Fremde Federn

Silicon Sowjets, Trumps Trittbrettfahrer, neoliberaler Nationalismus

Wie die Silicon Valley-Entrepreneure in Überheblichkeitssphären abdriften, was Deutschland in Sachen Gender Pay Gap von Großbritannien lernen kann und warum die historische Erzählung über den Ursprung gesellschaftlicher Ungleichheit ein Mythos ist.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Ist das noch Kapitalismus? Silicon Valley und die Sowjets

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Michael Seemann

Ich nage ja immer wieder an dem Begriff „Plattformkapitalismus“. Es gibt eine ganze Reihe von Einwänden, die man gegen die These anführen kann, dass es sich bei den Silicon Valley-Firmen noch um normale kapitalistische Marktteilnehmer handelt. Einer davon, ist, dass gerade die digitalen Medienunternehmen „Capitalism without Capital“ (gutes Buch übrigens) praktizieren, das heißt eigentlich nur noch über wenig physische Assets verfügen. Ein anderer ist, dass sie ab einem gewissen Punkt keine Marktteilnehmer sind, sondern selbst marktähnliche Funktionen übernehmen. Es gibt noch weitaus kompliziertere.

Ein ganz neuer Grund für mich daran zu zweifeln, dass wir es hier noch mit dem guten alten Kapitalismus zu tun haben, ist dieser Artikel von Nils Markwardt. Er zeigt schön auf, wie die Silicon Valley-Entrepreneure in ähnliche Überheblichkeitssphären abdriften, wie die frühsowjetischen Vordenker. Sowohl die Raumfahrts-Vorstellungen, die Überwindung von Alterung und letztlich des Todes finden sich eins zu eins auch schon bei utopischen Schriften der Sowjet-Kommunisten wieder.

Das bedeutet natürlich nicht, dass Silicon Valley heimlich den Kommunismus anstrebt und Markwardt weist auch auf die Unterschiede in der instrumentellen wie gesellschaftlichen Handhabung dieser Ideen hin, aber es zeigt doch, dass hier etwas angestrebt wird, das sich durch die Zuordnung zu einer Wirtschaftsordnung nicht hinreichend beschreiben lässt. In gewisser Weise transzendieren diese „Moonshot-Projekte“ die Frage nach der Wirtschaft zugunsten von anthropologischen Fragestellungen. Was ist der Mensch? Was soll er sein? Wohin soll er gehen? Und hat er ne Schraube locker?

Wer seine Urteile über Ostdeutschland bestätigt haben will, sollte sich dieses Gespräch nicht antun

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Dirk Liesemer

Ein facettenreiches Podiumsgespräch über Ostdeutschland: mit dabei die Ostbeauftragte Iris Gleicke, die Autorin Sabine Rennefanz, der SPD-Politiker Wolfgang Thierse, der Transformationsforscher Rai Kollmorgen, die Netzwerkerin Kathrin Cholotta und der erfrischend direkte Jan Otto von der IG Metall Ostsachsen. Schon nach wenigen Minuten wird klar, dass die Überschrift über dem DLF-Stück („Viele Ostdeutsche fühlen sich weiterhin als Bürger 2. Klasse“) irreführend kurz greift. Ich kann dieses Gespräch jetzt hier auch gar nicht mal eben so resümieren.

Aus genau diesem Grund will ich es aber auch empfehlen: Es zeigt, wie vielgestaltig, dynamisch und offen die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozesse im Osten Deutschlands verlaufen. Wer als Hörer allerdings auf die Bestätigung eigener, langgehegter Thesen hofft, sollte sich das Gespräch besser nicht anhören. Natürlich ist das Podium nicht repräsentativ besetzt, aber das ist in einem Land von mehr als 80 Millionen Menschen (und ebenso vielen Fußballnationaltrainern ;-)) auch nicht möglich. Das Stück ist übrigens ein paar Wochen alt, weshalb der Einstieg in die Diskussion nicht mehr ganz aktuell ist.

