Solidarisches Grundeinkommen

Warum die aktuelle Hartz IV-Debatte abgehoben und letztendlich auch verlogen ist

Mit seinem Vorschlag für die Einführung eines „solidarischen Grundeinkommens“ hat Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller vor allem in der SPD die Debatte um Hartz IV neu entfacht. Deswegen aber nun eine Abschaffung des bei vielen Menschen verhassten Systems in Aussicht zu stellen, ist mindestens naiv, wenn nicht sogar versuchte Rosstäuscherei. Ein Kommentar von Stefan Sell.

Foto: Pixabay

Jetzt wird also das Thema Hartz IV durch die Talkshows getrieben – oftmals ein guter Indikator dafür, dass der Höhepunkt einer den Gesetzen der Erregungs- und Aufmerksamkeitsökonomie folgenden öffentlichen Debatte überschritten wurde und dass das Thema demnächst im medialen Mülleiner landet, weil bereits die nächste Sau darauf wartet, durch das Dorf hecheln zu müssen.

Dabei gäbe es wahrlich viele Gründe, über das Thema Hartz IV und ernsthaft über Alternativen oder wenigstens doch substanzielle Korrekturen zu streiten. Nur zur Erinnerung: Wir reden hier nicht über irgendeinen Orchideen-Bereich, sondern um den letzten Außenposten unseres Sozialstaats, von dem eine Menge Menschen betroffen und abhängig sind. Genauer gesagt: 5.950.000. So viele Menschen haben im März 2018 Leistungen aus dem Grundsicherungssystem bezogen. Und schon der etwas genauere Blick auf die Zahlen dürfte den einen oder die andere irritieren: Von den knapp sechs Millionen „Hartz IV-Beziehern“ – oder wie es im Technokraten-Deutsch heißt: „Regelleistungsberechtigten“ – waren 4,3 Millionen bzw. 71,6% erwerbsfähig. Davon sind wiederum 1,6 Millionen (37,5%) als arbeitslos bei einem Jobcenter gemeldet.

Dies könnte deshalb irritierend sein, weil in der öffentlichen Debatte – ob bewusst oder unbewusst – in der Regel diese Gleichung aufgemacht wird:

Hartz IV-Bezieher = Arbeitslose = Langzeitarbeitslose

Für den Anfang sollte man unbedingt zur Kenntnis nehmen, dass das Grundsicherungssystem nicht ausschließlich und noch nicht einmal überwiegend aus langzeitarbeitslosen Menschen besteht, von denen viele seit Anbeginn dieses höchst umstrittenen Systems in der Abhängigkeit von den Wohlfahrtsleistungen des Staates eingemauert sind. Wie die Bundesagentur für Arbeit (BA) erläutert, haben über 50% der „erwerbsfähigen Leistungsberechtigten“ (ELB) den Status „nicht arbeitslos“.

Ein heterogener „Kundenstamm“

Vielmehr unterscheiden sich die Betroffenen durch eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Biografien und Lebensphasen, in denen eine kurze oder auch längere Angewiesenheit auf Hartz IV-Leistungen festzustellen ist. Das kann von der alleinerziehenden Mutter über den in der Minijob-Falle hängenden Aufstocker bis hin zu dem selbständigen Künstler mit sporadischen und sehr niedrigen Einkommen reichen. Darunter sind auch Menschen, die parallel eine Ausbildung absolvieren oder die als Flüchtlinge nach einiger Zeit im Hartz IV-System „angekommen“ sind. Und gerade aus der Gruppe der nach Deutschland geflüchteten Menschen kommen derzeit immer mehr neue „Kunden“, wie die Menschen im Jobcenter-Deutsch genannt werden. Außerdem wäre zu berücksichtigen, dass in der Zahl von sechs Millionen Leistungsempfängern auch eine große Gruppe an „nicht-erwerbsfähigen“ Leistungsempfängern sind, vor allem Kinder.

Daher sollten alle halbwegs ernsthaften Diskussionen über Hartz IV diese enorme Heterogenität zur Kenntnis nehmen – woraus natürlich das Problem resultiert, dass es den einen Passepartout-Ansatz zur Lösung der mit Hartz IV tatsächlich verbundenen oder behaupteten Probleme gar nicht geben kann.

