Fremde Federn

Sinkende Mieten, Taxonomie, Tech-Optimismus

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Die Folgen von Corona für Afrika, wie die deutsche Wohnungsnot entstand und warum es einen gewissen Grund für Tech-Utopismus gibt.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Neues vom Wohnungsmarkt: Die Mieten … sinken?!

piqer:
Rico Grimm

Es scheint ein Naturgesetz zu sein: Immer dann, wenn wirklich alle sich mit einem bestimmten Wirtschaftsphänomen beschäftigen, ändert sich die Gestalt dieses Phänomens gerade. So ist es bei Börsen-Crashs, die zuverlässig dann enden, wenn Spiegel Online vom „großen Crash“ berichtet, und so scheint es auf den ersten Blick auch beim Mietmarkt zu sein.

Denn dort mehren sich die Anzeichen für eine Trendwende, wie dieser kleine Text schlüssig, knapp und gut einordnend darlegt. Vor allem im hochpreisigen Segment dauert es immer länger, bis sich Käufer finden. Die Mieten sinken dort zum ersten Mal seit Jahren wieder. Der Leerstandsindex wiederum zeigt, dass es geringfügig mehr leere Wohnungen gibt.

Wer jetzt allerdings darauf hofft, in den nächsten Jahren wieder zu den Preisen von 2010 kaufen oder mieten zu können, muss enttäuscht werden. Denn: „Nominal sinkende Mieten in den Ballungszentren sind utopisch. Wahrscheinlicher ist eine Korrektur durch eine längere Seitwärtsentwicklung der Mieten bei steigenden Einkommen“, wie ein Experte im Artikel zitiert wird. Zuhilfe kann dabei die Inflation kommen, die den Immobilienmarkt sanfter von seinem Spekulationshoch hinabgeleiten kann als ein ausgewachsener Crash, der mit Panik- und Zwangsverkäufen überschuldeter Eigentümer einhergeht.

Wie die deutsche Wohnungsnot entstand

piqer:
Jannis Brühl

Bezahlbare Wohnungen in deutschen Städten sind ein immer kostbareres Gut – und wer nicht genügend verdient, muss rausziehen. Das Problem ist in Deutschland viel größer als zum Beispiel in Frankreich oder Österreich. Wie es dazu kommen konnte, beschreibt dieser kompakte SZ-Artikel. Er zeichnet ein Jahrhundert sozialen Wohnungsbaus nach: von einer Idee, die die Zwischenkriegszeit prägte, aber dann unter Adenauer in Teilen dem Markt geopfert wurde – und später unter Politikern wie Söder und Sarrazin in Bayern und Berlin dann komplett aufgelöst wurde. Jetzt trifft die Misere die Mieter:

Der Staat unterstützt den privaten Bauherren so lange mittels Förderung, bis der Bau finanziert ist. Sobald dieser abgezahlt ist, gibt die öffentliche Hand ihre Verfügungskraft darauf auf, die Wohnung fällt aus der Sozialbindung. Deshalb haben deutsche Mieter oft panische Angst vor diesem Augenblick, weil dann die Marktmiete greift.

Ein Thema, das wegen Corona derzeit untergegangen ist (ich glaube nicht, dass die paar Städter, die nun in die Peripherie ziehen, um remote zu arbeiten, die Mietmärkte nennenswert entspannen). Die Ampel wird das Problem angehen (müssen) – und könnte den sozialen Wohnungsbau wieder zu der Bedeutung verhelfen, die er einst hatte. Wenn die FDP mitmacht.

Ergänzend empfehle ich diesen Artikel über die mögliche Immobilienblase in deutschen Metropolen.

Boden: Das missachtete Ökosystem

piqer:
Daniela Becker

In der aktuellen Umweltpolitik wird – etwa bei den aktuellen UN-Konferenzen zu Natur- und Klimaschutz – aus gutem Grund viel über Wälder geredet, vor allem über Tropenwälder. Unter den Lebensräumen spielen in den Debatten aus ebenso guten Gründen immer wieder auch die Meere und die Moore eine Rolle.

Aber um den Boden geht es fast nie. Das ist ein großer Fehler.

