Fremde Federn

Staatsschulden, Frauenquote, holländische Krankheit

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum Donald Trump nicht vom Himmel fiel, wie Geflüchtete zu Fachkräften werden und weshalb die Zahl der Hungernden weltweit wieder steigt.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

„Die Feigenblattphilosophie der traditionellen ‚Corporate Social Responsibility‘ reicht nicht aus“

piqer:
Rico Grimm

Das hat kein gewerkschaftsnaher Ökonom gesagt, sondern der Vorstandsvorsitzende des größten Industriekonzerns des Landes, Joe Kaeser, der Siemens führt.

Das Handelsblatt hat ihn zum Interview getroffen und es ist ein durchweg spannender Einblick in einen Manager-Kopf:

  • Kaeser wirbt für einen „inklusiven Kapitalismus“
  • Dessen Zutaten: Stakeholder-Ansatz statt Fokus auf Shareholder Value, mehr Weiterbildung, Beteiligung der Mitarbeiter an den Gewinnen
  • Er fordert auch eine höhere Besteuerung von Spekulationsgewinnen

In dem Interview streift Kaeser noch viel mehr Themen, die vor allem für jene interessant sein dürften, die sich tatsächlich für das Schicksal von Siemens interessieren. Die Geschäfte in Saudi-Arabien, mögliche chinesische Investoren und ein Seitenhieb auf General Electric sind auch drin:

Da ist ein großer Wettbewerber unterwegs, der existenzielle Orientierung sucht – das macht das Geschäft nicht einfacher.

Tipp: Den länglichen Anfang über den Brexit einfach überspringen. Das Spannende kommt danach.

Staatsschulden sind halb so wild – wenn die Zinsen stimmen

piqer:
Thomas Wahl

Einst galt es als Gewissheit, dass zu hohe Staatsschulden dem Wachstum von Volkswirtschaften schadet. Wir erinnern uns an die Berechnungen von Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart, dass eine Schuldenquote über 90 Prozent der Wertschöpfung das Wirtschaftswachstum zum Erliegen bringt. Das wurde dann in dieser Strenge als Rechenfehler „entlarvt“. Inzwischen ändert sich offensichtlich das Denken und die Praxis zum Schuldenmachen erneut. Die US-Wirtschaftsprüfer prognostizierten 2018 für die nächsten 10 Jahre eine Schuldenlast von 105 Prozent der Wertschöpfung, bei einem Realzins für die Zehn-Jahres-Staatsanleihe von 0,8 Prozent. Was aber niemanden ernsthaft zu beunruhigen scheint. Und auf dem jüngsten Jahrestreffen der American Economic Association meinte deren scheidender Präsident Olivier Blanchard:

Sie sollten nicht etwa mitnehmen, dass Schulden gut seien, sondern nur, dass sie nicht so schlecht seien wie ihr Ruf. …. Solange der reale Zins auf die Kredite niedriger ist als die Wachstumsrate, gibt es keinen fiskalischen Grund zum Sparen. Denn das Schuldenniveau schmilzt auch so wie ein Schneeball bei leichten Plustemperaturen. Sein zweites Argument: „Zins kleiner Wachstumsrate“ ist kein theoretisches Hirngespinst. Der Realzins war in den meisten Phasen seit 1950 niedriger als das Wirtschaftswachstum, mit wenigen Ausnahmen.

So billig wie heute war das Schuldenmachen aber wohl noch nie. Bestätigt das den Vorstoß links-liberaler Ökonomen, wonach Staaten mit eigener Währung sowieso nicht pleite gehen können und das Reduzieren von Staatsschulden sogar schädlich ist? Heißt doch ein Minus im Staatshaushalt ein Plus für die privaten Haushalte – ist also daher eher positiv?