Genau das wurde und wird uns aber seit einigen Wochen in der öffentlichen Diskussion vermittelt. Oder es soll uns so verkauft werden – was einer famosen Rosstäuscherei gleichkäme, wenn die diskutierenden Personen tatsächlich nur etwas über die Funktionsweise des Grundsicherungssystems informiert wären. Und man sollte nicht unterschätzen, welche Wirkungen solche Schlagzeilen auf Menschen haben, die nicht über das System-Wissen verfügen (können), sehr wohl aber die Folgen des Systems selbst zu spüren bekommen (haben) oder das in ihrem Umfeld wahrnehmen.

Das solidarische Grundeinkommen

Das jüngste Medienecho haben vor allem die momentan in der SPD laufenden Debatten ausgelöst, die wiederum primär auf den Vorstoß von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller zur Einführung eines „solidarischen Grundeinkommens“ zurückzuführen sind. Die Debatte veranlasste einige SPD-Spitzenpolitiker dazu, ein Ende des Hartz IV-Systems in Aussicht zu stellen. „Am Ende eines solchen Prozesses könnte das Ende von Hartz IV stehen“, sagte etwa die stellvertretende SPD-Vorsitzende und rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Selbst der neue Bundesarbeitsminister Hubertus Heil – der gemeinhin als „Schröderianer“ eingeordnet wird – zeigt sich offen für Gespräche über eine Abschaffung von Hartz IV und die Einführung eines solidarischen Grundeinkommens. Gleichzeitig betonte der neue Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz, dass das „Kernprinzip der Arbeitsmarktreform“ für die SPD nicht infrage stehe.

Ganz offensichtlich ist man sich innerhalb der SPD in dieser Frage alles andere als einig. Aber allein schon die Inaussichtstellung einer „Abschaffung“ des bei vielen Menschen mit Skepsis bis hasserfüllter Ablehnung verbundenen Hartz IV-Systems ist bei nüchterner Betrachtung gelinde gesagt naiv – und bösartig formuliert ein mieser Versuch, den Menschen eine Karotte für die Augen zu halten, die sie auf absehbare Zeit niemals werden erreichen können.

Diese Bewertung mag etwas hart klingen, ist aber meiner Meinung nach gerechtfertigt, wenn man die derzeit realistisch erscheinenden (Nicht-)Veränderungsoptionen analysiert, die sich aus dem Vorschlag zum solidarischen Grundeinkommen ergeben würden.

Ein Beschäftigungsprogramm für eine begrenzte Zahl an Betroffenen

Werfen wir zunächst einen Blick auf Michael Müllers konkreten Vorschlag. Bereits Ende Oktober 2017 schrieb Müller, dass er sich solidarisches Grundeinkommen vorstellen könne, da es schließlich „genug zu tun“ gebe:

„Ich bin sicher, jedem von uns fällt einiges ein, was wegen klammer staatlicher Kassen heute nicht möglich ist: Sperrmüllbeseitigung, Säubern von Parks, Bepflanzen von Grünstreifen, Begleit- und Einkaufsdienste für Menschen mit Behinderung, Babysitting für Alleinerziehende, deren Arbeitszeiten nicht durch Kita- Öffnungszeiten abgedeckt werden, vielfältige ehrenamtliche Tätigkeiten wie in der Flüchtlingshilfe, als Lesepatin oder im Sportverein als Übungsleiter und und und.“

Dieser Grundgedanke wurde vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) inzwischen wissenschaftlich begleitet. In ihrer Abschätzung der unmittelbaren Einkommenswirkungen und fiskalischen Kosten kommen die DIW-Forscher Stefan Bach und Jürgen Schupp zu dem Ergebnis, „dass jede geschaffene „solidarische“ Stelle Nettozusatzkosten (also abzüglich der eingesparten Leistungen) von 5.000 bis 7.500 Euro pro Jahr bedeuten würde“. Gehe man von 100.000 Menschen aus, die in den Genuss der Maßnahme kommen, käme man auf eine Summe von bis zu 750 Millionen Euro. Allerdings wird hier ausgeklammert, dass man sich die „eingesparten Leistungen“ natürlich wieder dazu denken muss, denn offensichtlich werden die bislang gezahlten Hartz IV-Beträge „nur“ umgewandelt, und zwar in einen Teil des Lohnkostenzuschusses, um den es letztendlich geht (man kennt den Ansatz aus der Diskussion über den „Passiv-Aktiv-Transfer“).

