Fremde Federn

Soforthilfen, menschliche Lieferketten, Not So Big Oil

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Was der zeitweise negative Ölpreis für Big Oil bedeuten könnte, warum die westlichen Gesellschaften auf Arbeitskräfte aus der Peripherie angewiesen sind und was so faszinierend an Untergangsvisionen ist.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Und ständig stirbt der Kapitalismus?

piqer:
Thomas Wahl

Besprochen wird die 2. Auflage eines schon 2014 erschienenen Sammelbandes mit fünf Szenarien für das 21. Jahrhundert. Was gerade heute, in einer Zeit, wo mit der Corona-Pandemie die Diskussion um das nun endlich bevorstehende Ende des Kapitalismus wieder einmal hochkocht, interessant ist. Die fünf Autoren indes beantworten die Leitfrage „Stirbt der Kapitalismus?“ durchaus unterschiedlich. Die Aussagen bewegen sich notwendigerweise meist im Konjunktiv – kann, könnte oder auch nicht.

Immanuel Wallerstein, der prominenteste Autor, meint im gemeinsamen Vorwort des Buches (hier als Leseprobe verfügbar), die gegenwärtige Hierarchie der Weltmarktökonomie kommt

… an ihre Grenzen, und damit – trotz seiner Dynamik – das System des Kapitalismus. Er würde nach dieser Hypothese an der Frustration der Kapitalisten zugrunde gehen.

Was sich ironischerweise mit der These von Ayn Rand von den diffamierten und daher streikenden Unternehmern berührt. Randall Collins seinerseits vermutet

das entscheidende Problem im zu schnellen technischen Fortschritt, der sich mittlerweile derart akzeleriere, dass die traditionellen Kompensationsmechanismen versagten. Zudem spalte eine solche Entwicklung der Technologie die Wirtschaft: Neben einem Bereich mit guten Verdiensten und hoher Qualifikation existierten andere, in denen schlecht verdient werde bei niedriger Qualifikation der Beschäftigten.

Craig Calhoun und Michael Mann wiederum sehen (unterschiedlich optimistisch)

die Möglichkeit eines Bunds von Nationalstaaten, die sich angesichts ökologischer und nuklearer Katastrophen zusammenraufen. Das kann, wie sie glauben, die weitere Lebenskraft des Kapitalismus in einer moderateren, sozialdemokratischen Version von Globalisierung sichern.

Craig Calhoun hält es für möglich, den Kapitalismus zu reformieren und damit zu „retten“ (siehe Leseprobe). Ist dieser doch nicht nur eine reine Marktwirtschaft, sondern eine politische Ökonomie:

Seine institutionellen Rahmenbedingungen würden von politischen Entscheidungen bestimmt. Strukturelle Widersprüche könnten in den komplexen Marktmechanismen zwar auftreten, es sei aber die Politik, in der sie behoben oder vernachlässigt werden – und wo sie auch außer Kontrolle geraten.

Auch Michael Mann und Georgi Derluguian attestieren dem kapitalistischen System größere Zukunftsfähigkeit. Insbesondere könne man den Untergang des Kommunismus nicht einfach als Analogieschluss auf das Schicksal des Kapitalismus anwenden. Zumindest kann man sagen, wie Georgi Derluguian meint,

Was auch immer nach dem Kapitalismus kommt, … wird nicht dem kommunistischen Modell gleichen. …

Die Art und Weise aber, wie der Sowjetblock nach 1989 in breiter Massenmobilisierung von unten und blinder Panik bei den Eliten ein plötzliches Ende nahm, könnte für die politische Zukunft des Kapitalismus eine wichtige Lehre beinhalten.

Die Autoren sind jedenfalls äußerst vorsichtig, wie das System oder die Systeme nach dem Kapitalismus aussehen könnten. Immanuel Wallerstein hält eine konkretere Aussage über das, was den Kapitalismus ersetzen könnte, nicht für möglich. Auch könnten aus dem Übergang durchaus wieder mehrere unterschiedliche Weltsysteme hervorgehen. Seien es eher sozialdemokratische Modelle, flexiblere sozialistische „Zentralwirtschaften“ oder (wahrscheinlichere) staatskapitalistische Systeme wie etwa China. Die tieferen Probleme einer „Vorhersage“ ergeben sich laut Michael Mann etwa aus den komplexen Multikausalitäten der Macht – neben dem Kapitalismus etwa „Politik, militärische Geopolitik, Ideologie und die Vielfalt der Weltregionen“ – aber auch aus Umwelt- und Klimawandel. (Siehe Leseprobe)