Ich möchte diese Wette lieber nicht ausreizen. Aber für die Politik heißt das sicher Zeitgewinn. Wann, wie und wie lange eine solche Blase funktioniert, lässt sich allerdings nur in der Praxis testen. Wir werden es wohl erleben …

Donald Trump fiel nicht vom Himmel

piqer:
Frank Lübberding

Obwohl China „politisch und militärisch immer wichtig bleiben wird, wird es in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts keinen großen Einfluss auf die Weltwirtschaft haben … .“ Dieses Zitat stammt aus „Kopf an Kopf. Wer siegt im Wirtschaftskrieg zwischen Europa, Japan und den USA?“ des im Jahr 2016 verstorbenen Wirtschaftswissenschaftlers Lester Thurow.

Selten schien sich ein Ökonom so geirrt zu haben, wie in diesem 1993 erschienenen Buch. Es gilt bis heute als exemplarisch für die Irrtümer des Zeitgeistes. Die Fehleinschätzung Chinas ist nur ein Beispiel. Thurow sah auch nicht den Absturz Japans in die Deflation voraus, noch die im gleichen Jahr ausbrechende Krise des deutschen Industriemodells.

Interessant ist das Buch trotzdem, gerade vor dem Hintergrund der neuen industriepolitischen Debatte. Thurows zentraler Irrtum betraf die Zukunft der Globalisierung. Seine Idee von Handelsblöcken beruhte auf dem von ihm für wahrscheinlich gehaltenen Scheitern der Uruguay-Runde. Tatsächlich führte sie nur ein Jahr später zur Gründung der WTO. Obwohl China erst sieben Jahre später eingetreten ist, wurde die Integration Pekings in die globale Arbeitsteilung zum Kern der Globalisierung. China erzielte als verlängerte Werkbank riesige Handelsbilanzüberschüsse. Dafür finanzierte es im Gegenzug die amerikanische Staatsverschuldung.

Nur bedeutet Freihandel eine „scharfe Änderung der Einkommensverteilung mit Gewinnern und womöglich in jedem Land auch Millionen Verlierern,“ so Thurow. In der Theorie ging man zwar von einer Entschädigung der Verlierer durch die Gewinner aus. Nur werde sie „nie gezahlt.“ Donald Trump fiel eben nicht vom Himmel. Über Thurows Irrtümer ließ sich lange Zeit gut spotten. Mit Verspätung könnten wir trotzdem in seiner Welt mit Handelsblöcken landen, während die ordoliberalen Kritiker der Industriepolitik in einer untergegangenen Epoche leben. Ein Trost bleibt immerhin: Irrtümer wird es weiterhin geben. Wir kennen halt nur noch nicht die dazugehörenden Namen.

Studie: Die Frauenquote für Aufsichtsräte zeigt keine Wirkung in Unternehmen

piqer:
Meike Leopold

Von oben nach unten lässt sich die sogenannte gläserne Decke (auch) nicht aufbrechen. So lässt sich das ernüchternde Ergebnis einer neuen Studie des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) zur Wirksamkeit der Frauenquote in den Aufsichtsräten italienischer Unternehmen zusammenfassen. Die Quote gilt dort seit 2012. Mehr Frauen, die erfolgreich nach oben aufsteigen, hat sie den Unternehmen laut der empirischen Studie nicht gebracht.

Eine andere Studie war vor Kurzem erstaunlicherweise auch im vermeintlich so fortschrittlichen Norwegen zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Also weg mit der Quote? Zumindest reicht sie als Instrument offenbar einfach nicht aus, um eine wirkliche Verbesserung der Karrieresituation für Frauen im gesamten Unternehmen herbeizuführen. Die Autorinnen nehmen an,

dass sich Frauenkarrieren besser „von unten“ fördern lassen. Etwa durch eine bessere Kinderbetreuung, durch Jobsharing-Möglichkeiten, Mentoring oder frauenfreundlichere Bewerbungs- und Einstellungsprozesse.

Vermutlich müssen Unternehmen das Thema schlicht von beiden Seiten anpacken, damit endlich Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist. Dafür müssen sie das Problem allerdings erst anerkennen und dann Veränderungen aktiv vorantreiben. Wie das gehen kann, zeigt dieses Beispiel von Porsche.