Müller interpretiert die Ergebnisse der DIW-Studie jedenfalls in seinem neuen Beitrag so, dass „das Solidarische Grundeinkommen (…) für die Gemeinschaft schon jetzt bezahl- und umsetzbar“ ist. Zudem sei er überzeugt, dass die „Arbeitslosigkeit vielfach in Hartz IV verwaltet“ werde und „es keinen Sinn macht, weiter auf Hartz-IV-Reformen zu setzen. (…) Nur durch eine neue soziale Agenda wird es uns gelingen, auf die Herausforderung der Digitalisierung der Arbeitswelt zu reagieren. Herzstück müsste dabei die Ergänzung, im besten Fall die Abschaffung, von Hartz IV zugunsten eines neuen Systems sein, um Langzeitarbeitslosen wieder eine Chance zu geben. Wir brauchen jetzt ein neues Recht auf Arbeit.“

Laut Müller

„können wir die für die Verwaltung von Arbeitslosigkeit eingesetzten Finanzmittel als Grundstock nutzen und so neue, fair bezahlte Arbeit für das Individuum und für die Gemeinschaft schaffen. Arbeit mit Solidarischem Grundeinkommen ist wie jedes normale Arbeitsverhältnis freiwillig, sozialversicherungspflichtig und nicht befristet. Wer keine Tätigkeit wahrnehmen kann oder will, kann im bisherigen Arbeitslosenhilfe-System bleiben. Zudem muss es sich um „gesellschaftliche“ Tätigkeiten handeln, die vorher für die Kommunen nicht finanzierbar waren.“

Der Kern von Müllers Vorschlags ist also eine spezifische Form der öffentlich geförderten Beschäftigung für einen Teil der langzeitarbeitslosen Menschen – spezifisch, weil die Tätigkeiten auf bestimmte „Zulieferer“-Arbeiten im kommunalen Bereich beschränkt sein sollen, die vor allem aus finanziellen Gründen derzeit nicht erledigt werden (können). Dies soll dann wiederum auf Menschen unter den Langzeitarbeitslosen begrenzt werden, die derart viele und/oder schwerwiegende „Vermittlungshemmnisse“ haben, dass sie kaum oder absehbar keine Chancen mehr haben werden, auf dem „normalen“ Arbeitsmarkt landen zu können. Die Teilnehmer sollen etwa als Hausmeister in kommunalen Einrichtungen arbeiten, als Babysitter oder als Betreuer von Älteren und Behinderten. Müller beteuert, es ginge hierbei nur um zusätzliche, bisher nicht geleistete Arbeit.

Positiv an Müllers Vorschlag ist sicherlich, dass hier zum einen die Existenz von solchen Arbeitslosen eingestanden wird, ihnen ein Angebot zur Teilhabe über Erwerbsarbeit gemacht und dass die Teilnahme an den Beschäftigungsangeboten daran freiwillig, also nicht sanktionsbelastet ausgestaltet werden soll. Hinzu kommt im Vergleich zu bestehenden Beschäftigungsangebote wie den Arbeitsgelegenheiten (umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet), dass sie nicht derart rigide befristet werden sollen wie das heute der Fall ist (mit vielen Frustrationsprozessen bei den Betroffenen). Und ganz wichtig: die geförderte – sozialversicherungspflichtige – Arbeit soll nach dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet werden.

Die Verwendung der Begrifflichkeit „solidarisches Grundeinkommen“ ist offensichtlich politisch motiviert und eine veritable Rosstäuscherei für die Hartz IV-Empfänger

Es geht also um ein Beschäftigungsprogramm für eine begrenzte Zahl an Betroffenen unter den Hartz IV-Empfängern, über das man sicher streiten kann (was auch zwischenzeitlich vielfach gemacht wurde). Aber aus der Gesamtperspektive von Hartz IV wäre das nur ein weiterer Baustein in der langen und wechselvollen Geschichte der öffentlich geförderten Beschäftigung. Dafür nun die Begrifflichkeit „solidarisches Grundeinkommen“ zu verwenden, ist offensichtlich politisch motiviert und eine veritable Rosstäuscherei für die Hartz IV-Empfänger – vor allem, wenn das dann auch noch als Möglichkeit verkauft wird, Hartz IV insgesamt „abzuschaffen“ oder „zu überwinden“.