Abschließend ein Statement der Autoren, denen es nicht darum geht, nachzuweisen, ob Kapitalismus besser oder schlechter ist als andere Gesellschaftssysteme. Es geht auch nicht um Untergangsszenarien. Ihre Frage sei: Hat er eine Zukunft oder nicht? Ihre Überlegungen sind also

… strukturelle Projektionen, vergleichbar mit »Stresstests«, wie sie in der Technik oder auch, wie wir inzwischen wissen, bei Banken durchgeführt werden. Keiner von uns begründet seine Prognosen für den Kapitalismus auf Verdammungen oder Elogen. Wir haben unsere moralischen und politischen Überzeugungen, nehmen aber als historische Soziologen zur Kenntnis, dass das Schicksal menschlicher Gesellschaften – zumindest in den letzten zehntausend Jahren nach dem Jäger-und-Sammler-Stadium – nicht davon abhing, was sie an Gutem oder Bösem hervorgebracht hatten.

Verweigerte staatliche Soforthilfen für Soloselbständige: Hoffnung auf Grundeinkommen?

piqer:
Michael Hirsch

Es gibt eine stärker werdende politische Debatte über die erst lauthals angekündigten, dann aber faktisch größtenteils vorenthaltenen staatlichen Soforthilfen für die geschätzt 2,2 Millionen (vermutlich aber weit zahlreicheren) Soloselbständigen in Deutschland. Für die meisten dieser Selbständigen, die im Kulturbereich, aber auch in anderen Dienstleistungssparten tätig sind, bedeutet der aktuelle Lockdown den sofortigen Ausfall der meisten Einkünfte – im Gegensatz zu den Festangestellten, die über das Kurzarbeitergeld abgesichert sind.

Der Beitrag beleuchtet ein systematisches Problem des deutschen Sozialstaats: die bisher noch nie systematisch beachtete, in den meisten Fällen sehr prekäre Lebensrealität von Künstlern, Schauspielern, Musikern, Schriftstellern, Autoren und anderen Freischaffenden, die bisher durch die Maschen des Sozialstaats fallen. Viele von ihnen finanzieren ihre Berufe durch Nebentätigkeiten und Teilzeit-Gelegenheitsarbeiten aller Art, bei denen sie in der aktuellen Wirtschaftskrise ebenfalls unter Druck geraten.

Der Konstruktionsfehler der aktuell von den Regierungen gewährten Hilfen liegt darin, dass

„die nicht zurückzahlbaren Unterstützungen der Corona-Hilfe nur für Liquiditätsengpässe bei den Betriebsausgaben ausgezahlt werden, nicht aber für „Gewinne“. Mit Gewinnen sind ausbleibende Honorargelder gemeint.“

Der politisch brisante Aspekt dieses Problems liegt darin: All diese Soloselbständigen sind eigentlich ganz normale Lohnarbeiter und Lohnarbeiterinnen, die infolge der staatlich verordneten Schließungen ihren Lebensunterhalt verlieren und genauso wie alle anderen Lohnarbeiter Überbrückungsgeld benötigen.

In der aktuellen Situation aber werden diese Menschen zum größten Teil auf den Gang zum Sozialamt verwiesen. Dies ist das zweite politisch brisante Phänomen: In der Krise machen die vermeintlich Selbständigen und vermeintlich nicht sozial Schwachen die identischen Erfahrungen wie alle anderen Arbeitslosen und geringfügig Beschäftigten: die Erfahrung der bürokratischen Monstrosität und menschlichen Demütigung durch den Hartz-IV-Sozialstaat. Wir stellen nun fest: Es hätten

„in der Cornona-Krise 90 Prozent der freien Kulturschaffenden Anspruch auf Grundsicherung. Aber nur 17 Prozent wollen es mit der „Schmach“ und der „Erniedrigung“ durch die Jobcenter vielleicht mal versuchen, so VGSD-Vorsitzender Andreas Lutz. Vor allem bemängelt diese selbständige Berufsgruppe, die zu 99 Prozent nie vorher Kontakt mit dem Sozialstaat hatte, zu Recht die krasse Ungleichbehandlung zur Kurzarbeit.“

