In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Was die Wahl von Liz Truss als britische Premierministerin bedeutet
piqer:
Rico Grimm
Am Montag wurde klar: Liz Truss wird neue Premierministerin von Großbritannien. Sie tritt damit die Nachfolge von Boris Johnson an, der in seiner Amtszeit mit wenig konkreter Politik, aber vielen rechtspopulistischen Sprüchen und Skandalen auffiel. Seine Tory-Parlamentarier und -Parlamentarierinnen stürzten ihn als klar wurde, dass sie mit ihm die nächsten Wahlen verlieren werden. Eigentlich hätte das ein klarer Bruch mit der Johnson-Amtszeit sein sollen. Aber die Wahl von Liz Truss zeigt: den gab es nicht.
Annette Dittert, ARD-Korrespondentin in London, beschreibt in diesem kompakten Hintergrund-Stück sehr gut, was die Ernennung von Liz Truss bedeutet:
Sollte Truss das Rennen am Ende gewinnen, würde das bedeuten, dass zum ersten Mal eine nicht-repräsentative, vergleichsweise radikale konservative Parteibasis den nächsten Premier gegen den Willen der gewählten Volksvertreter durchgesetzt hat. Das stünde klar im Gegensatz zur britischen Verfassung, die, auch wenn sie nicht als einzelnes Dokument niedergeschrieben ist, per Konvention deutlich festlegt, dass das Parlament der Souverän im Staat ist und nicht eine Partei bzw. deren Mitglieder, die noch dazu nur einen verschwindend kleinen Anteil der Bevölkerung ausmachen.
Diese undemokratische und dem Geist des britischen Systems widersprechende Ernennung spielt sich dabei vor dem Hintergrund eines extremen sozialen Notstand ab. Großbritannien war sowieso das Land, in dem nach der Finanzkrise so hart gespart wurde, wie in keinem anderen (nicht einmal in Griechenland). Durch Brexit und Corona hat sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert; die jetzige Energiepreis-Inflation heizt die Stimmung weiter an.
Silicon Saxony – eine Hoffnung für den Wohlstand von morgen?
piqer:
Thomas Wahl
Florierende, innovative Wirtschaftsstandorte sind letztendlich das Herz unseres Wohlstandes. Und dieses Herz schwächelt seid geraumer Zeit. Gabor Steingart hat hat das 2004 in seinem Buch „Deutschland – Abstieg eines Superstars“ warnend beschrieben. Dazu damals „Die Zeit“ in ihrer Rezension:
Nicht mehr militärische, sondern wirtschaftliche Stärke entscheide über Aufstieg und Fall der Nationen. Hier aber, im „Energiezentrum der Wirtschaft“, wo investiert und gearbeitet wird und die Wertschöpfung stattfindet, habe in Deutschland schon lange eine „Kernschmelze“ begonnen, welche nun, in Verbindung mit einem „überforderten“ Sozialstaat, das Land in den Abgrund zu reißen drohe.
Der Artikel nun gibt einen sehr informativen Einblick in ein modernes Zentrum unserer Wirtschaft im oft unterschätzten Osten und zeigt damit, dass noch industrielle „Glutkerne“ vorhanden sind. Es geht um Dresden als wichtigen Standort der deutschen und europäischen Halbleiterindustrie. Wie kam es zu dieser regionalen Schwerpunktsetzung? Warum zog es die Branche damals in die sächsische Hauptstadt?
Sachsen war in den letzten 200 Jahren immer schon ein Schwerpunkt der Industrialisierung und der Innovation. Hier eine kurze historische Selbstdarstellung:
Schon im 18. Jahrhundert begann in Sachsen mit dem Aufbau der ersten Maschinenbaubetriebe das Industriezeitalter. Die Region war damit Vorreiter auf dem europäischen Festland. Die erste in Deutschland konstruierte Lokomotive, der erste Sechszylinder-Motor, der mittig gesetzte Schalthebel im Auto – alles Innovationen aus Sachsen. Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Industriestädte Chemnitz, Zwickau und ihr Umland die Region Europas mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen.
Tradition ist also wichtig und wurde auch in der DDR nicht völlig verspielt. Mikroelektronik spielt in Dresden seit Anfang der 60er Jahre eine Rolle. 1961 wurde hier die Arbeitsstelle für Molekularelektronik (AME) gegründet, 1976 umbenannt in Institut für Mikroelektronik Dresden (IMD). 1980 entstand durch Fusion mit anderen Forschingseinrichtungen das Zentrum für Forschung und Technologie Mikroelektronik (ZFTM) mit etwa 1550 Angestellten. Die DDR hat in diesen Industriezweig für ihre Verhältnisse als kleiner Staat irrwitzige Summen gesteckt. Die Beherrschung der Mikroelektronik galt als eine Grundbedingung für Wirtschaft und Wohlstand. Was sicher richtig war, aber nur in einer globalen Arbeitsteilung wirtschaftlich machbar ist.