Durchaus plausibel ist die Annahme, dass einige SPD-Vertreter den nicht nur für sie traumatischen Begriff „Hartz IV“ beseitigen wollen. Gleichsam kapert die Wortschöpfung „solidarisches Grundeinkommen“ den bei vielen Menschen erst einmal positiv besetzten Begriff „Grundeinkommen“ – positiv deswegen, weil der normalerweise mit dem Zusatz „bedingungslos“ verknüpft ist, was man schon mal schnell mit „solidarisch“ verwechseln kann.

Unabhängig von der Frage, ob und wie ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ überhaupt realisierbar wäre – das hier diskutierte Modell von Müller ist ja nun gerade nicht bedingungslos, denn es ist explizit und unauflösbar an die Aufnahme einer bestimmten Erwerbsarbeit gebunden. Wobei die Instrumentalisierung der Begrifflichkeit durch einige Sozialdemokraten – das muss man fairerweise anmerken – nicht auf Michael Müller selbst zurückgeht, der sich in seinem Artikel aus dem letzten Jahr ausdrücklich von einem bedingungslosen Grundeinkommen distanziert hatte.

Aber dennoch leistet er einen aktiven Beitrag dazu, bei den Menschen, die nur die Schlagzeilen lesen, Hoffnungen zu generieren, die mit Sicherheit im Kontext der gegebenen politischen Rahmenbedingungen nicht in Erfüllung gehen können: „Viele können nicht nachvollziehen, warum man die rote Karte bekommt“, kritisiert Müller das Sanktionssystem.  Ein wichtiger Punkt, aber in seinem Modell beschränkt sich die Sanktionslosigkeit nur auf das begrenzte Beschäftigungsprogramm – von den anderen mehreren Millionen Hartz IV-Empfängern war bislang kein Wort zu hören. Diese würden weiter unter die bestehenden Regelungen des SGB II fallen.

Eine Sonderform von Hartz IV

Faktisch würde bei der Realisierung dieses Ansatzes für eine Teil-Gruppe unter den (mindestens, weil statistisch kleingerechneten) 800.000 langzeitarbeitslosen Menschen eine Art Sonderform von Hartz IV entstehen. Denn es wird berücksichtigt, was sie sowieso an Grundsicherungsleistungen bekommen hätten, und kapitalisiert dies dann in Form einer Finanzierung einer sozialversicherungspflichtig ausgestalteten Stelle im kommunalen Bereich. Immerhin würden die Teilnehmer dann wenigstens (wie so viele andere „normale“ Arbeitnehmer auch) einen Lohn in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns erhalten. Das hat aber mit einer „Abschaffung“ von Hartz IV nichts zu tun. Es würde lediglich die Formenwelt dieses höchst komplexen (und eben gerade nicht auf die derzeit immer wieder gerne zitierten 416 Euro pro Monat zu reduzierenden) Grundsicherungssystems erweitern – und es damit noch komplizierter machen.

Dazu noch drei vertiefende Einwürfe, die leider all jene frustrieren dürften, die eine Sehnsucht nach einfachen Lösungen haben:

1

Wie Florian Diekmann richtigerweise in einer Analyse auf Spiegel Online anmerkt, passen Zielgruppe und die geplanten Arbeitsplätze oft nicht zusammen, weil die gemeinnützigen Jobs ja Menschen angeboten werden sollen, die laut Müller aus den verschiedensten Gründen nicht fit sind für den Arbeitsmarkt seien. Viele hätten gleich mehrere schwerwiegende Probleme wie Überschuldung, Sucht, psychische Erkrankungen oder eine fehlende Berufsausbildung. Jedoch würden laut Diekmann „Tätigkeiten wie Ernährungsberatung, Betreuung von Flüchtlingen, Trainer im Sportverein oder auch das Babysitting für Alleinerziehende aber oft nicht nur eine relativ hohe Qualifikation, sondern auch soziale Kompetenz, Verlässlichkeit und Belastbarkeit (erfordern) – also gerade jene Kompetenzen, die durch einen sozialen Arbeitsmarkt erst aufgebaut werden sollen. Sie sind also Ziel und nicht Voraussetzung.“

2

Zudem wurde immer wieder hervorgehoben, dass die Bezahlung der neuen Stellen in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns die Menschen aus dem bisherigen Hartz IV-Bezug befreien würde. Allerdings geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Frage des Grünen-Bundestagsabgeordneten Markus Kurth hervor, dass beispielsweise in Berlin ein Alleinstehender bei einem Brutto-Monatseinkommen von 1.500 Euro laut Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums noch Anspruch auf ergänzende Hartz–IV-Leistungen von bis zu 84 Euro hätte.