Auf unserem Weg in die moderne Gesellschaft

rotteten wir zahlreiche Arten unwiederbringlich aus und hinterließen zerstörten Boden. Bereits vor 8000 Jahren kam es im Nahen Osten zu einer Hungerkatastrophe, weil die landwirtschaftlichen Flächen übernutzt wurden. Viele Siedlungen im Zentraljordanien mussten deshalb aufgegeben werden. Überweidung mit Ziegen und Erosion hatten den Lebensraum zerstört.

Die Erfindung der Feldbewässerung im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris und am Nil brachte im Laufe der Jahre eine Schattenseite zum Vorschein: Viele Äcker versalzten und waren nicht mehr kultivierbar. Hochkulturen wie die Ära der ägyptischen Pharaonen, der Mayas oder einige chinesische Dynastien mussten schmerzvoll erkennen, dass eine zu starke Intensivierung der Landwirtschaft ohne Augenmaß den Boden zerstören kann.
Alte Hochkulturen kollabierten, neue entstanden.

Wir empfanden uns irgendwann nicht mehr als Teil der Natur, sondern als ihr Gestalter und schufen uns unsere eigenen urbanen Reiche. Unser Hunger nach Nahrungsmitteln und Rohstoffen stieg exponentiell. Diese Entwicklung kulminierte in den vergangenen 70 Jahren, so dass Wissenschaftler heute vom Anthropozän, dem Menschenzeitalter, sprechen. Denn es gibt kaum noch einen Flecken auf diesem Planeten, der nicht durch uns beeinflusst wäre. Das gilt in besonderem Maße für den Boden.

Wir haben offenbar bis heute nur wenig aus den zahlreichen historischen Katastrophen gelernt. Erosion, falsche Bewässerung, Überdüngung, Einsatz von Agrargiften oder Bodenverdichtung aufgrund zu schwerer landwirtschaftlicher Maschinen und Geräte sind in allen landwirtschaftlichen Regionen rund um den Globus ein Problem.

Autor Rüdiger Braun nimmt uns mit auf ein kleines Experiment:

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Reise vom Mittelpunkt der Erde geradewegs nach oben, durch unseren Planeten hindurch. Bei dem Tempo eines gemütlichen Spazierganges wandern Sie in den ersten zwölf Wochen durch glühende Magma und backofenheißes Gestein, ohne eine Spur von Leben zu finden.

Erst drei Minuten vor der Oberfläche, auf den letzten 500 Metern, stoßen Sie auf die ersten Lebewesen: Es sind Bakterien, die in tiefen, wasserführenden Bodenschichten von herabsickernden Nährstoffen leben. Wenn Sie dann in gleichbleibender Geschwindigkeit weiter nach oben steigen und die Erdkruste durchbrechen erhaschen Sie eine knappe Sekunde lang einen flüchtigen Blick auf die überwältigende Vielfalt des Bodenlebens.

Boden ist durch direkte Einwirkung des Menschen in Gefahr. Durch den Klimawandel werden die Schwierigkeiten noch verstärkt: Niederschläge fallen über lange Zeiträume zu spärlich, können dann aber immer häufiger als Sturzregen herabprasseln und wertvolle Ackerkrume mit sich reißen. Hitzewellen und Trockenphasen dauern länger und fallen heftiger aus. Das hat unkalkulierbare Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit der Böden und die landwirtschaftlichen Erträge.

Das muss aber nicht zwangsläufig so sein, denn der Boden hat auch ein enormes Potenzial, dem Klimawandel entgegenzuwirken.

Der Text, soviel sei verraten, birgt einige schöne Bilder und einen (ganz vorsichtig) hoffnungsvollen Ausblick, dass wir irgendwann Boden nicht mehr wie Dreck behandeln.

Offenlegung: Ich bin Teil von RiffReporter.de

EU: Klimapolitischer Fehlstart ins Jahr 2022

piqer:
Jürgen Klute

Am letzten Tag des alten Jahres hat die EU-Kommission einen mittelprächtigen Kracher gezündet: Sie hat angekündigt, Kernenergie- und Gas-basierte Energieproduktion als sogenannte grüne – also Umwelt- und klimafreundliche – Energie zu klassifizieren. Umweltverbände, aber auch Regierungsgrüne in Wien und Berlin haben diesen Schritt unverzüglich scharf kritisiert. Dabei hat gerade die Berliner Bundesregierung einen nicht unerheblichen Anteil an dieser Entscheidung der EU-Kommission: Letztlich spiegelt diese Entscheidung einen Kompromiss zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und Präsident Emmanuel Macron.

