In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
#BrexitReality
piqer:
Silke Jäger
Daniel Kelemen ist Professor für Politik und Recht an der Rutger Universität in New Jersey und spezialisiert auf die Politik der Europäischen Union. Als das Vereinigte Königreich im Januar 2021 die EU verließ, startete er einen Thread bei Twitter, um festzuhalten, wie sich der Brexit auswirkt.
Nun hat dieser Thread unglaubliche 1.000 Tweets erreicht und ist damit ein Zeugnis der gebrochenen Versprechen. Denn das, was die Brexit-Hardliner in goldenen Farben malten, entpuppt sich mehr und mehr als das, was es von Anfang an war: Lügen.
Im Januar traf es zuerst die Austernfischer und Meeresfrüchte-Händler. Dann ging es weiter mit leeren Supermarktregalen in Nordirland. Auch der Mangel an Lkw-Fahrer:innen war damals schon zu spüren. Seitdem ein nicht enden wollender Strom aus Enttäuschungen, Mangelzuständen und Pleiten: Würstchen-Kriege, Benzin-Knappheit, kein Wein mehr aus Portugal, insolvente Kleinunternehmen, höhere Zollgebühren, fehlende Schlangen an Grenzkontrollposten (weil der Handel mit der EU massiv einbrach), zu wenige Arbeitskräfte, schließende Restaurantketten, keine Bluttests mehr, ausbleibende Medikamentenlieferungen, Absagen bei Sportveranstaltungen durch fehlende Visa-Regelungen, verrottendes Obst und Gemüse auf britischen Feldern, teurere Handy-Verträge, Frust in der Finanzbranche, Piloten, die in der EU nicht mehr starten dürfen und und und …
Dieses beeindruckende Zeitzeugnis der Brexit-Realität endet mit Kelemens Statement:
#BrexitReality As I said when I started this 🧵, Brexit was sold on lies & the reality of Brexit is turning out – just as experts had warned – to be a fiasco and an enormous act of economic self-harm for UK.
Der IW-Verteilungsreport 2021 – Wohlstand für alle?
piqer:
Thomas Wahl
Die „immer weiter wachsende“ Einkommensschere ist das übliche Bild, um unsere Gesellschaft im Niedergang zu zeichnen. Das Institut der deutschen Wirtschaft prüft nun in ihrem aktuellen Verteilungsreport die Faktenlage. U. a. wird die Entwicklung der Primärverteilung (insbesondere die Entwicklung der Arbeitseinkommen) seit der Wiedervereinigung betrachtet. Dazu kommen auch die Markteinkommen und die Nettoeinkommen der Haushalte. Die Daten werden in zahlreichen Grafiken gut verdeutlicht. Die wesentlichen Ergebnisse fasst die FAZ wie folgt zusammenfassen:
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln … zieht ein klares Fazit: Das „oft bemühte sprachliche Bild einer sich immer weiter öffnenden Einkommensschere zwischen Arm und Reich“ erweise sich als „wenig stichhaltig“. Kurz gefasst: Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen ist zuletzt klar gestiegen. Zugleich zahlen Gutverdiener einen höheren Anteil der Einkommensteuern als 1998. Und der Anteil der Bürger mit Einkommen unterhalb der statistischen Armutsrisikoschwelle sinkt.
Wir erinnern uns, nach 2000 sank die Lohnquote – der Anteil der abhängig Arbeitenden am Volkseinkommen – von historisch hohen gut 70 Prozent auf etwa 65 Prozent (vgl. Grafik in der Studie S. 8). In zahlreichen Medien war das ein klarer Indikator für den grassierenden Neoliberalismus. Und wieder die FAZ:
Unter den Einfluss sinkender Arbeitslosigkeit im vergangenen Jahrzehnt drehte der Trend jedoch: Die Lohnquote pendelte sich bei 69 Prozent ein, bis die Schwäche der Industrie und die Corona-Krise zu einem weiteren Schub führten. Infolge sinkender Kapitaleinkommen stieg die Lohnquote im Jahr 2020 auf 74 Prozent.