Über die Kritik an dieser besonderen Form der Ungleichbehandlung hinaus stellt sich daher eine grundsätzliche Frage: Sollte nicht generell die bürokratische Monstrosität des Hartz-IV-Sozialstaats abgeschafft und durch ein allgemeines Grundeinkommen ersetzt werden? Es wäre heute jedenfalls der richtige Moment, eine neue volkswirtschaftliche Gesamtrechnung aufzumachen und endlich die irrsinnigen Kosten der Sozialstaats mit ihrer Antrags- und Überwachungsbürokratie zu benennen, die wesentlich höher sind als diejenigen Kosten, die entstehen, wenn sozial verwundbare Menschen einen sozialen Pauschalbetrag erhalten. Vielleicht ist es Zeit, dass die vermeintlich „höheren‘ kulturellen Arbeiter sich mit den vermeintlich ganz „normalen“ Lohnabhängigen zusammenschließen und für dasselbe Recht auf eine gesicherte und würdevolle soziale Existenz kämpfen.

Die menschliche Lieferkette aus Osteuropa: Wer braucht hier wen?

piqer:
Simone Brunner

Die Wirtschaft in Westeuropa ist auf die vielen System-Erhalter aus dem Osten angewiesen. Einen wirklich lesenswerten Text zum Thema hat Vladmir Bogoeski geschrieben, vom IGP-Journal auf Deutsch übersetzt. Er schreibt über die „menschliche Lieferkette aus Osteuropa“, die für „Spargel auf den Tellern und Pflege für die Alten“ sorgt.

Neben den unterbezahlten und überarbeiteten Beschäftigten im Gesundheitswesen wurden auch die Arbeitskräfte in Lebensmittelgeschäften, Reinigungsfirmen und Restaurant-Lieferdiensten über Nacht für unentbehrlich erklärt, weil unsere Gesellschaft auf diese Berufe schlichtweg angewiesen ist.

So sehr, dass zuletzt sogar rumänische Erntehelfer nach Deutschland eingeflogen worden sind – in Österreich ist die Lage da nicht anders. Auch hier wurden Erntehelfer und 24-Stunden-Betreuerinnen aus Rumänien und Bulgarien über eine Luftbrücke nach Österreich gebracht. Bogoeski wirft eine interessante Frage auf:

Das Narrativ von den mobilen Arbeitskräften aus den östlichen EU-Mitgliedstaaten, die vom Zugang zum Binnenmarkt profitieren (konkret von den Märkten in den westlichen Kernregionen der EU), dreht sich um: Diese Märkte sind in Wahrheit vollständig auf die Arbeitskräfte aus der östlichen Peripherie angewiesen.

Auch, wenn viele Osteuropäer bereit sind, für einen besseren Verdienst weite Arbeitswege und auch harte Knochenjobs in Kauf zu nehmen: Wer braucht hier eigentlich wen?

Bye bye Big Oil – was der Minuspreis im April wirklich bedeutet

piqer:
Leonie Sontheimer

Wahrscheinlich haben es alle mitbekommen, als in der Nacht vom 20. auf den 21. April nordamerikanisches Öl zu Minuspreisen gehandelt wurde. Ich persönlich habe um diese Nachricht herum allerdings nicht viele Informationen aufgenommen. Umso dankbarer bin ich für den hier empfohlenen Text von Rico Grimm.

Was genau bedeutet das – Minuspreis? Wie kam es dazu? Und welche Auswirkungen hat das Ereignis auf die Zukunft der Öl-Industrie? All diese Fragen werden in dem Text beantwortet. Zusätzlich bekommt man einen Einblick in das Gerangel zwischen verschiedenen Nationen um eine Ressource, die ihren Zenit eigentlich überschritten hat:

Russland und Saudi-Arabien haben Anfang März einen Ölpreiskrieg begonnen: Anstatt ihre Produktion angesichts der Corona-Pandemie zu drosseln, begannen sie, so viel zu fördern, wie ihre Pumpen hergeben. Sie wollen die nordamerikanischen Emporkömmlinge, die Fracker und Teersand-Förderer, aus dem Markt drängen. Die brauchen sehr hohe Ölpreise von 35$ bis 60$, um überleben zu können.