In einem Artikel für die taz hat Eric Bonse die Hintergründe dieses Kompromisses dargestellt und erläutert. Zufrieden sein kann aus klimapolitischer Sicht niemand mit diesem Kompromiss. Aber mehr ist offenbar derzeit politisch nicht drin gewesen. Soll dieser Kompromiss doch zu einem besseren Ergebnis gewendet werden – was klimapolitisch unumgänglich scheint, dann müssen Kritiker und Aktivisten die politischen Dynamiken hinter diesem Kompromiss analysieren und verstehen, um Ansatzpunkte für dessen Veränderung zu finden. Dazu bietet dieser Beitrag von Eric Bonse einen guten Einstieg. Deshalb meine Empfehlung an dieser Stelle.

Jetzt geht’s um Kobalt statt um Öl

piqer:
Jürgen Klute

Mit der Energiewende verlieren nicht nur die fossilen Energieträger ihre Bedeutung, sondern auch die Länder, deren Wirtschaft auf der Förderung und dem weltweiten Verkauf dieser Energieträger beruht. An die Stelle von Öl, Gas und Kohle tritt nun ein anderer Rohstoff: Kobalt. Es wird für die Produktion von Batterien gebraucht. Mit der Umstellung auf E-Mobilität steigt der weltweite Bedarf an Batterien und damit an Kobalt.

Rund 70% der heutigen Kobalt-Produktion kommt aus der ehemaligen belgischen Kolonie und heutigen Demokratischen Republik Kongo. Um den Zugriff auf die Kobalt-Vorräte konkurrieren chinesische, US-amerikanische und europäische Unternehmen. Aber auch innerhalb der Demokratischen Republik Kongo konkurrieren unterschiedliche politisch Lager um die Kontrolle der Kobalt-Vorräte und deren internationale Vermarktung.

Diese mehrschichtige und komplexe Lage durchleuchtet der Journalist und Wissenschaftler Alex Veit kompetent und faktenkundig in einem etwas ausführlicheren Artikel für die Luxemburger links-grüne Wochenzeitung WOXX. Veit forscht derzeit über den Aufstieg, den Zerfall und die Renaissance von Sozialpolitik in Afrika.

New York City reguliert Künstliche Intelligenz zur Personalauswahl

piqer:
Ole Wintermann

Der Rat der Stadt New York hat beschlossen, dass die BürgerInnen der Stadt bei Bewerbungen auf eine Arbeitsstelle nicht durch KI-basierte Werkzeuge bewertet werden dürfen. Nachdem in den letzten Jahren die impliziten Verzerrungen (Gender, Herkunft, Religion etc.) von KI-Werkzeuge bei der Bewertung von Menschen im Zuge von Bewerbungen in- oder externer Art bekannt geworden sind, wollte der Rat der Stadt nun ein Zeichen setzen. Die Anwendung von KI-basierten Werkzeuge bei der Einstellung von BewerberInnen ist nur dann zulässig, wenn die Unternehmen einmal pro Jahr eine Unbedenklichkeitsprüfung durchlaufen und damit garantieren, dass die KI “verzerrungsfrei” arbeitet.

Das was sich auf den ersten Blick positiv anhört, offenbart aber auf den zweiten Blick eklatante Schwächen und könnte sogar das Gegenteil von dem bewirken, was eigentlich intendiert war: Die Unbedenklichkeitsprüfung enthält nach Auffassung von ExpertInnen keine weitreichenden Prüfungskriterien: Herkunft und Gender werden zwar überprüft, Alter und Behinderungen werden aber außer acht gelassen.

„The bill was recently watered down so that it effectively just asks employers to meet existing requirements under U.S. civil rights laws prohibiting hiring practices that have a disparate impact based on race, ethnicity or gender. (…) The burden of these audits falls on the vendors of the tools to show that they comply with some rudimentary set of requirements that are very easy to meet.“

Zudem erfasst die Notwendigkeit der Unbedenklichkeitsprüfung keine internen KI-Werkzeuge zur Bewertung von Arbeitskräften, wie sie Amazon weitreichend nutzt. Ist dieser Beschluss also nicht mehr als “gut gemeint” und wird sich am Ende sogar zu einem Freifahrtschein für die Verwendung von KI zur Personalauswahl entwickeln?