Danach analysiert die Studie, die Entwicklung bei der Ungleichheit der Einkommen. Hier ist das Gesamtbild weniger eindeutig. Was die Arbeitseinkommen betrifft (Studie S. 11),
ergibt sich in Preisen von 2015 ein Anstieg des durchschnittlichen jährlichen Arbeitseinkommens von 33.152 Euro auf 37.036 Euro (+12 Prozent). Preissteigerungen haben folglich einen großen Teil des nominalen Einkommenszuwachses aufgezehrt. Im Vergleich dazu betrug das mittlere reale Arbeitseinkommen (Median) zu Beginn der Betrachtungsperiode im Jahr 1991 rund 30.205 Euro. Damit fällt es kleiner aus als das durchschnittliche reale Arbeitseinkommen in Höhe von 33.152 Euro.
Es folgen differenzierte Analysen zu den Arbeitseinkommen; aufgeschlüsselt nach Regionen, Arbeitsumfang, Arbeitseinkommensdezilen, Migrationshintergrund und Bildungsniveau. Interessant ist auch die Entwicklung der Ungleichheit der jährlichen realen Arbeitseinkommen nach Erwerbsumfang (Studie S. 27). Schauen wir uns die Arbeits- und Kapitaleinkommen auf Haushaltsebene an (Studie S. 33):
Berücksichtigt man erneut die zeitlichen Veränderungen in der Kaufkraft und drückt die Einkommen in Preisen des Jahres 2015 aus, so ist das durchschnittliche reale Arbeitseinkommen der Haushalte zwischen 1991 und 2018 von rund 47.700 Euro auf 52.300 Euro angestiegen, .. einem Plus von 10 Prozent … Somit zeigt sich auch hier, dass ein großer Teil der Einkommenszuwächse durch Preissteigerungen … aufgezehrt wurde und das reale Einkommensplus deutlich unterhalb der nominalen Steigerungsraten liegt.
Wichtig auch die Daten zu Niedrigeinkommensquoten, relativen Einkommensarmutsquoten, relativen Einkommensreichtumsquoten und Mindestsicherungsquoten (Studie S. 47, 48). Da zeigt sich z. B. dass
die Gesamtzahl der Mindestsicherungsbezieher zwischen 2006 und 2011 zunächst kontinuierlich gesunken (ist), wobei insbesondere ein starker Rückgang in Ostdeutschland zu beobachten war (von 15,6 Prozent im Jahr 2006 auf 9,9 Prozent im Jahr 2019; …). Mit Zunahme der Migration aus Osteuropa seit 2010 und später aus Syrien und anderen Drittstaaten nahm die Zahl der Asylbewerberleistungsbezieher bis zu ihrem Höhepunkt 2015 deutlich zu und so auch die Gesamtzahl von Mindestsicherungsbeziehern … Jedoch zeigt sich für die Zeit nach 2015 auch wieder ein deutlicher Rückgang, der unter anderem ein Zeichen für eine voranschreitende Integration der Geflüchteten und Zuwanderer in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft ist.
Zum Schluss ein Blick auf die Entwicklung der relativen Ungleichheit (Gini-Koeffizient – reale bedarfsgewichtete Haushaltsmarkt- und Haushaltsnettoeinkommen, Grafik S. 51). Auch ohne staatliche Umverteilung bei den Markteinkommen hat sich der Koeffizient in den letzten 20 Jahren kaum verändert. Und die Umverteilung senkt diesen Koeffizienten um ca. 20 % – von 0,48 auf 0,29.
Wie Grüne und FDP klimapolitisch zusammenfinden
piqer:
Rico Grimm
Ein kleines Ratespiel. Wer hat diesen Satz geschrieben? FDP oder Grüne?
„Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen.“
Falsch. Es war die FDP. Dieser Satz stammt aus den „Freiburger Thesen“ der Liberalen, ist 50 Jahre alt und mit der Grund dafür, dass die FDP in dieser Zeit als „radikale Umweltpartei“ galt. Und bei den Grünen wiederum übten in den 1980er Jahren sogenannte „Ökolibertäre“ Kritik an den sozialistischen Tendenzen innerhalb der Partei. Ein führender Kopf dieser Gruppe: Winfried Kretschmann, jetziger Ministerpräsident von Baden-Württemberg.