In der Wende 1990 wurde dann das bis dahin volkseigene Forschungszentrum mit insgesamt etwa 3000 Beschäftigten in die ZMD GmbH i.G. überführt. Daraus entstand das heutige Unternehmens ZMD, mit noch etwa weltweit 280 Beschäftigten, davon rund 160 Ingenieure, die überwiegend an Produktentwicklungen arbeiten. Vom Anspruch und dem Arbeitskräftepotential natürlich nur ein Schatten seiner selbst. Aber für die folgenden Neugründungen waren die richtigen Fachkräfte vorhanden und die Universität konnte auch schnell qualifizierten Nachwuchs liefern. Dabei wird oft die Rolle
des CDU-Politikers Kurt Biedenkopf hervor(gehoben), der von 1990 bis 2002 erster Ministerpräsident des Bundeslands nach der Wende war. Wiewohl Westdeutscher, habe er an die Halbleitertradition aus der DDR geglaubt und mit Forschungsförderung und Industrieansiedlungen gezielt versucht, die Branche in Dresden aufzubauen.
Was ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Aus dem Bundesministerium für Forschung und Technologie sind damals bewusst auch Forschungsmittel nach Dresden transferiert worden. Und so ist wieder ein ganzes regionales „Biotop“ aus Halbleiterindustrie, Halbleiterforschung und Bildung entstanden:
GF ist einer von zahlreichen bekannten Namen aus der Halbleiterbranche, die sich hier angesiedelt haben. Auch Bosch und Infineon betreiben in Dresden Chipfabriken; ein führender Zulieferer, die Münchner Siltronic, stellt im nahen Freiberg Wafer her, auf denen Chips gefertigt werden. Und um sie herum hat sich ein ganzes Ökosystem von Herstellern, Zulieferern, Dienstleistern, Startups und Forschungsinstituten aus der Mikroelektronik und der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) mit rund 73 000 Beschäftigten entwickelt.
Zwar hat keiner der großen Konzerne seinen Hauptsitz in Dresden, was oft als Beweis für originäre Standorte gewertet wird. Aber das Silicon Saxony ist trotzdem mehr als eine verlängerte Werkbank. Dafür sorgt u. a. die Technische Universität, eine der speziell geförderten „Exzellenzuniversitäten“ in Deutschland sowie zahlreiche spezialisierte Forschungseinrichtungen.
Eine davon ist das … Center Nanoelectronic Technologies (CNT), das einige hundert Meter vom Firmengelände von Globalfoundries entfernt liegt. 2005 wurde es als Partnerschaft mit den Firmen Infineon und AMD gegründet; heute ist es ein Geschäftsbereich des Fraunhofer-Instituts für Photonische Mikrosysteme (IPMS) – eines von über zehn Fraunhofer-Instituten hier in Dresden. Das CNT beschäftigt über 90 Personen und hat einen eigenen Reinraum; Forschungsthemen sind zum Beispiel effizientere Produktionsprozesse oder umweltfreundlichere Materialien.
Hier haben wir also einige der wesentlichen Erfolgsfaktoren – Tradition, Fachkräfte, enge Kooperation mit Forschung und Bildung sowie Förderung durch Politik. Das ist attraktiv für den wesentlichen Faktor – Investitionen. Bosch z. B. hat in sein Dresdner Werk, das mit 300-Millimeter-Wafern arbeitet und nach Firmenangaben das modernste in Europa ist, eine Milliarde Euro investiert. Und will (bzw. muss wohl, um Wettbewerbsfähig zu bleiben) an seinen beiden Halbleiterstandorten Dresden und Reutlingen bis 2026 gut 3 Milliarden Euro ausgeben. Und das ist noch wenig, verglichen mit der Großinvestition von Microsoft im gut 200 Kilometer entfernten Magdeburg (Sachsen-Anhalt):
Dort will der amerikanische Hersteller Intel zwei Halbleiterfabriken mit 3000 Arbeitsplätzen und einer Anfangsinvestition von 17 Milliarden Euro errichten, wie er im März angekündigt hat.