China und die Künstliche Intelligenz: So könnte eine Zukunft mit KI aussehen

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Florian Meyer-Hawranek

Eigentlich ganz praktisch, was sich die Schule so ausgedacht hat: Zum Ausleihen der Bücher in der Bibliothek reicht es, dass Schüler ihr Gesicht in die Kamera halten, nachdem sie ihre Bücher mit einem Scanner eingelesen haben. Und auch in der Kantine kommt man ohne Ausweis und Geldbeutel aus: Einfach kurz in die Kamera geblickt, Tablett gepackt und schon geht’s zum nächsten freien Tisch. Das Tablett samt Menü wurde vorher übrigens von einer anderen Kamera gescannt, die Abrechnung läuft automatisch über eine Gesichtserkennung.

Was im Hintergrund ebenfalls erfasst wird, ist auf den ersten Blick auch praktisch. Eine künstliche Intelligenz checkt die ausgeliehenen Bücher, berechnet, was so gelesen wird und wie oft, welche Themen besonders interessieren und wo deshalb vielleicht etwas im Regal fehlen könnte. Und auch die automatische Kantinenkasse meldet das ausgewählte Essen weiter an eine KI. Aus den monatlichen Statistiken könnten Schüler dann selbst rauslesen, ob sie sich gesund ernähren oder ob es mal wieder zu viel Frittiertes gab – wenn das nicht eh schon ihre Eltern für sie gemacht haben. Die bekommen den Überblick über die Essenauswahl ihrer Kinder nämlich auch. Und wer weiß, wer noch.

Axel Dorloff skizziert in seinem Stück „China: Künstliche Intelligenz als Staatsziel“ die Pläne und konkreten Forschungsfelder der chinesischen Regierung auf ihrem Weg zur KI-Supermacht: Bis 2030 möchte China das nämlich sein und hat deshalb milliardenschwere Förderprogramme aufgelegt. „KI gilt als Allheilmittel, um die Wirtschaft zukunftsfähig zu machen – und um die autoritäre Herrschaft effizienter zu gestalten“, schließt Dorloff. Übrigens: In China gibt es für den Einsatz dieser neuen Technologien anscheinend ein hohes Maß an Akzeptanz – wenn man mal von Menschenrechtsaktivisten absieht. Denn: KI und Überwachungstools eignen sich auch bestens, um den autoritären Staat noch umfassender zu gestalten.

Warum die Zahl der Hungernden wieder steigt

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Theresa Bäuerlein

Es sind wirklich frustrierende Zahlen, aber auch ein Artikel voller Aha-Erlebnisse: Es geht darum, dass die Zahl der Menschen auf der Welt, die zu wenig zu essen haben, lange gesunken ist. Seit ein paar Jahren steigt sie aber wieder. Und das, während gleichzeitig die Wirtschaftskraft der Welt konstant wächst.

Mehr als 820 Millionen Menschen litten 2017 unter Mangelernährung, das ist jeder neunte Mensch, der auf der Welt lebt. In Afrika ist es sogar jeder fünfte. Dafür gibt es laut der Autoren dieses Artikels drei wesentliche Gründe: Erstens der Klimawandel, zweitens bewaffnete Konflikte, drittens das starke Bevölkerungswachstum.

Was mich überrascht hat: Der Handel mit Lebensmitteln und die damit verbundenen Spekulationen scheinen bei der Zunahmen der Hungernden keine Rolle zu spielen. Zwar sind die Lebensmittelpreise in den letzten Jahrzehnten gestiegen, teils mit sehr starken Ausschlägen nach oben. Aber die Zahl der Hungernden ging erst danach hoch.

Das Problem beim Handel ist eher, dass die Volkswirtschaften in Afrika ihre Bevölkerung nicht selbst ernähren können und auf Importe angewiesen sind. Und subventioniertes Getreide aus Europa oft billiger ist und so Kleinbauernstrukturen in Afrika kaputtgehen lässt.