Österreich: Der neoliberale Nationalismus des Kanzlers Kurz

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Simone Brunner

Die neue österreichische Koalition aus der konservativen ÖVP und der rechtspopulistischen FPÖ ist nun mehr als 100 Tage im Amt. Das in Wien ansässige Kulturmagazin Eurozine hat das zum Anlass genommen, um der Frage nachzugehen, welcher ideologische Kern sich aus den ersten Initiativen herausschälen lässt. Fazit: ein neoliberaler Nationalismus.

Nichtsdestotrotz haben die ersten drei Monate schon viele ideologische Bruchstellen zwischen den Parteien des Kanzlers Sebastian Kurz und des Vize-Kanzlers Heinz-Christian Strache aufgezeigt. Viele Maßnahmen, wie die geplante Ausweitung des gesetzlich festgeschriebenen Acht-Stunden-Arbeitstages oder die Kürzungen von Sozialzahlungen, schaden nämlich in erster Linie dem FPÖ-Elektorat. Ein Bereich, in dem sich ÖVP- und FPÖ-Weltbild treffen, ist hingegen die Kulturpolitik, bei der sich die beiden Parteien als Bewahrer der Volkskultur verstehen, um „Tradition und gelebtes Heimatbewusstsein“ zu fördern und zugleich „keine öffentlichen Gelder für queere und feministische Kunst“ mehr auszugeben, wie es ein Tiroler FPÖ-Politiker zuletzt ausdrückte.

Eine interessante und treffende Analyse, allerdings auf Englisch. Der Originaltext auf Deutsch (Blätter für deutsche und internationale Politik) kann für einen Euro hier heruntergeladen werden.

Der historische Mythos vom Sündenfall in die gesellschaftliche Ungleichheit

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Christian Huberts

In zivilisierten Gesellschaften sei Ungleichheit unvermeidlich, so heißt es. Denn als unsere Vorfahren von egalitären Jägern und Sammlern zu sesshaften Landwirten wurden, bildeten sich notwendigerweise soziale Hierarchien heraus, musste (Land-)Besitz beansprucht und vor den anderen verteidigt werden. Der Evolutionsbiologe und Buchautor Jared Diamond spricht gar vom schlimmsten Fehler in der Menschheitsgeschichte. Das Problem nur: diese Vorstellung der Vergangenheit ist im Licht aktueller Forschung kaum noch haltbar. Für Eurozine hinterfragen die Anthropologen David Graeber und David Wengrow in einem lesenswerten Longread den historischen Mythos des Ursprungs gesellschaftlicher Ungleichheit:

Information is now pouring in from every quarter of the globe, based on careful empirical fieldwork, advanced techniques of climatic reconstruction, chronometric dating, and scientific analyses of organic remains. Researchers are examining ethnographic and historical material in a new light. And almost all of this new research goes against the familiar narrative of world history.

Zu den überraschendsten Erkenntnissen des Textes zählt, dass die Organisationsformen früher Gesellschaften selten statisch waren, sondern parallel zu natürlichen Zyklen (Jahreszeiten, Jagdsaisons etc.) regelmäßig wechselten. Mal Jäger, mal Bauern. Mal Nomaden, mal Bewohner provisorischer Städte samt Herrscherkaste und Polizei. Für die Autoren ergibt sich daraus ein spannender Wechsel der Perspektive: Statt die Menschheitsgeschichte weiterhin zu nutzen, um die heutige soziale Ungleichheit zu erklären/legitimieren, könnte man sich ebenso fragen, wohin die Flexibilität verschwunden ist:

[T]he real question is not ‘what are the origins of social inequality?’, but, having lived so much of our history moving back and forth between different political systems, ‘how did we get so stuck?’ All this is very far from the notion of prehistoric societies drifting blindly towards the institutional chains that bind them.

In Großbritannien müssen Unternehmen Zahlen zum Gender Pay Gap veröffentlichen

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Antje Schrupp

Na also, geht doch: Die britische Regierung hat Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeiter_innen dazu verpflichtet, Zahlen zum Gehaltsunterschied zwischen Frauen und Männern offenzulegen. Vorige Woche lief die Frist aus, und das Ergebnis ist genauso ernüchternd, wie es zu vermuten war.