3

Was in der öffentlichen Diskussion bisher überhaupt nicht aufgetaucht ist: „Die Bürokratie wird noch verheerender als bisher“, wie der Autor und Verleger Egon W. Kreutzer in einem Blogbeitrag feststellt: „Wird es einen „Arbeitswert“ geben, mit Stundenlohn-Äquivalenten von 4,00, 6,00 oder 8,00 Euro, was der Babysitterin ein Solidarisches Grundeinkommen von 32 Euro zubilligt und dem Parkreiniger ein Grundeinkommen von 960 Euro? Und sind beide dann berechtigt, zur Sicherung des Lebensunterhalts aufstockende Leistungen zu beantragen?“

Geringe Realisierungschancen

Natürlich sind die Diskussionen über den Müller-Vorschlag wichtig, aber ob sie Realität werden, bleibt eine vollkommen andere Frage. Zumindest, darauf kann auch Müller verweisen, gibt es im Koalitionsvertrag eine Absichtserklärung, an die man sein Modell andocken könnte – obgleich das, was dort vereinbart wurde, weit über die konzeptionelle Verengung auf kommunale Jobs hinausgeht. Schauen wir im Koalitionsvertrag nach, was dort unter dem Terminus „Sozialer Arbeitsmarkt“ behandelt wird:

„Die Teilhabe am Arbeitsmarkt erfolgt dabei sowohl auf dem ersten Arbeitsmarkt als auch auf dem sozialen Arbeitsmarkt z. B. durch Lohnkostenzuschüsse. Das schließt Arbeitgeber der freien Wirtschaft, gemeinnützige Einrichtungen und Kommunen ein. Bei den sozialversicherungspflichtig bezuschussten Arbeitsverhältnissen im sozialen Arbeitsmarkt orientiert sich der Zuschuss am Mindestlohn. Dazu schaffen wir u. a. ein neues unbürokratisches Regelinstrument im Sozialgesetzbuch II „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“. Wir stellen uns eine Beteiligung von bis zu 150.000 Menschen vor. Die Finanzierung erfolgt über den Eingliederungstitel, den wir hierfür um vier Milliarden Euro im Zeitraum 2018 bis 2021 aufstocken werden. Wir ermöglichen außerdem den Passiv-Aktiv-Transfer in den Ländern. Der Bund stellt dazu die eingesparten Passiv-Leistungen zusätzlich für die Finanzierung der Maßnahmen zur Verfügung.“

Wer sich ein wenig in den jahrelangen Diskussionen über eine Weiterentwicklung der öffentlich geförderten Beschäftigung in Deutschland auskennt, weiß, dass das im Vergleich zur bestehenden Rechtslage ein Schritt nach vorne wäre – vor allem hinsichtlich der bislang von der GroKo vehement abgelehnten Finanzierung über einen Passiv-Aktiv-Transfer sowie die Inaussichtstellung eines Regelinstruments. Aber völlig an den Realitäten vorbei geht die Vorstellung, dass dies ein großer Sprung wäre.

Dies verdeutlicht ein Blick auf die Entwicklung der öffentlich geförderten Beschäftigung im Hartz IV-Bereich. Wie die folgende Grafik zeigt, entspräche die von der GroKo angepeilte „Beteiligung von 150.000 Menschen“ nicht einmal einer Kompensation des zuvor erfolgten Abbaus:

 

Und dazu muss man wissen: der leichte Anstieg der Teilnehmerzahlen am aktuellen Rand der Zeitreihe geht ausschließlich auf zwei Bundesprogramme zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit zurück, die von der ehemaligen SPD-Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles ins Leben gerufen worden waren – und die bereits ausgelaufen sind bzw. in diesem Jahr auslaufen. Insofern wäre das neue Instrument wenn überhaupt eine Fortsetzung und eine gewisse Verstetigung der bisherigen Modellprogramme.