Venezuela, ein Petrostaat mit der holländischen Krankheit

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Rico Grimm

Gerade bereite ich einen längeren Artikel über die Krise in Venezuela vor (falls ihr Fragen dazu habt, stellt sie mir hier). Bei der Literaturrecherche wird eine Sache schnell klar: Diese Krise kann man nicht verstehen, wenn man nicht versteht, wie der Ölreichtum die Politik, die Gesellschaft und das Konsumverhalten der Venezolaner in den vergangenen 100 Jahren verändert haben. Venezuela ist dabei ein gutes Beispiel für die „Dutch Disease“: Das viele Geld, das mit Ressourcenverkauf verdient wird, macht die anderen Sektoren der Wirtschaft unattraktiver. Fällt der Preis für die Ressource hat das Land kaum noch andere Standbeine. Das Council of Foreign Relation schreibt hier eine sehr gute, aber doch recht knappe Einführung in die wirtschaftliche Situation Venezuelas.

Wie Geflüchtete zu Fachkräften werden

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Antje Schrupp

Über das Arbeitsmarkt-Potenzial von Geflüchteten ist in den vergangenen Jahren viel gestritten worden, meist darüber, ob es da ist oder nicht. Die eigentlich interessante Frage wäre aber, was wir tun können, damit es da ist. Dieser Artikel beschreibt drei Projekte, je eins in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in denen Flüchtlinge (und teilweise inzwischen auch andere) Grundkenntnisse im Programmieren erwerben können. Teilweise werden sie von Unternehmen unterstützt, größtenteils aus Fördergeldern finanziert.

Vor allem für geflüchtet Frauen kann das eine Chance sein, die ansonsten standardmäßig in Pflegeberufe geschickt werden, was aber als Beruf auch nicht jeder Frau im Blut liegt. Die Vorteile für Unternehmen, Geflüchtete und Gesellschaft insgesamt liegen auf der Hand – jetzt muss es nur noch funktionieren. Wäre schön gewesen, wenn der Artikel noch mehr Informationen dazu enthalten hätte, wie es nach dem Grundkurs mit den Absolventinnen und Absolventen weiter gegangen ist und inwiefern eine Grundqualifikation in Coding tatächlich die Chancen auf einen Arbeitsplatz und damit auch gesellschaftliche Integration verbessert.

Wie unser Klimaschutz anderswo zu Gewalt und Elend führt

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Alexandra Endres

Rohstoffreichtum bringt den Ländern, in denen sich die Bodenschätze befinden, oft keine Entwicklung. Ganz im Gegenteil: In politisch instabilen Staaten, in denen Korruption alltäglich ist, wo Regeln und Kontrollen fehlen, verursacht der Bergbau oft noch zusätzliche Konflikte und Gewalt. Nur wenige werden an den Rohstoffen reich. Viele andere rutschen noch tiefer ins Elend.

Neu ist das nicht, aber das Problem könnte sich noch vergrößern – und zwar ausgerechnet durch den Übergang zu sauberer Energie. Denn um die ganzen Windturbinen, Solarpanels und Batterien herzustellen, braucht man Rohstoffe. Der Bedarf wird steigen.

In a recent report, the World Bank estimated that demand for the minerals required for solar panels—including copper, iron, lead, molybdenum, nickel and zinc—could increase by 300 per cent through 2050 should the international community stay on track to meet its 2°C goal. Similarly, demand for minerals like cobalt, lithium and rare earths is expected to grow at unprecedented rates…

Es gibt bereits Hinweise, dass der Rohstoffabbau für Öko-Energie die Gewalt in den Bergbauländern vergrößern könnte. Beispiele gefällig? Um die 60 Prozent des weltweiten Kobalts kommen aus dem Kongo. Sein Abbau geht dort mit Menschenrechtsverletzungen und schweren Umweltschäden einher. In Guatemala hat der Abbau von Nickel Berichten zufolge  zu Mord, sexueller Gewalt und Vertreibungen geführt.

In anderen Bergbauländern könnte Ähnliches passieren. Das International Institute for Sustainable Development hat jetzt einen Report vorgelegt, um abzuschätzen, wie groß die Gefahr ist – und in welchen Regionen besonders groß.