Tech-Utopismus für 2022

piqer:
René Walter

Piqd-Kollege Ralph Diermann schrieb kürzlich vor zwei Tagen über die Krise am Energie-Markt und verlinkte einen Text von Christoph Podewills, in dem er die Chance in der Krise für die neue Ampel-Koalition und die Pläne für den Ausbau der erneuerbaren Energien in Robert Habecks Wirtschaftsministerium aufzeigt.

Daran möchte ich anschließen und verlinke einen Text des Ökonoms und ehemaligen Bloomberg-Kolumnisten Noah Smith, der einige (sehr) utopische Aussichten für die kommende Dekade zeichnet, ausgehend von einer Revolution am Energie-Markt, ausgelöst durch stetig fallende Preise für Solar-/Windkraft und den Innovationen in der Entwicklung von billigen Stromspeichern, eine Grundvoraussetzung für eine stabile Grundversorgung durch erneuerbare Energien. (Die Preise für Lithium-Ionen-Batterien sind in den vergangenen 10 Jahren um nicht weniger als 90% gefallen.)

The International Energy Agency, which has traditionally been too conservative in predicting the rise of renewables, now forecasts that the trend will continue strongly throughout the decade:

By 2026, global renewable electricity capacity is forecast to rise more than 60% from 2020 levels to over 4 800 GW – equivalent to the current total global power capacity of fossil fuels and nuclear combined. Renewables are set to account for almost 95% of the increase in global power capacity through 2026, with solar PV alone providing more than half. The amount of renewable capacity added over the period of 2021 to 2026 is expected to be 50% higher than from 2015 to 2020.

Solar, the real miracle technology in this story, will be more than half of that.

Smith beschreibt in seinem Newsletter eine Dekade, in der sich die digitale Revolution wie ein Vorgeschmack auf kommende technologische Innovationen ausmacht: Die sinkenden Preise und das phänomenale Wachstum des Marktes für erneuerbare Energien bedeuten Ausbau und sinkende Preise im Bahnverkehr, Ausbau von Klimatechnologien wie billiger Carbon-Capture und, natürlich, Roboter. Hinzu kommen sprunghaft neue Entwicklungen auf Gebieten wie Nanotechnologie, Biotech (CRISPR, mRNA), Brain-Computer-Interfaces, künstlicher Intelligenz oder der Erschließung des Weltraums.

Nach den Ernüchterungen in der vergangenen Dekade durch die Schattenseiten der digitalen Revolution und die nach wie vor ungeklärten Auswirkungen von sozialen Medien auf Gesellschaften und die menschliche Psychologie bietet Noah Smith in seinem Newsletter einen Anlass für einen Schuss Techno-Utopismus für die kommenden Jahre, den zumindest ich nach den Dark Ages der Social Media-Revolution sehr dringend benötige.

Verheerende Auswirkungen: Die Folgen von Corona für Afrika

piqer:
Antje Schrupp

Die Pandemie brachte alle Volkswirtschaften in Schwierigkeiten, aber auf sehr unterschiedliche Weise. Was die globale Perspektive betrifft, so haben sich die Debatten meist auf das Thema Impfpatente konzentriert. Aber das ist zu kurz gegriffen, wie der britisch-ghanaische Kulturphilosoph Kwame Anthony Appiah in diesem Beitrag schreibt.

Was in der Debatte nicht berücksichtigt wurde, seien die völlig unterschiedlichen Voraussetzungen gewesen, speziell die unterschiedliche Verwundbarkeit der ökonomischen Verhältnisse. Daraus ist die paradoxe Situation entstanden, dass Corona als Virus und Krankheit zwar für die meisten afrikanischen Länder eigentlich weniger gefährlich war als für die im Norden – es verläuft bei jungen Menschen häufiger glimpflich, und das Medianalter zum Beispiel in Ghana, Nigeria und Namibia liegt nur um die 20 Jahre. Aber trotzdem sind seine Folgen dort weitaus schlimmer.