Auch müssen die (übrigens für vier Jahre angelegten) vier Milliarden Euro relativiert werden, wie diese Rechnung von Andreas Hammer zeigt. „Legt man die zusätzliche Fördersumme von 1 Mrd. EUR (pro Jahr) auf die 150.000 Förderfälle um, so geht es um einen Monatsbetrag von rund 556 EUR pro Person. Dies gilt dann, wenn die Summe komplett den Langzeitarbeitslosen direkt zu Gute kommt. Werden davon noch Kosten für die Administration, Coaches, Maßnahmeträger usw. abgezogen, dann ist es entsprechend weniger. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Förderaufwand für eine Arbeitsgelegenheit (AGH) betrug deutschlandweit in 2016 im Monat 402 EUR. Hamburg und Bremen gaben bereits 2016 für eine AGH mehr als 600 EUR monatlich aus.“  Mit dem vorgesehenen Budget ließe sich möglicherweise eine bessere AGH finanzieren – aber für einen ganzheitlichen Ansatz mit Qualifizierung, Vermittlung und Reintegration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt ist mehr Geld nötig, wenn die Regierung es ernst meine, so Hammer.

Auch Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) kam auf Basis des von der letzten Koalition verabschiedeten Haushaltsentwurfs in einer ersten Anmerkung zu einem ähnlichen Schluss:

„Bei (bisher) veranschlagten 4,555 Milliarden Euro für den Bundesanteil an den „Verwaltungskosten für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ und in 2018 zu erwarteten Ausgaben in Höhe von nahezu 5,6 Milliarden Euro sind Umschichtungen … in Höhe von über einer Milliarde Euro zu erwarten. Dieser Betrag deckt sich exakt mit der (…) angekündigten Aufstockung um eine Milliarde Euro, allerdings nicht mit der Zweckbestimmung „Eingliederungsbudget“.“

Hier wird deutlich: Eine Förderung über die umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichneten Arbeitsgelegenheiten als billigste Variante öffentlich geförderter Beschäftigung hinaus kann es bei den genannten Relationen nicht geben. Und das soll ein Durchbruch sein?

Konkrete Verbesserungen sind möglich

Man kann sehr gut nachvollziehen, warum beispielsweise Barbara Dribbusch in der taz diagnostiziert, dass die momentane Debatte vor allem „viel heiße Luft“ beinhalten würde, oder Andreas Hoffmann im Stern desillusioniert meint: „Hartz IV abschaffen? Das wird doch sowieso nichts!“

Sowohl Dribbusch wie auch Hoffmann legen in ihren Kommentaren den Finger auf eine wirklich offene Wunde. So schreibt Dribbusch:

„Stattdessen wäre den Millionen von Hartz-IV-Empfängern mit kleinen Änderungen sehr geholfen. Zum Beispiel, indem man „einmalige Leistungen“ für Hausgerätereparaturen wieder einführt, indem man ein Nahverkehrsmonatsticket finanziert, Brillen problemlos bezahlt. Aber über solche schon früher geforderten Änderungen gäbe es Verteilungsdiskussionen. Diese werden nicht einfacher dadurch, dass immer mehr Flüchtlinge unter den Hartz-IV-Beziehern sind. Da ist es leichter, um die sozialen Fragen ein bisschen Kunstnebel zu erzeugen.“

Und bei Hoffmann heißt es:

„Das System hat viele Macken. Die Hilfssätze werden nicht ordentlich berechnet, weil der Staat sparen will. Familien, Alleinerziehende und Rentner werden benachteiligt, denn wenn das Kindergeld oder die Mütterrente steigt, haben sie nichts davon. Wird alles mit Hartz IV verrechnet. Über die Mietgrenzen für Hartz-IV-Empfänger, die oft viel zu niedrig sind, will ich gar nicht reden, oder die immense Bürokratie, wo sich Brigaden von Behörden damit beschäftigen, welche Heizkosten sie nun bezahlen und welche nicht. Wer Hartz IV ändern will, hätte also viel zu besprechen. Nur darüber redet kaum jemand.“

Und auch das Sanktionsregime im Hartz IV-System wäre hier zu nennen. Wir warten und warten auf eine ausstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der höchst relevanten Frage, ob das Kürzen des Existenzminimums verfassungswidrig ist oder nicht. Und selbst die Verfassungsrichter gehen hier erkennbar auf Tauchstation und hätten liebend gerne eine Befassung mit diesem Thema vermieden, wenn sie nicht durch eine Richtervorlage vom Sozialgericht Gotha dazu gezwungen worden wären.