Es ist ein zentrales Thema für alle, die eine gerechtere, umweltfreundliche Welt wollen. Die Lösungsvorschläge des Reports – u. a. Transparenz, Kontrolle entlang der Lieferketten, Beteiligung der Anwohner – bleiben ein wenig abstrakt. Aber alleine die Bestandsaufnahme ist ein Verdienst.

Eine Amerikanerin erklärt die „politische Lähmung“ in Berlin

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Eric Bonse

Berlin ist in, nicht nur bei Künstlern. Auch Politiker und Politikberater kommen gern in die deutsche Hauptstadt, weil sie sich hier in dem kreativen Zentrum Europas wähnen. Das war zwar immer schon übertrieben – in Amsterdam, Brüssel oder Barcelona ist mindestens genauso viel los. Aber immerhin ist man hier im Zentrum der deutschen Macht – und damit auch in einem europäischen Powerhouse.

Doch wer sich aus Berlin frische Anregungen für eine andere Europa- oder Außenpolitik erhofft, wird enttäuscht. Der „Aufbruch für Europa“ war nie mehr als Wunschdenken eines gescheiterten Kanzlerkandidaten (Martin Schulz). Und in der Außenpolitik schwimmt Deutschland auch heute noch, nach Brexit und Trump, im alten transatlantischen Mainstream. Eigene Ideen? Fehlanzeige!

Das beklagt auch die amerikanische Politikberaterin Julianne Smith. Sie hat in der Obama-Regierung im Weißen Haus und im Pentagon gearbeitet und ist nun zu einem Studienaufenthalt in Berlin. Was sie dort erlebt hat (bzw. gerade nicht erlebt hat), sagt mehr als das bekannte Lamento aus den bekannten Talkshows. Smith beklagt die „politische Lähmung“ und versucht auch, sie zu erklären!

Über die untergrabene Freiheitsidee: Firma als Diktatur

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Gunnar Sohn

„Die moderne Firma ist eine Diktatur“, proklamiert Elizabeth Anderson, Sozialphilosophin der Universität von Michigan in Ann Arbor, im Interview mit der Zeit: „Wir pflegen einen Liberalismus, der ein Überbleibsel einer früheren Ära ist und uns für die Gegenwart blind macht. Für Adam Smith und andere Vordenker war der freie Markt ein Befreiungsprojekt, das sich gegen den Obrigkeitsstaat, Leibeigenschaft und das Monopol der Zünfte richtete.“ Als abhängig Beschäftigter sieht die Realität anders aus. Die industrielle Revolution habe die Freiheitsidee untergraben. Die politische Rhetorik kenne immer nur zwei Alternativen: den freien Markt und die staatliche Kontrolle. Die Firma kommt da kaum vor.

Dieses Bild verdeckt, dass die meisten Menschen einen Großteil ihrer wachen Stunden unter der Aufsicht von kleinen privaten Regierungen verbringen. Der wahre Antipode des freien Marktes ist nicht der Staat, sondern vielmehr die hierarchische Organisation und ihr Management. Als Ergebnis dieser Marktlogik ist der Manager nichts anderes als ein Bürokrat mit dem Büro als Zentrum seines Handelns in Schrift und Wort: Zahlen, Diagramme und Pseudo-Strategien. Er presst die polymorphe Welt in ein zweidimensionales Format und präsentiert seine Wirklichkeit in Prozess-Diagrammen und semantischen Leerformeln des Effizienz-Jargons. Sein Antrieb ist die Beherrschbarkeit und nicht das Chaos oder der Kontrollverlust.

Um seine Interpretationshoheit nicht zu verlieren, schreibt er am laufenden Band neue Reports, Kennzahlen, Indikatoren und beauftragt neue Evaluierungen. Um das zu ändern, bringt Anderson eine Graswurzelbewegung ins Spiel. Das wird nicht reichen.
Auch nicht die so genannte New-Work-Community, die Canapé-Events zur Gewissensberuhigung organisiert. Beschäftigte im Niedriglohnsektor, schlecht bezahlte Clickworker oder Vertreter der rund 1,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich mit Arbeitsverträgen auf Abruf herumschlagen müssen, brauchen politischen Flankenschutz.