Das liegt zum einen an den prekären Verhältnissen, bei denen ein Lockdown für viele Menschen unmittelbar an die Grenze der Existenzmöglichkeiten führt. Und zum anderen an der Verwundbarkeit von Volkswirtschaften, die schnell ins Trudeln geraten, wenn die Nachfrage zurückgeht. Maßnahmen, die im Norden Menschenleben retten, können im Süden Menschenleben kosten. Der Beitrag macht klar, wie wichtig es wäre, bei der Bekämpfung globaler Herausforderungen eine globale Perspektive einzunehmen.

Ist das #vanlife die neoliberale Hölle?

piqer:
Oskar Piegsa

Wenn man sich die mit #vanlife vertaggten Fotos auf Instagram ansieht, wirkt es so, als wären Besitzer von Kleinbussen und Kastenwagen eigentlich das ganze Jahr über im Urlaub. Immer unterwegs auf irgendeinem idyllischen Bergpass, immer am Campen auf irgendeinem menschenleeren Strand. Doch das ist wohl eine Täuschung.

Denn was der Journalist Werner van Bebber im hier gepiqden Artikel aus dem Tagesspiegel (Aboschranke) über zwei Menschen schreibt, die tatsächlich ihr »life« im »van« verbringen, die den festen Wohnsitz also dauerhaft gegen ein Leben im Kleinbus eintauschten, klingt ganz anders:

Zeitgewinn – das war für ihn ein Motiv, in den Wagen zu ziehen. Seine Arbeitstage können lang sein. Da wollte er nicht noch stundenlang fahren, um in irgendeine Wohnung zu gelangen, die er früh am nächsten Morgen verlassen würde, um abermals zur Arbeit zu fahren.

Und:

Mit dem Van wechselt man den Lebens- und Arbeitsort von einer auf die nächste Stunde, von der Stadt aufs Land und zurück. [Er] sagt, für seine Auftraggeber sei das ein Vorteil: Er sei immer vor Ort. Wenn er gebraucht werde, müsse man nur an die Tür klopfen.

Und:

Sie denkt daran, das Leben im Van fortzusetzen, bis sie ›nicht mehr Auto fahren kann‹. Ihre Zukunft sieht sie positiv, sie findet es gut, dass sie dort arbeiten kann, wo ihre Kunden sind.

Das alte Versprechen von »Digitaler Bohème«, Freiberuflichkeit und remote work (Hey, mit Deinem Laptop kannst Du arbeiten, wo Du willst! Im Café! Oder am Strand! Und kein Chef kann Dir was!) kehrt sich hier ins Gegenteil um.

Der »Er« im Artikel fährt als Freelancer den Jobs hinterher und ist immer ansprechbar, man braucht nur klopfen. Die »Sie« tut’s auch und will es fortsetzen, bis sie tot auf den Beifahrersitz kippt. Oder so ähnlich.

Die Protagonist*innen dieses Artikels erscheinen als der neoliberale Traum aller Arbeitgeber: Flexibel, belastbar und stolz drauf. Nomadland lässt grüßen.

Aber ganz so einfach ist es dann wohl doch nicht, denn beide wollen ihre vollen Namen nicht öffentlich nennen – mit der Begründung, sie wollten, dass der Eindruck eines unsteten Lebenswandels ihnen »beruflich nicht schadet«.

Huch, was den nun? Ist der Vanlifer (m/w/d) nun der ideale Dienstleister oder doch eher ein Outlaw? Geht es hier um Menschen, die sich den Anforderungen des Kapitalismus perfekt angepasst haben – oder gerade nicht, weil einen das Leben auf engstem Raum dazu zwingt, Konsumbedürfnisse zurückzustellen und sich ständig mit dem eigenen Ressourcenverbrauch zu konfrontieren (wenn der Wassertank leer ist, ist er leer, dann muss neues geholt werden, »wie früher«, schreibt der Journalist Werner van Bebber, »als die Leute einen Brunnen auf dem Hof hinterm Haus hatten«).

Dass diese Fragen unbeantwortet bleiben, ist eine Stärke dieses Artikels: Er bietet den Einblick in den Alltag zweier Menschen (wie viele Vanlifer es insgesamt in Deutschland gibt, ist nicht bekannt) und zeigt die Ambivalenzen ihrer ungewöhnlichen Lebensweise auf, ohne diese vorschnell auf eine einheitliche Erklärung zu verengen.