-Pandemie, steuerliche Umverteilung und darum, dass nicht »asozial« genannt werden zu wollen eben nicht nur ein Nice-to-have ist, sondern die begründete Ablehnung menschenverachtender Ideologie. Und ja, ein bisschen geht es dann doch noch um die Frage, ob die verschiedenen modernen emanzipatorischen Bestrebungen sich nicht irgendwie gegenseitig Platz wegnehmen. Die Antwort sucht Konsens statt Klicks.
Nein, sagt Francis Seeck, die emanzipatorischen Bewegungen, die gegen verschiedene Arten von Ausgrenzung eintreten, stünden nicht in Konkurrenz zueinander. Vielmehr sei der Begriff Klassismus selbst entscheidend vom Feminismus der 1970er-Jahre geprägt worden.
PS: Hier ein weiteres, empfehlenswertes Radiofeature zu Klassismus.
Mobiles Arbeiten als sozialer Prozess – von Xerox bis Corona
piqer:
Ole Wintermann
Der spanische Sozialwissenschaftler Daniel Buenza hat sich mit einer Frage beschäftigt, die den Arbeitgebern bei der Debatte um mobiles Arbeiten selten in den Sinn gekommen zu sein scheint. Während die Mehrheit der Arbeitgeber über die technische und rechtliche Infrastruktur und die Leitplanken für ein mobiles Arbeiten diskutiert hat, hat sich nur eine Minderheit mit der Frage befasst, wie in welcher sozialen, zeitlichen, räumlichen Umgebung Entscheidungen überhaupt zustande kommen. Dabei geht es nicht darum, dass Menschen angeblich nur innovativ sein können, wenn sie sich analog begegnen; es geht vielmehr darum, in welcher Weise das wie auch immer ausgestaltete Setting einer Entscheidung Einfluss auf den Inhalt der Entscheidung hat. Meint: Im Büro sind wir nicht wir selbst, sondern üben eine Rolle aus. Nun, da wir seit Monaten von zu Hause aus arbeiten, dort, wo wir Mensch sein können, treffen wir aber Entscheidungen als Menschen und nicht nur als Rollenträger. Welchen Einfluss hat dies auf die Inhalte der Arbeit, fragt sich Buenza in diesem Long Read im The Guardian.
Das Unternehmen Xerox hatte bereits Ende der 1960er Anthropologen beschäftigt, um die stark standardisierte Vorgehensweise beim Reparieren der Xerox-Kopierer durch den Kundenservice vor Ort verbessern zu lassen. Dabei war den Beobachtern aufgefallen, dass sich die Menschen im Kundenservice nur bedingt an die Formalismen der Handbücher hielten, sondern vielmehr die Lösung eines Problems im kommunikativen Austausch mit Kollegen suchten. Der soziale Prozess führte also zum Ausbruch aus dem bürokratischen und technischen Korsett. Xerox nahm sich dieser Herausforderung an und stellte den Technikern landesweit eine erste “Social Media”-Plattform durch das Internet zur Verfügung, damit sich diese landesweit über die Probleme austauschen konnten.
Apple und Microsoft nutzten diese Erkenntnis bei der Zusammenstellung von Teams, die Konzepte von User Experience und Purpose waren weitere Ergebnisse dieser Arbeit bei Xerox.
In seiner aktuellen Forschung befasst sich der Sozialwissenschaftler Beunza nun mit der Reaktion der Finanzbranche auf die Lockdown-Bedingungen des mobilen Arbeitens. Die dort arbeitenden Menschen bevorzugen einerseits in den Analyse-Interviews (aber auch bei ihrer Arbeit) eher das Home Office, da es ihnen mehr als das Büro ermöglicht, als Mensch zu agieren. Herausfordernd ist es andererseits, durch die zufällige Aufnahme von Informationen im analogen Büro Prozesse zu initiieren, auf die man im Home Office eben nicht gekommen wäre. In der eher konservativen Finanzbranche scheint man inzwischen vom Modell des flächigen mobilen Arbeitens wieder abrücken zu wollen. Leider fragt sich Buenza am Ende aber genau dies nicht: Ob nicht der Konservatismus einer Branche schuld sein könnte an der Unfähigkeit, online Produktivität aufzubauen. Ansonsten handelt es sich um einen interessanten und vor allem wichtigen Long Read.