Grimm erklärt die Dinge so, dass sie jeder verstehen kann. Und es ist gut, wenn jeder diese Dinge versteht. Denn selbst wenn die Zeit des „Big Oil“ vorbei ist, werden wir noch eine Weile von diesem Rohstoff abhängig sein.

Corona-Krise: Warum sinken die CO2-Emissionen nicht stärker?

piqer:
Ralph Diermann

Corona hält 90% der Flugzeugflotte am Boden. Menschen bleiben zuhause, statt mit dem Auto zur Arbeit zu pendeln; Geschäfte, Lokale und Freizeiteinrichtungen haben geschlossen. Das öffentliche Leben liegt weitgehend still, monatelang und nahezu überall auf der Welt – und trotzdem werden die globalen CO2-Emissionen in diesem Jahr nur um 5,5 bis 8% sinken.

Warum so wenig? Dieser Frage geht grist.org nach, ein Online-Magazin zum Thema Klimaschutz aus den USA. Autorin Shannon Osaka macht zum einen die Energieproduktion als Ursache aus – der Strom- und Wärmebedarf ist kaum zurückgegangen. Zum anderen führt sie die Industrie an: Energieintensive Betriebe etwa aus der Stahl- und Aluminiumbranche produzieren während der Pandemie weiter. Nicht zu vergessen die Landwirtschaft, deren Emissionen auch in diesen Wochen konstant bleiben.

Vor allem aber verweist Osaka darauf, dass Corona an der Art und Weise unseres Wirtschaftens ohnehin nichts ändert, strukturell gesehen. Ohne einen solchen Umbruch kommen wir jedoch nicht annähernd auf das Emissionsniveau, das wir brauchen, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen. Sie formuliert das so:

Appreciate the bluer skies and fresher air, while you can. But the emissions drop from the pandemic should be a warning, not a cause for celebration: a sign of how much further there is to go.

Verdienen Milliardäre und Hedgefonds einen Bailout?

piqer:
Rico Grimm

Wieder einmal eine famose Podcast-Folge von Planet Money: Sie basiert auf einem kurzen Videoclip, der vor ein paar Wochen viral gegangen ist. Darin geht ein Milliardär mit den anderen Milliardären in den USA, und vor allem mit der Regierung und der Notenbank-Politik hart ins Gericht. Seine These: Gerade werden nur die eh schon Reichen geschützt, in dem „Zombie-Firmen“ mit billigen Krediten gerettet werden, die eigentlich nicht überlebensfähig wären. Gleichzeitig haben es viele große Firmen nie in Betracht gezogen, Reserven anzulegen für schlechte Zeiten: Stattdessen Aktien-Rückkäufe.

Wer jetzt nicht ganz folgen konnte: Perfekt! Denn der Podcast ist so gemacht, dass auch ökonomische Laien verstehen können, was hier passiert und warum es manche Menschen so wütend macht. So wütend sogar – diese kurze Einschätzung sei erlaubt –, dass die Frage berechtigt ist, ob sich nicht jetzt gerade die nächste Tea Party formiert.

Der Rechtspopulismus als Preis der Globalisierung? Ein Blick ins Buch selbst

piqer:
Thomas Wahl

Das Buch „Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“ der Soziologin Cornelia Koppetsch ist jüngst in das Visier unserer „Diskurswächter“ gekommen. Es wurde sowohl in der akademischen wie in der medialen Öffentlichkeit auf mehreren Ebenen heftig kritisiert.

Neben den gegen das Buch erhobenen Plagiatsvorwürfen, deren Triftigkeit zumindest durch neutrale Verfahren überprüfbar ist, entzündete sich an dem Werk ein völlig anders motivierter politischer Affekt, dessen Berechtigung unabhängig von formalen Regelverstößen zu beurteilen gewesen wäre.

Grund genug, selbst einen Blick in das Buch zu werfen (z.B. hier in die recht ausführliche Leseprobe), um zu erfahren, was darin die allergischen Reaktionen hervorgerufen hat. Dort formuliert die Autorin selbst ihre Fragestellungen:

Dieses Buch ist der Versuch einer Soziologin, sich einen soziologischen Reim auf den Aufstieg der neuen populistischen Rechtsparteien zu machen – keinen politischen und auch keinen sozialwissenschaftlich akribischen, sondern einen, der … Fragen stellt: Wie konnten reaktionäre und autoritäre Tendenzen in einer Gesellschaft erstarken, die sich auf dem Höhepunkt des Friedens, der Aufklärung und des Fortschritts glaubte? Was können wir durch die Brille der Mobilisierungsursachen der neuen Rechtsparteien über die heutige Gesellschaft und ihre Spaltungen erfahren? Und welche Umrüstungen von Gesellschaftserzählungen und theoretischen Erkenntniswerkzeugen sind dazu notwendig?