Privatschulen – Wie sich die Ober- und Mittelschicht vom Rest absetzt

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Marcus Ertle

Die Spaltung der Gesellschaft ist mittlerweile ja ein vielzitiertes Bild, das aber manchmal etwas vage bleibt. Wie zeigt sich, dass eine Gesellschaft ökonomisch gespalten ist?

Dadurch, dass die Wohlhabenden in den begehrten Lagen wohnen, dass sie schneller einen Arzttermin bekommen, die teureren Autos fahren und die wertigere Kleidung tragen. Das trifft alles zu. Allerdings handelt es sich bei diesen Faktoren um solche, die eher im Erwachsenenalter zum tragen kommen und die Folge des privilegierten Lebens sind.

Eine Kluft, die viel früher ansetzt und das Zusammenleben der verschiedenen Milieus von Anfang an und damit viel nachhaltiger unterminieren dürfte, ist der Trend der Privatschulen.

Davon gibt es nämlich immer mehr und es sind nicht mehr nur die Reichen, die ihre Kinder auf teure Edelinternate schicken, sondern zunehmend auch die Mittelschicht, die ihre Söhne und Töchter für die Wettbewerbsgesellschaft fit machen wollen.

Daraus resultierend neben Chancenungerechtigkeit auch, dass sich der „reichere“ Teil der Gesellschaft immer weniger für das Gemeinwohl interessiert, zu dem etwa gut ausgestattete staatliche Schulen gehören.

Dieses Phänomen wird im sehr hörenswerten Beitrag des Deutschlandfunks sachlich und ohne anklagenden Zeigefinger beleuchtet

Wie Google, Amazon und Co. von Wikipedia profitieren

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Jörn Klare

Adrian Lobe widmet sich in der SZ den komplexen Beziehungen zwischen dem populären Onlinelexikon, das weltweit auf Platz fünf der am meisten aufgerufenen Websites liegt, und den Schwergewichten der Tech-Branche, insbesondere Google und Amazon. Einerseits zählen die beiden Megakonzerne wie auch Adobe, Apple, Cisco, Google, Hewlett Packard, Oracle, Netflix oder Salesforce zu den Wikipedia-Spendern, andererseits nutzen sie die von über 200.000 unentgeltlich arbeitenden Autoren getragene Enzyklopädie auch für ihre kommerziellen Zwecke. Google etwa braucht die ehrenamtlich erstellten Artikel zum Training seiner maschinell lernenden Algorithmen, und auch Amazons Sprachassistentin Alexa greift auf Wikipedia-Informationen zurück.

Von der Integrität der Informationen hängt entscheidend die Integrität des Werbeumfelds ab.

In Anbetracht der Milliardengewinne erscheinen die Spenden über zuletzt 3,1 Millionen, bzw. eine Million Dollar sehr überschaubar. Und auch wenn die gemeinnützige Wikipedia Foundation diese Beziehungen völlig transparent macht, und es sicher im Allgemeinen Interesse liegt, dass grundsätzlich eher korrekte Inhalte verbreitetet werden, bleibt die Frage, ob und wie sich die Idee des Gemeingutes mit dieser kommerziellen Nutzung vereinbaren lässt. Dazu kommt, dass einerseits aufgrund fehlender Autoren immer mehr Wikipedia-Artikel als veraltet gelten, und andererseits die Plattform nach einer Rechnung des Journalisten Michael Johnson bei kommerzieller Nutzung selbst 2,3 Milliarden Dollar Umsatz im Jahr erzielen könnte.

Werden die freiwilligen Autoren und Helfer ausgebeutet, wenn sich gewinnorientierte Konzerne an dem Wissensschatz wie an einem Steinbruch bedienen? Was ist der Wert geistiger Arbeit, wenn Texte zu Trainingsdaten für geistlose künstliche Intelligenzen verkommen?

Lesenswert.