Jerry Cohen starb im selben Sommer wie mein Vater. 2009 war das. Als ich für mein drittes und letztes Studienjahr im Herbst nach Oxford zurückkehrte, war das Wandeln auf Cohens Spuren untrennbar verbunden mit meinem eigenen, nahen Verlust. Es ist wohl müßig zu versuchen auseinanderzurechnen, welchen Anteil die Trauer um Cohen wohl ausmachte – auch wenn genau solche Fragen typische Ausgangspunkte von Cohens analytischer Philosophie sein konnten: Welchen Anteil hat was in einer Sache, was ist die Substanz, die beides verbindet, welches abstrakte Prinzip liegt dieser oder jener konkreten Erwägung zugrunde. Cohen nannte dies den „Oxford Style“ Philosophie zu betreiben, den er bei seinem Lehrer Gilbert Ryle dort gelernt hatte: Aus Intuitionen und konkreten Beispielen abstrakte Prinzipien ableiten. Dies kontrastierte er mit dem „Harvard Style“ von John Rawls, mit dem er sich viele Jahre auseinandersetzte.
Cohen war ein brillanter analytischer Philosoph – aber vor allem wandte er sein klares Denken an auf substantielle Fragen; Fragen, die ihn seit seiner Kindheit in einem jüdisch-marxistischen Milieu im kanadischen Montreal umtrieben: Sozialismus, Freiheit, Gerechtigkeit. Marx, Nozick und Rawls waren die großen Philosophen, an denen sich Cohen abarbeitete – und es wäre nicht vermessen zu behaupten, diese hätten sich heute genauso an ihm abarbeiten können.
Als ich im Oktober 2009 ins All Souls College spazierte, wo ich anderthalb Jahre vorher an kalten und nebligen Wintertagen in die Seminargewölbe hinabgestiegen war, um an Seminarsitzungen von Cohen teilzunehmen, steuerte ich diesmal die Pförtnerloge an. Ich sprach Peter, den Pförtner in karrierter Hose, auf Cohen an und er erzählte mir, dass er diesen noch an dem Morgen, bevor er seinen Schlaganfall erlitt, herzlich gegrüßt hatte. „Jerry war ein besonderer Mensch. Vor allem war er so unglaublich warmherzig und nahbar.“
Jürgie Bürgy Habermas vs. John the Kid Roemer
Cohen war bekannt für seinen Humor. Und seine analytische Schärfe. „Wit“ ist das englische Wort, das beides fasst. Auf Youtube kann man Videos von Cohen anschauen, in denen er sich über seine eigene Philosophen-Zunft lustig macht. Er inszeniert beispielsweise auf dem Sofa abends mit Studenten einen fiktiven Boxkampf zwischen „Jürgie Bürgy Habermas“ und „John the Kid Roemer“. Oder liest die wenigen Zeilen aus Marx‘ Vorwort von 1859 zur „Kritik der Politischen Ökonomie“, die Cohen selbst als Grundlage für sein erstes großes Werk gedient hatte, als wären sie weniger Kondensat des marxschen Historischen Materialismus, als vielmehr ein auf einen revolutionären Höhepunkt zulaufendes Liebesspiel zwischen Karl und Jenny.
Die große Linie in Cohens Lebenswerk war eine Befreiung vom Marxismus seines Elternhauses, nie jedoch zulasten einer großen Treue zu den für Cohen damit verbundenen Grundwerten. Kurz vor seinem Tod erschien das kleine Büchlein „Why not Socialism?”, in dem er sich weiterhin als Sozialist positioniert, aber nicht als verstaubter, sondern als ehrlich hinterfragender, als Optimist: Einer, der ungelösten Problemen unideologisch ins Auge sehen kann, und nicht verschweigt, wo Sozialisten noch nachzudenken haben, der zugleich jedoch mit Brillanz begründet, warum dies lohne und normativ wünschenswert sei.
Das war seine große Stärke: Nicht nur sein Gespür für Angriffspunkte der von ihm kritisierten Positionen, sondern vor allem die Fähigkeit solche Positionen in ihrer stärksten Form zu isolieren und an ihnen zu demonstrieren, dass sie inkonsistent oder hohl waren. Zugleich wahrte er die Grenzen seiner Argumente: Machte deutlich, was sie nicht zeigen konnten. Damit entwickelte er wirkungsvollere Kritiken als manche „Genossen“, die sich lediglich an Strohmännern abarbeiteten und damit die eigentliche Auseinandersetzung scheuten.