Acht von zehn Firmen zahlen Frauen weniger als Männern. Im öffentlichen Sektor sind es sogar neun von zehn. Bei den Firmen, die ihre Daten offenlegten, verdienen Frauen im Durchschnitt knapp zehn Prozent weniger als Männer.

Das britische Gesetz ist einmalig, hierzulande wehren sich Unternehmen nach wie vor mit Zähnen und Klauen dagegen, die entsprechenden Zahlen zu veröffentlichen. Aber nur was bekannt ist, kann auch geändert werden. So ist die Situation nicht bei allen Unternehmen gleich schlecht, und wenn die Zahlen bekannt wären, könnte man auch gezielt darüber sprechen. Lohngerechtigkeit könnte zum Beispiel auch ein Kaufargument sein. Außerdem ist es interessant, zu sehen, in welchen Branchen die Situation besonders schlimm ist.

Jedenfalls sollten sich andere Länder und auch Deutschland hieran ein Beispiel nehmen. Solange Unternehmen sich weigern, die Situation nüchtern zu analysieren, und die Politik eine solche Auseinandersetzung auch nicht erzwingt, sind all die schönen Sonntagsreden für mehr Geschlechtergerechtigkeit nicht so recht ernst zu nehmen.

Wie deutsche Autokonzerne vom Anti-Klimaschutz-Kurs der USA profitieren wollen

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Daniela Becker

Die US-Regierung leugnet den Klimawandel. Offiziell finden deutsche Autokonzerne die Sache schlimm, nutzen sie aber aus.

Nur einen Tag nach Trumps Wahlsieg schrieb die Alliance of Automobile Manufacturers (AAM), der Lobbyverband der amerikanischen Autobauer, einen achtseitigen Brief an den neuen mächtigsten Mann der Welt: Man empfehle dem Weißen Haus, gemeinsam einen Weg in Sachen CO2-Standards für 2022 und danach zu finden. Übersetzt war das ein direkter Angriff auf einen Grundpfeiler des Klimaschutzprogramms von Barack Obama.

BMW, VW und Daimler finanzieren als Mitglieder nicht nur die Attacken der AAM auf den Klimaschutz mit – die Konzernchefs sprachen offenbar selbst in Washington vor. Das lässt sich zumindest aus dem öffentlichen Terminkalender von Scott Pruitt, dem Chef der US-Umweltbehörde EPA, schlussfolgern.

Ein trauriger Text darüber, wie die Autolobby nach wie vor versucht, selbst niedrigste Standards immer weiter aufzuweichen und Elektromobilität weiterhin nicht ernst nimmt. Engagement gegen Klimawandel? Gibt es in der Autoindustrie scheinbar nur in Nachhaltigkeitsberichten.

Studie bestätigt: Digitalisierung ist kein Jobkiller – doch Routine geht in Rente

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Karsten Lemm

Prognosen über den Arbeitsmarkt von morgen, über die wir hier regelmäßig schreiben, sind notgedrungen unscharf – geprägt von Annahmen und Wahrscheinlichkeiten, nicht Gewissheit.

Im Kontrast dazu steht eine neue Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), die untersucht, wie sich der deutsche Arbeitsmarkt zwischen 2011 und 2016 durch die zunehmende Digitalisierung verändert hat. Im Auftrag des Bundesforschungsministeriums befragten die Wissenschaftler mehr als 2000 leitende Manager, um zu ermitteln, wie stark deutsche Firmen Technologien wie Roboter, Big-Data-Analysen und selbststeuernde Maschinen einsetzen.