Es ist Mitpiqer Christian Schwägerl zu verdanken, dass diese schon überraschenden Fakten jetzt in die Debatte über eine mögliche Ampel-Koalition fließen können. Er arbeitet in dem Kommentar, den ich euch hier nachdrücklich empfehle, sehr schön heraus, dass erstens Grün und FDP keine unvereinbaren Gegensätze sind und zweitens, dass politische Ideologien grundsätzlich fließend sind, amorph. Sie schwingen im „Wind der Veränderung“.
Die nächste EU-Krise: Energie
piqer:
Eric Bonse
Im Wahlkampf spielte das Thema praktisch keine Rolle – genauso wenig wie die Europapolitik. Doch nun drängt der neue Energiepreisschock vom Wirtschaftsteil auf die Titelseiten, und der EU droht eine neue Krise. Mehrere EU-Länder haben Brüssel schon zu Hilfe gerufen, weil Gas und Strom zu teuer werden und die Bürger murren. Frankreich hat den Gaspreis gedeckelt, Spanien hat seine Energieversorger gemaßregelt, Polen stellt sogar den „European Green Deal“ infrage.
Was ist passiert? „Capital“ erklärt die Sache so:
Die Vorräte in den europäischen Speichern sind so niedrig wie nie zu dieser Jahreszeit. Zu wenig Erdgas strömte aus den Pipelines von Russland und Norwegen nach Europa. Die Situation ist umso alarmierender, weil die Windkraftanlagen wegen mangels Wind weniger Strom erzeugt haben, während alternde Atomkraftwerke in Europa abgeschaltet werden oder zu Ausfällen neigen. Dadurch ist Gas noch unverzichtbarer. So ist es nicht verwunderlich, dass die europäischen Gaspreise im vergangenen Jahr um fast 500 Prozent in die Höhe geschossen sind und jetzt in der Nähe ihrer Rekordstände notieren.
Natürlich gibt es auch andere Erklärungen. Einige Europaabgeordnete verdächtigen den russischen Lieferanten Gazprom, absichtlich zu wenig Gas zu liefern, um die neue Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 zu pushen. Andere schieben die Schuld auf den europäischen Emissionshandel, der den Preis künstlich in die Höhe treibe. Wieder andere weisen mit dem Finger auf Steuern und Abgaben – vor allem in Deutschland ist das ein Thema. Fest steht, dass Europa ein ernstes Problem hat.
Und das dürfte so schnell nicht wieder verschwinden. Bei einem kalten Winter drohen sogar Versorgungsengpässe – mancherorts könnten die Heizungen ausgehen. Zudem zieht die Energiekrise einen ganzen Rattenschwanz an Folgen nach sich – Firmen müssen die Produktion einstellen, Lieferketten brechen zusammen, Düngemittel werden knapp, sogar Lebensmittel könnten teurer werden. Nur bei der EU in Brüssel hat man den Ernst der Lage noch nicht erkannt.
Die EU-Kommission wiegelt ab und spricht von einem vorübergehenden Problem. Immerhin will die Brüsseler Behörde den besorgten Mitgliedsländern nun einen „Werkzeugkasten“ anbieten, damit sie gegensteuern können. Es wird höchste Zeit!
Wiederaufbau nach der Flutkatastrophe
piqer:
Daniela Becker
Der unmittelbar nach der Hochwasserkatastrophe in NRW eingerichtete Instagram-Account fnordzwodrei dokumentiert Veränderungen in Ahrweiler. Sie ist immens.
Angesichts der großflächigen Zerstörung steht die Frage im Raum, wie der Wiederaufbau so gestaltet werden kann, dass die Menschen ihre Heimat nicht als Region der Vergangenheit, sondern als Zukunftsregion sehen. Das Ahrtal und die Eifel sollten zu „Modellregionen für den Klimaschutz“ werden, fordert etwa der Runde Tisch Erneuerbare Energien. Im Moment steht jedoch weniger der Klimaschutz, sondern die Klimaanpassung im Vordergrund: Wie baut man die Infrastrukturen so auf, dass sie für künftige Ereignisse besser gewappnet sind?
Bundestag und Bundesrat haben Anfang September Aufbauhilfen in Höhe von 30 Milliarden Euro beschlossen – „eine bisher nie dagewesene Summe für solche Ereignisse“, stellte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) fest. Doch was genau mit dem Geld passieren soll, ist in ihrem Land noch unklar. Nördlich der Grenze, wo Armin Laschet (CDU) als Ministerpräsident regiert, werden hingegen schon Pläne gemacht.