In der wissenschaftlichen Diskussion wird seit langem und immer wieder auf die fatalen Konsequenzen aus dem bestehenden Sanktionsregime in Hartz IV hingewiesen. Aber selbst wenn man mit wirklich guten Gründen die Sanktionen – im vergangenen Jahr gab es über 900.000 Sanktionsfälle – in Frage stellen und ihre Abschaffung bzw. ihre extreme Begrenzung fordern kann: Es würde eine ganz massive öffentliche Debatte geben (müssen), denn natürlich würden viele einen solchen Schritt kritisch bis ablehnend bewerten. Der neue Bundesarbeitsminister Heil hat lediglich versprochen, er wolle sich die Sanktionen „genauer anschauen“.

Aber selbst wenn Heil zu dem Schluss kommen sollte, dass Änderungen erforderlich wären, heißt dies noch lange nicht, dass es diese auch geben wird. Von Seiten des Koalitionspartners gibt es, vor allem aus der CSU, massive Widerstände gegen nur kleinste Korrekturen, die selbst aus den Jobcentern vehement gefordert werden.

Die Anhebung der Leistungen im Hartz IV-System würde auf einen Schlag eine Menge neuer Leistungsempfänger „produzieren“

Es geht hier um Kontexte, unabhängig, ob die einem gefallen oder nicht. So ist es auch mit der Höhe der Regelleistungen. Aus einer rein fachlichen Sicht gibt es unabweisbare Argumente, dass die derzeitige Höhe der Regelleistungen zu niedrig bemessen ist, oder eher: bewusst zu niedrig bemessen wurde. Auch wenn es viele Gründe dafür gibt, die Leistungen im Hartz IV-System entsprechend zu verbessern, um wirklich ein sozio-kulturelles Existenzminimum abbilden zu können – die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommen wird, tendiert nicht zuletzt aus politökonomischen Gründen gegen Null: Denn neben der notwendigerweise zu führenden und hoch kontroversen Debatte über das, was Transferleistungsbezieher bekommen und das, was die Millionen Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor mit Erwerbsarbeit verdienen können, würde eine Anhebung der Hartz IV-Sätze unter den bestehenden Bedingungen aufgrund der Koppelung des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums für alle Steuerzahler zu ganz erheblichen Ausfällen bei der Einkommenssteuer führen.

Außerdem – darüber muss man sich klar sein – würde ceteris paribus die Anhebung der Leistungen im Hartz IV-System auf einen Schlag eine Menge neuer Leistungsempfänger „produzieren“ – nämlich diejenigen, die bislang knapp oberhalb der Regelbedarfe des Grundsicherungssystems liegen und die nach einer Erhöhung Anspruch auf aufstockende Leistungen hätten.

An dieser Stelle sei auch auf die derzeit immer wieder kritisierte und zu reformierende „Transferentzugsrate“ hingewiesen, also die Tatsache, dass den Hartz IV-Empfängern nach einem überschaubaren Freibetrag von jedem durch Erwerbsarbeit verdienten Euro 80 bzw. 90% angerechnet werden, so dass sich für die meisten eine Ausweitung der Erwerbsarbeit aufgrund dieser konfiskatorischen Besteuerung (angeblich) nicht lohnen würde. Das ist für sich betrachtet eine gewichtige Kritik. Aber der Lösungsvorschlag, die Entzugsrate beispielsweise auf 50% abzusenken, ist nur auf den ersten Blick einfach und sinnvoll. Denn es würde im bestehenden System ebenfalls zahlreiche neue Anspruchsberechtigte im Bereich der Aufstocker „produzieren“.