Kritik am „Bullshit-Marxismus“
Cohen war also ein Aufklärer par Excellence. Durch seine Schulung in analytischer Philosophie war er früh ein harscher Kritiker von „Bullshit“, insbesondere dem „Bullshit-Marxismus“. Und hier regte ihn am meisten auf, wenn unklares und unsauberes Denken nicht aus Unfähigkeit, sondern aus intellektueller Faulheit oder, noch schlimmer, zur bewussten Verschleierung benutzt wurde. In den 1980er Jahren traf er sich jährlich in der „September Group“, einem Kreis sogenannter analytischer Marxisten, die methodisch pluralistisch vorgingen, denen jedoch ein Bekenntnis zu Klarheit und Marxismus gemein war.
In seinem frühen großen Werk, „Karl Marx Theory of History: A Defence“ rekonstruiert Cohen den historischen Materialismus von Marx analytisch auf die wohl sauberste und konsistenteste Weise. Später schrieb er, dieses Werk sei für ihn auch nötig gewesen, um sich von seinen intellektuellen Wurzeln zu befreien. Beispielsweise zeigte Cohen in einem kleinen, aber wirkungsvollen Aufsatz mittels analytischer Philosophie, dass die marxistische Ausbeutungskritik auch ohne die diskreditierte Arbeitswertlehre bestand haben könne.
Ohne den Ballast des Marx, aber mit an ihm geschärften analytischen Klingen machte sich Cohen auf in die zeitgenössen Debatten der politischen Philosophie. Von der Ausbeutungskritik des Marxismus inspiriert setzte er sich ausführlich mit den politisch abstrusen, philosophisch jedoch scheinbar seelenverwandten Positionen des Rechts-Libertarismus auseinander. Er dekonstruierte dessen Freiheitsrhetorik und Gerechtigkeitstheorie, so dass davon nicht mehr als Scherben übrigblieben, und legte damit frei, was ihn eigentlich daran umtrieb: die sogenannte Self-Ownership-These, also die These, dass jeder moralischer Eigentümer an seiner Person und den Früchten seiner Arbeit sei.
Später begab sich Cohen in die Debatten des Egalitarismus und entwickelte den sogenannten „Luck-Egalitarianism“. Egalitarismus – so verstanden – ziele im Kern darauf ab, unfreiwillige Nachteile zu beseitigen. In ausführlichen Debatten stritt er sich unter anderem mit Ronald Dworkin über die Frage, ob die Gleichheit von Ressourcen oder von Wohlfahrt entscheidend sei, und wie man im zweiten Fall mit „teuren Geschmäckern“ umzugehen habe.
Wie gerechtfertigt sind Ungleichheiten?
Schließlich trieb es Cohen zur Auseinandersetzung mit John Rawls als dem vermutlich bedeutendsten Gerechtigkeitstheoretiker des 20. Jahrhunderts. In seinem dichtesten, ein Jahr vor seinem Tod erschienenen Werk „Rescuing Justice and Equality“ nimmt Cohen insbesondere Rawls‘ Differenzprinzip unter die Lupe, mit dem Rawls Ungleichheiten zu rechtfertigen sucht, wenn sie den am schlechtesten Gestellten – etwa durch Leistungsanreize für talentierte Personen – zugutekämen. Aus Cohens Sicht könnte dieses zwar den Privilegierten einer Gesellschaft nur recht sein, es sei jedoch als Teil einer Gerechtigkeitstheorie nicht stabil und konsistent.
Cohen begibt sich hier in „meta-theoretisches“ Terrain und fragt nach den verschiedenen Abstraktionsebenen von Gerechtigkeitstheorien, nach den Abgrenzungen zwischen individueller Moral und gesellschaftlichen Strukturen und nach der Rolle eines egalitären Ethos bei Rawls. Rawls´ Theorie komme ohne einen solchen Ethos nicht aus, so Cohen. Dieser kollabiere jedoch in sich selbst, wenn er auf Gleichheit abziele, aber zur Rechtfertigung eigener, individueller Privilegien genutzt werde. Noch lange dürften sich Rawlsianer mit Cohens Verteidigung eines radikaleren Egalitarismus beschäftigen.
Am 14. April wäre Jerry Cohen 75 Jahre alt geworden. Wie gerne würde ich jetzt mit meinem Vater zusammensitzen und mit ihm über Cohen und seine neusten Beiträge diskutieren.
Zum Autor:
Julian Bank ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialökonomie der Uni Duisburg-Essen und Herausgeber des Blogs Verteilungsfrage.org, wo dieser Beitrag zuerst erschienen ist.