Damit der Wiederaufbau zügig erfolgen kann, will Nordrhein-Westfalen Anpassungen im Planungs- und Baurecht vornehmen. Unter anderem soll für öffentliche Stellen die Pflicht zur europaweiten Ausschreibung für eine bestimmte Zeit ausgesetzt werden, erklärte ein Sprecher der Staatskanzlei in Düsseldorf. Bei den Baugenehmigungen soll es Erleichterungen geben.
Mit dem Neuaufbau ganzer Dörfer an anderer Stelle hat Nordrhein-Westfalen lange Erfahrung: Wurden doch für den Braunkohletagebau ganze Dörfer umgesiedelt. Dass darum jetzt auch Ortschaften schon fast leer stehen, die der Bagger noch nicht erreicht hat, ermöglicht eine ungewöhnliche Hilfszusage: Flutopfer erhielten vom Energiekonzern RWE das Angebot, in den fast verlassenen Dörfern des Braunkohlereviers für ein, zwei Jahre Unterkunft zu bekommen, die in den nächsten Jahren vermutlich dem Tagebau weichen müssen.
Aber ist es überhaupt vertretbar, von der Flutkatastrophe zerstörte Häuser an gleicher Stelle wieder aufzubauen? Und wer will das überhaupt?
Meine Kollegin Christiane Schulzki-Haddouti hat in einem sehr informativen, differenzierter Hintergrundbericht zusammengefasst, in welche Richtungen die Überlegungen der Betroffenen und der politischen Entscheidungsträger gehen.
Transparenzhinweis: Ich bin Teil des Projekts „Klima wandeln“ bei RiffReporter.de
Wer ist Kevin Kühnert?
piqer:
Sven Prange
Vor der Bundestagswahl konnte man in den meisten Medien ein Phänomen beobachten: Der (Wieder-)Aufstieg der SPD in den Kreis der realistischen Regierungsaspiranten wurde mit sehr wenig „wegen“ und sehr viel „trotz“ erklärt. Die SPD befand sie, so war zu lesen und zu hören, vielleicht noch wegen Olaf Scholz im Aufwind. Aber auf jeden Fall trotz ihres Programms, trotz ihrer Vorsitzenden, trotz ihrer langen Leidensgeschichte seit Ausrufen der Agenda 2010 – vor allem aber TROTZ Kevin Kühnert.
Der ist zwar „nur“ Vize-Chef der Partei, aber dennoch Kristallisationspunkt nahezu sämtlicher Kritik und Anfeindungen all jener Menschen, die sich selbst eher nicht als sehr weit „links“ verorten. Und man kann sagen: Durch Äußerungen wie jener nach der Verstaatlichung von BMW oder dem ein oder anderen Auftritt als Juso-Chef in der Vergangenheit, hat Kühnert diese Erzählung durchaus genährt. Was aber hinter dieser Projektion ein wenig verborgen blieb: Ob der ehemalige Juso-Chef sich nicht vielleicht in den vergangenen drei Jahren auch entwickelt hat. Und ob sein Wirken in die Partei hinein nicht auch den ein oder anderen Erklärungsansatz für den neuen Aufwind der Sozialdemokrat:innen bietet.
Das holt dieser Film, beziehungsweise diese sechsteilige Serie, nach. Das NDR-Team hat Kühnert drei Jahre lang eng begleitet. Und erklärt so nicht nur die Metamorphose eines Nachwuchspolitikers vom Bürgerschreck zum Macht-Architekten. Es erklärt auch viel über Meinungs- und Imagebildungsprozesse in der Berliner Republik – so nah, wie man jenen sonst selten kommt.
Ohne Krankenversicherung: Gesundheitskollektive helfen
piqer:
transform Magazin
Laut »Ärzte der Welt« gibt es Hunderttausende ohne Krankenversicherung in Deutschland. Gesundheitskollektive helfen ihnen – und lassen zugleich den Staat sich nicht aus der Verantwortung ziehen.