In der Tat scheint dieser Erkenntnisanspruch empirischer Sozialforschung die Community zu stören, die Forschung eher als „sozialpädagogische Erziehungsmaßnahme“ sieht und daher nicht genehme Ergebnisse versucht moralisch zu diskreditieren, um nicht diskutieren zu müssen. Es geht um Meinungsmacht und Diskurshoheit.

Besonders das Konzept der theoriegeleiteten Empathie, das den Rechtspopulismus als gesellschaftstheoretische Herausforderung sieht, gerät in die Kritik. Die Tatsache, dass für die Forschung z.B. AfD-Wähler nach den Gründen ihrer Entscheidung befragt werden, ohne schon ein Urteil über sie gefällt zu haben, wird als „gemein machen“ mit deren Anliegen interpretiert.

Koppetsch betont daher im Buch:

Im Unterschied zur alltäglichen Empathie ist diese nicht durch Identifikation, sondern durch gesellschaftliche Betroffenheit geleitet, da dem Aufstieg der neuen Rechtsparteien …. spezifische Veränderungen innerhalb der Gesellschaft im Ganzen vorausgegangen sind, die in meiner und unserer Zuständigkeit liegen. Sozialwissenschaftliche Beobachter können dabei … keinen gleichsam göttlichen Standpunkt für sich reklamieren.

Die eigentliche methodologische Herausforderung sieht sie vielmehr bei der notwendigen wissenschaftlichen Objektivität des Analyseprozesses, wenn die Untersucher

unweigerlich selbst  – buchstäblich  – Partei ergreifen, da sie als (mehr oder weniger etablierte) Akademiker einer spezifischen Sozialklasse angehören und als (zumeist links oder liberal eingestellte) Sozialwissenschaftler in weltanschaulicher Opposition zu den Positionen der AfD …. stehen.

Dabei werden auch paternalistische Erklärungsmuster wie die vorgeblichen Persönlichkeitsdefizite von Rechtspopulisten ad absurdum geführt.

Alternativ wird den Wählern, die vorrangig in den benachteiligten Schichten vermutet werden, Irrationalität oder eine kollektive seelische Störung  – wie zum Beispiel Autoritarismus, Fremdenfeindlichkeit etc.  – attestiert …..

Deutlich daher die Kritik des Buches an weiten Teilen der Soziologenzunft:

Die Deutungsschablonen und …. Analyseinstrumente, mit denen der Aufstieg der AfD seitens der Sozialwissenschaftler zumeist analysiert und bewertet wird, stellen demnach keine neutralen Untersuchungsperspektiven dar, sondern theoretische Linsen, welche die eigenen Sichtweisen und Bewertungen, … zumeist ungewollt, stets mitreproduzieren. Sie sind damit ein Stück Begriffspolitik in den Sozialwissenschaften und dienen immer auch der Selbstvergewisserung, auf der richtigen Seite zu stehen.

Was dazu führt, populistische Rechtsparteien nicht als ernstzunehmende politische Strömungen zu erkennen, sondern als ›Symptomträger‹, deren politischen Meinungen irrelevant sind – was ihre Bekämpfung durch „Beschimpfung“ oft wirkungslos macht. Dabei konstatiert Koppetsch eine kleine Ironie: die aus den 68ern hervorgegangenen Milieus, nunmehr selbst Bürgertum, geraten in die antibürgerliche Kritik und können damit nicht gelassen umgehen.

Stimmt es, dass die Wissenschaft in dieser Pandemie herumeiert?

piqer:
Theresa Bäuerlein

Neulich warf der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet der Wissenschaft vor, sie würde in dieser Pandemie ständig ihre Meinung ändern und wisse selbst nicht so genau, was sie wolle. Diesen Ärger teilen gerade viele Bürger:innen, weil ja von den Einschätzungen der Wissenschaft abhängt, mit wie vielen Einschränkungen wir leben müssen.