Spiegel.de bereitet die Ergebnisse der Studie (PDF hier abrufbar) anschaulich und gut verständlich auf, auch mithilfe von interaktiven Grafiken. Schnell wird deutlich: In allen Bereichen der Wirtschaft setzen sich moderne IT-Systeme durch, die auch durchaus die Arbeit von Menschen übernehmen: Insgesamt wurden fünf Prozent der Beschäftigten zwischen 2011 und 2016 durch Automatisierung ersetzt. Andererseits profitierten viele Unternehmen von Produktivitätsgewinnen und schufen neue Jobs. Deshalb steht unter der Gesamtrechnung ein Wachstum von knapp einem Prozent beim Arbeitsplatz-Angebot.

Allerdings zeigt die Studie auch, wie sehr der Digitalwandel bereits jetzt die Gesellschaft spaltet – hier die Gewinner (etwa Ingenieure und Programmierer), deren Kenntnisse höher belohnt werden, solange die Nachfrage steigt; dort Verlierer (wie z.B. Bauarbeiter), deren Fähigkeiten sich vermehrt automatisieren lassen.

Am schnellsten geht der Bedarf für Routine-Jobs im Büro zurück; dagegen suchen Arbeitgeber vermehrt nach Mitarbeitern, die analytisch denken und ihre Aufgaben im Zusammenspiel mit Algorithmen und Robotern erledigen können. Für Menschen in der Welt der Maschinen heißt das: weiterlernen, umdenken, mobil bleiben. Denn nur, wer sich neu orientieren kann, darf hoffen, von der Digitalisierung zu profitieren, statt ins Abseits zu geraten.

Handel: Europa gerät zwischen die Fronten

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Eric Bonse

Die EU hat einen Handelskrieg mit den USA in letzter Minute abgewendet. Präsident Trump gewährte den Europäern eine Atempause bis Ende April. Doch nun eskaliert der Streit zwischen den USA und China. Europa könnte zwischen die Fronten geraten, auch wenn es mit Amerika verbündet ist.

Gefahr droht vor allem vom Streit um Zölle auf Automobile. Die EU scheint zwar bereit, ihre Import-Zölle zu senken, wie dies Trump fordert. Doch die Chinesen bleiben hart. Wenn der Streit eskaliert, würden auch europäische Hersteller leiden, die in den USA produzieren und nach China exportieren.

Sollte es einen regelrechten Handelskrieg geben, würde dies auch die europäischen Investitionen in China gefährden. Zudem könnte dann die Welthandelsorganisation WTO, auf die sich die EU bisher verließ, an den Rand gedrängt werden. Trumps Angriffe auf die WTO lassen nichts Gutes ahnen.

In Brüssel wird diese Gefahr bisher kaum diskutiert. Dabei bekommt Deutschland die Spannungen bereits zu spüren: Die deutschen Exporte knicken ein, für die Wirtschaft war es der schwächste Start in ein neues Jahr seit 2009. Die „New York Times“ liefert den nötigen Background – „trending!“

Erneuerbare Energien: Investitionen in Deutschland brechen ein

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Ralph Diermann

Europa als Motor der globalen Energiewende? Das ist vorbei – heute treiben vor allem Länder wie China oder Indien den Ausbau der erneuerbaren Energien in der Stromversorgung voran. Zahlen dazu liefert der neue Investitionsbericht der Frankfurt School of Finance, den das Handelsblatt jetzt vorgestellt hat. Danach sind die Ausgaben für Solaranlagen, Windräder und Kleinwasserkraftwerke in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas 2017 stark gestiegen (allein in China plus 31 Prozent), während sie in Europa zurück gegangen sind. Besonders stark in Deutschland: minus ein Drittel binnen eines Jahres.

Mehrere vom Handelsblatt befragte Experten führen die Investitionsflaute in Europa auf politische Unsicherheiten zurück, etwa auf die Umstellung von garantierten Abnahmepreisen für den Strom hin zu einem Ausschreibungsverfahren. Oder auf fehlende Signale für den Ausbau der Stromnetze oder der Speicherkapazitäten.

Die gute Nachricht: Trotz rückläufiger Investitionen in Europa steigt die installierte Leistung – weil man wegen des technischen Fortschritts heute mehr Kilowatt für weniger Geld bekommt.