Außerdem wäre das eigentlich nur mit einem „Koppelgeschäft“ zu empfehlen: eine Absenkung der Entzugsrate nur dann, wenn gleichzeitig der gesetzliche Mindestlohn spürbar erhöht werden würde oder – noch besser – wenn flächendeckend und verbindlich Tariflöhne zu zahlen sind. Denn ansonsten besteht natürlich die Gefahr, dass der bestehende Niedriglohnsektor durch die vielen Aufstocker und eine dauerhafte staatliche Subventionierung „stabilisiert“ wird. Und abgesehen davon müssten auch noch dringend die Minijobs abgeschafft werden – man erkennt schon, warum die Politik hier nicht wirklich heiß darauf ist, sich mit solchen Fragen auch nur auseinanderzusetzen.

Und last but not least sind da noch die Kosten der Unterkunft und der Heizung (KdU), die für eine „angemessene“ Unterkunft gewährt werden. Für die Wohnkosten der Hartz IV-Empfänger wurden 2016 mehr als 14 Milliarden Euro ausgegeben, eine gewaltige Summe für die Sicherung eines existenziellen Gutes. Aber die Betroffenen mussten fast 600 Millionen Euro aus ihren Leistungen für den Lebensunterhalt zuzahlen, weil ihre Wohnkosten nicht in vollständiger Höhe übernommen worden sind – sozialpolitisch und für die Betroffenen ein unerträglicher Skandal. Aber selbst, wenn die gesamten Kosten der Unterkunft von den Jobcentern getragen werden würden, hätte man es mit ungewollten, aber nicht zu vermeidenden Folgeproblemen zu tun, beispielsweise der Reaktion von Vermietern, die Mieten nach oben zu drücken, weil sie davon ausgehen können, dass eine vollständige Refinanzierung erfolgen wird.

Bitte keine Sprechblasen mehr

Diese Anmerkungen mögen genügen um aufzuzeigen, warum es innerhalb des bestehenden Systems derart viele Reibungspunkte und Widersprüchlichkeiten gibt (was spiegelbildlich ja auch den Reiz eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ für viele ausmacht, das eben diese vermeiden will). Daraus erklärt sich vielleicht auch, dass die Politik institutionenegoistisch gut beraten ist, bei den praktischen Fragen des Hartz IV-Systems toter Mann bzw. tote Frau zu spielen und lieber mit wolkiger Begriffshuberei jonglieren geht, die aber nach kurzer Erregungswelle wieder in der Sackgasse enden wird. Und bei aller notwendigen Kritik an dem System sollte man aber natürlich auch nicht den grundsätzlichen Wert vergessen, dass es überhaupt eine Grundsicherung gibt, mit der ein Existenzminimum gewährleistet wird bzw. werden kann, das den betroffenen Menschen eine Unterkunft und beispielsweise auch eine Krankenversicherung finanziert.

Für die betroffenen Menschen wäre aber schon viel gewonnen, wenn

  • die Frage einer korrekten Bemessung der Regelleistungen angegangen wird – unter anderem damit klar wird, dass der Geldbetrag, der letztendlich gewährt wird, eine politische Entscheidung darstellt, die man dann auch gefälligst zu vertreten hat,
  • die Sanktionsfrage offensiv angegangen wird,
  • die Frage der Unterkunftskosten im Sinne der Betroffenen besser geregelt wird und
  • das Förderrecht im SGB II zugunsten der enormen Heterogenität der Betroffenen in einem positiven Sinne dereguliert wird.

Solche Maßnahmen würden am Gesamtsystem zwar nichts Fundamentales ändern. Aber es wären praktische Ansätze, um den Menschen wirklich zu helfen. Zum Schluss dieses Beitrags daher noch ein herzliches Dankeschön an alle Leserinnen und Leser, die diesen langen Ritt durch den Dschungel unseres Sozialstaats bis zum Ende mitgemacht haben. Ich würde mir wünschen, dass manche Politiker, die tatsächlich die Macht (und den Auftrag) zur Verbesserung des Systems haben, diese Ausdauer auch etwas öfter an den Tag legen würden. Denn es ist wohl leider unmöglich, sich wesentlich kürzer zu fassen, wenn man sich mit diesem System produktiv beschäftigen und nicht nur Sprechblasen von sich geben will. Und mit Sprechblasen hatten wir es in den vergangenen Wochen der „Hartz IV-Debatte“ wirklich hinlänglich zu tun.

 

Zum Autor:

Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz. Außerdem betreibt Sell den Blog Aktuelle Sozialpolitik, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist. Auf Twitter: @stefansell