Dieser Artikel geht also diesem Vorwurf nach, dass die Wissenschaft zu sehr herumeiert. Hier einige Kernpunkte des Artikels:

  • In verschiedenen Phasen eines Ausbruchs sind verschiedene Parameter und deren Kombination wichtig, um den Verlauf der Epidemie zu beurteilen.
  • Nicht alle Fachleute, geben gleiche Antworten oder können sie gleich gut geben, weil sie verschiedenen Disziplinen angehören (oder weil sie sich vielleicht mit Viren auskennen, aber nicht auf dem neuesten Stand sind).
  • Nicht alle Wissenschaftler:innen sind gut im Kommunizieren.
  • Es gibt noch sehr viel Unsicherheit über das neue Coronavirus.
  • Wenn Expert:innen ihre Meinung ändern, liegt das nicht daran, dass sie inkompetent sind. In der Forschung werden Theorien entworfen und verworfen.

Kollapsologie – oder die Lehre vom Zusammenbruch

piqer:
Bayern 2 Zündfunk

Dürre in Deutschland, brennende Wälder in Australien, schmelzende Pole, mehr Binnenflüchtlinge als jemals zuvor – und jetzt noch Corona. Selbst ausgewiesene Optimisten werden es zur Zeit nicht leicht haben, ihre Zuversicht zu bewahren. Die Kollapsologie, die Lehre von Zusammenbruch, trifft da wahrscheinlich schon eher das Lebensgefühl. 2015 veröffentlichten Pablo Servigne und Raphaël Stevens in Frankreich das Buch „Comment tout peut s’effondrer“, auf Deutsch: „Wie alles zusammenbrechen kann“. Das Buch – inzwischen auch auf Englisch erschienen – versucht zu beweisen, dass ein Kollaps unserer thermo-industriellen Zivilisationen, die seit der Dampfmaschine auf Energie aus Wärme aufbauen, bald bevorsteht. Oder gerade stattfindet? Wie ist der Kollaps definiert? Wenn die staatlichen Institutionen die Grundbedürfnisse auf Wohnen, Wasser, Nahrung, Bekleidung und Wärme nicht mehr bedienen können.

Die Autoren untersuchen einerseits wissenschaftliche Fakten. Der Klimawandel schlägt bereits dramatisch durch, das spüren selbst wir in den gemäßigten Klimazonen immer deutlicher. Das Artensterben schreitet voran. Zusammen mit den großen Tipping-Points wie Eisschmelze an den Polkappen oder Vernichtung des amazonischen Regenwalds könnte das ökologische Erdgleichgewicht so massiv gestört werden. Und dann Peak Oil. Alle Industrienationen dieser Welt sind auf Kohlenstoff gebaut und immer komplexer global vernetzt. Pablo Servigne und Raphaël Stevens nennen es das ultimative Locked-in-System. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses System, das auf ewigem Wachstum basiert, kollabiere, sei größer, als dass wir es rechtzeitig nachhaltig umbauen könnten.

„In der Kollapsologie ist Intuition– die auf ordentlicher Wissenschaft gedeiht – das entscheidende Element. Alle Informationen in diesem Buch, so objektiv sie auch sein mögen, erbringen noch keinen Beweis, dass bald ein Kollaps bevorsteht. Sie erlauben dir aber dein eigenes Wissen vermehren, um auf dieser Basis deine Intuition zu schärfen und schließlich mit Überzeugung zu handeln.“ P. Servigne, R. Stevens, „Comment tout peut s’effondrer“

In Frankreich ist die Kollapsologie spätestens seit 2018 in der öffentlichen Meinung verankert, vermehrt unter dem Wort „l’effondremont“, dem Zusammenbruch. Das Buch hat sich rund 100.000 Mal verkauft, auch der Nachfolgeband „Une autre fin du monde est possible“, „Ein anderes Ende der Welt ist vorstellbar“, läuft prächtig. Der Diskurs wird in Facebook-Gruppen geführt oder in einem Verein wie Adrastia, wo sich die Kollapsologen austauschen. Es beteiligen sich Naturwissenschaftler, Soziologen, Psychologen, Philosophen und Künstler. Der Diskurs ist eher männlich geprägt. Wie ernst ist die Kollapsologie zu nehmen? Welcher Anteil überwiegt: Science Fiction oder Wissenschaft? Florian Fricke nähert sich im Zündfunk Generator dieser spannenden Mischung an und stellt die Theorie vom Zusammenbruch vor.