Sie wussten es sogar noch früher
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Rico Grimm
Es ist 1977 oder 1978 und im Hauptquartier von Exxon, des größten Ölkonzerns der Erde, macht sich Unruhe breit.
Wenige Monate vorher war ein junger Klimatologe zu Gast in einer der wichtigsten Talkshow der USA und warnte vor klimatischen Veränderungen, die sich jetzt schon abzeichnen würden. Gleichzeitig war ein CIA-Bericht an die Öffentlichkeit gelangt, der von „komischem Wetter“ berichtete und die Hungerkatastrophen der 1960er-Jahre auf den beginnenden Klimawandel zurückführte. Diesen Bericht griff US-Außenminister Henry Kissinger auf, um auf der größten Bühne der Erde, den Vereinten Nationen, vor dem Klimawandel zu warnen.
Exxon befürchtete, dass die Öffentlichkeit nun eins und eins zusammenzählen wird und das schlecht fürs Geschäft sein könnte. Deswegen investierte der Konzern in echte unabhängige Forschung. Der Konzern wollte ein „glaubwürdiger Spieler“ in den anstehenden Klima-Debatten sein und schickte einen seinen Supertanker los, um zu erforschen, wie viel CO2 die Ozeane aufnehmen. Jahrzehnte später sollte diese Forschung wieder aufgegriffen werden.
Wir kennen das Ende der Geschichte. Es passierte: nichts. Die Angst von Exxon war unbegründet. Der Text, den ich euch heute empfehle, erzählt die Geschichte der verpassten Chancen. Schon 15 Jahre bevor der Klimawissenschaftler James Hansen seinen berühmten Auftritt vor dem US-Kongress hatte, wusste das Establishment der Vereinigten Staaten im Grunde Bescheid: Es gibt einen Klimawandel und fossile Brennstoffe sind die Hauptursache für ihn.
Was in dieser Geschichte interessanterweise fehlt: Aktivisten. Es waren nicht Menschen wie du und ich, die das Thema auf die Agenda hoben. Sondern die Mächtigen selbst.
Forensik einer Bitcoin-Beschlagnahmung
piqer:
Jannis Brühl
Im Juni gelang dem FBI ein Coup: Die US-Ermittler beschlagnahmten Bitcoin im Wert von 2,3 Millionen Dollar, die auf der Blockchain der Kryptowährung lagerten. Es ist ein großer Teil des Lösegeldes, den das Unternehmen Colonial Pipeline nach einem Angriff mit Ransomware gezahlt hatte. Behörden und Krypto-Skeptiker erklärten dies zum Beweis, dass Bitcoin entgegen den Sicherheitsversprechen der Blockchain eben doch zu knacken war. Tatsächlich steckte hinter der Beschlagnahmung aber kein wundersamer Hack, sondern viel digitale Detektivarbeit.
Dieser Blogpost des Blockchain-Unternehmers Tuan Phan ist zwar etwas trocken geschrieben, aber lehrreich. Danach versteht man das Blockchain-Überweisungssystem und seine Konsequenzen für Zahlungen – ob an/von Kriminellen oder nicht – viel besser. Minutiös zeichnet Phan anhand der offiziellen Dokumente des US-Justizministeriums nach, wann das Geld von Colonial Pipeline an wen überwiesen wurde, wie es über mehrere Stationen weitergeschleust wurde, und wie unterwegs Anteile für die Helfershelfer der Erpresser abgezweigt wurden. Ironischerweise war es also eine einzigartige Eigenschaft der angeblich so anonymen Blockchain, die das Geld leicht zu verfolgen macht: Alle Zahlungen sind öffentlich, mit Kontextwissen und ein bisschen Software lässt sich der Weg des Lösegelds nachvollziehen.
Nur das Rätsel, wie das FBI sich dann an der entscheidenden Stelle das Passwort für das „Wallet“ besorgte, in dem die Bitcoin lagerten, kann auch dieser Text nicht aufklären. Vielleicht haben die Polizisten ja doch etwas gehackt, nur eben nicht die Blockchain selbst, sondern den Computer eines der Gangster.