Ein Auszug:
»Bei Menschen ohne Aufenthaltsstatus ist der Ausschluss besonders dramatisch«, erklärt Kratzsch vom Medibüro. Diese werden dem Asylbewerberleistungsgesetz zugeordnet und haben damit Anspruch auf eine grundlegende Versorgung. »Vor allem Krankheiten, die über einen längeren Zeitraum Schaden anrichten, werden nicht ernst genommen«, kritisiert Kratzsch. Damit sich die Menschen überhaupt behandeln lassen können, benötigen sie einen Krankenschein von der zuständigen Sozialbehörde. Und wie sich beispielsweise bei Marian zeigt, steckt hier der eigentliche joke, wie Kratzsch es nennt. Das Sozialamt ist gesetzlich dazu verpflichtet, die Ausländerbehörde über die Papierlosen zu informieren. Folglich vermeiden es die Menschen, zum Arzt zu gehen.
Die Angst vor dem Arztbesuch führt dazu, dass Erkrankungen lange verschleppt werden. »Manche mit Krebserkrankungen kommen erst, wenn zum Beispiel die Luftröhre vom Krebs bereits zugedrückt wird«, erklärt Kratzsch, »dann sitzt du da und denkst dir: ja, scheiße – wärst du mal vor zehn Jahren gekommen.«…
Es existieren bereits einige Ideen… Zum Beispiel gibt es in vielen größeren Städten bereits das duale Modell der Clearing-Stelle: Menschen ohne Versicherung können sich dort hinwenden und Sozialarbeiter versuchen einen Weg für sie zurück ins Regelsystem zu finden. Auch hier wird die Geheimhaltung der persönlichen Daten gewährleistet.
Ein anderes Modell, das beispielsweise schon in Hannover und Göttingen seit 2016 umgesetzt wird, ist der anonyme Krankenschein. Die Idee ist dabei folgende: Menschen ohne Papiere können diesen bei Sozialämtern abholen, ohne dass Daten an Behörden weitergegeben werden müssten. Mit dem Schein haben sie einen ungehinderten Zugang zur Versorgung…
»Die ärztliche Ethik sollte sein: erst behandeln, dann über die Finanzierung nachdenken«, sagt die Ärztin Kirsten Schubert. Zusammen mit 25 MitstreiterInnen hat sie ein gemeinnütziges Gesundheitszentrum in Berlin-Neukölln aufgebaut – das Gesundheitskollektiv Berlin. Ihr Ziel lautet: »Gesundheit für alle«. Ärzte, Pflegekräfte, Sozialarbeiter und Wissenschaftler sind mit im Team, denn Gesundheit soll mehr sein als nur medizinische Versorgung. Dass dies sinnvoll ist, zeigen verschiedene Studien.
Neuer Bundestag: Zersplitterung ist auch eine Form der Diversität
piqer:
Jannis Brühl
Es ist ein bisschen, als würden nun auch die letzten Reste der alten Bundesrepublik im Zentrum der Macht beseitigt. Volksparteien gibts es gefühlt nicht mehr, auch die starke Merkel-CDU ist Geschichte. Im neuen Bundestag sitzen sechs Fraktionen, das sind doppelt so viele wie noch 1983.
In der SZ kommentiert mein Kollege Joachim Käppner, wie erfrischend er diese Zersplitterung des Parteiengesetzes findet, allen Ängsten vor mangelnder Stabilität in Deutschland zum Trotz (die es auch im Ausland gibt):
Ein Zurück … ist weder möglich noch wünschenswert, wie das Beispiel der Union zeigt. Sie erfuhr mit der AfD, was die SPD schon zweimal, durch Grüne und Linke, erlitten hatte: eine inhaltlich unvermeidliche Abspaltung.
Die Gesellschaft sei eben diverser geworden, die zwei großen Partei-Blöcke der Nachkriegszeit könnten dem nicht mehr gerecht werden. Die neue Gesellschaft spiegelt sich nicht nur in den Biographien vieler Abgeordneten wider, die jetzt im Bundestag sitzen, sondern auch im Spektrum von AfD über die Grünen bis zur Linken.
Für Käppner bricht eine neue Zeit des Pragmatismus an:
Wenn mehr Parteien nötig sind, um eine Regierung zu bilden, muss es zwischen ihnen auch mehr Kompromisse geben. Für die Prediger reiner Lehren unter ihrem Personal ist das eine schlechte Nachricht. Stabilität aber ist auch mit einem Dreierbündnis möglich.
Schauen wir mal, wie stabil die Sondierungen verlaufen.