Ganz wesentlich für die Fortentwicklung solcher Halbleiter-Cluster scheint auch global die öffentliche Unterstützung. Die USA gewähren Milliardensummen für die Standortförderung. Auch China versucht mit aller Macht und viel Geld, an die technologische Spitze vorzustoßen. In Europa ist es aktuell vor allem die Förderungen der Mikroelektronik, im Rahmen des „Important Project of Common European Interest“ (IPCEI). Hier ermöglicht die EU nationale Subventionen für die Branche ohne die Verletzung der EU-Beihilferegeln.
Bosch zum Beispiel hat daraus für seine Halbleiteraktivitäten eine Förderung von 200 Millionen Euro erhalten. 140 Millionen Euro davon sind in den Bau des Dresdener Werk geflossen. Bei den im Juli angekündigten zusätzlichen Investitionen setzt der Konzern auf das Nachfolgeprogramm IPCEI 2.
Und trotzdem kommen Halbleiter inzwischen vor allem aus Asien,
wobei die dortige Produktion zum Teil aus Auftragsfertigungen für US-Konzerne besteht. Der europäische Anteil an der weltweiten Produktion hingegen liegt unter 10 Prozent. Vor diesem Hintergrund hat die EU-Kommission im Februar ein Halbleitergesetz (European Chips Act) vorgeschlagen, das öffentliche und private Investitionen im Umfang von 43 Milliarden Euro mobilisieren und den Marktanteil der EU bis 2030 auf 20 Prozent verdoppeln soll. Brüssel argumentiert mit der «digitalen Souveränität» Europas, die bedroht sei.
Nichts ist also sicher, aber es besteht Hoffnung. Ich glaube allerdings, wir müssen uns viel stärker die Bedingungen und Voraussetzungen für eine erfolgreiche Industriepolitik klar machen – mindestens mit der gleichen Leidenschaft und Sachkenntnis, mit der wir über das Gendern oder die Zahl der Geschlechter streiten.
Recht auf Muße statt alte Umverteilungsdebatten
piqer:
Anja C. Wagner
Claus Leggewie meldet sich mit einem tagespolitischen Einwurf zur Zukunft der Arbeit zu Wort, wie man es sich nur wünschen kann. Nüchtern blickt er aus Sicht der soziologischen Wissenschaft auf die aktuellen Debatten, die in Deutschland eine 42-Stunden-Woche fordern; derweil andere Länder und fortschrittliche Unternehmen längst die 3- bis 4-Tage-Arbeitswoche einüben, was deutlich zeitgemäßer erscheint.
Schon länger ist empirisch plausibel, dass eine Verkürzung der Arbeitszeit, etwa in Gestalt einer regulären Vier-Tage-Arbeitswoche, eine erhebliche Verringerung des ökologischen Fußabdrucks mit sich bringt. Diese arbeitspolitische Maßnahme, die sich unter der Hand in vielen reichen Ländern schon als gängige Praxis eingeschlichen hat, stellt einen weit größeren Hebel der Transformation zur Nachhaltigkeit, einen weit größeren Beitrag zum Klimaschutz dar als viele kleinteilige Verhaltensänderungen beim Konsum und im Alltagsleben (ohne dass man auf diese verzichten sollte.) Das liegt vor allem daran, dass eine flächendeckende Verkürzung der Wochen- und Monats-Arbeitszeit deutlich zur überfälligen Verkehrswende beitrüge, indem sie die Pendler-Mobilität der Fahrten zum und vom Arbeitsplatz einschränkt.
Dieser umweltpolitische „Gewinn“ schlägt allerdings nur durch, wenn man sich nicht dem vorherrschenden Diktat der mobilen Freizeitaktivitäten unterwirft. Und stattdessen Genugtuung in vielfältigen, abwechslungsreichen Tätigkeitsfeldern sucht, die „bedingungslos“ ausgeübt werden können. Dazu bräuchte es einer Freiheit, die sich weder „auf der Arbeit“, noch „in der Freizeit“ an Wettbewerb und Auslese orientiert, sondern ein gesellschaftlich anerkanntes Sein im Hier und Jetzt ermögliche.
Insofern müsste Einkommen und Arbeit entkoppelt und ein Recht auf Muße perspektivisch in die Verfassung aufgenommen werden. Das bedingungslose Grundeinkommen erfährt in diesem Kontext eine emanzipatorische Kraft und ermöglicht eine Utopie, die radikalökologisch geboten ist angesichts der Krisen unserer Zeit. Wobei die Krisen auch eine Transition hin zu einem neuen sozialpolitischen Narrativ ermöglichen. Was aber manche alten Fundamentalist*innen erst verstehen lernen müssen …
Der China-Taiwan-USA-Konflikt aus spieltheoretischer Sicht
piqer:
Dirk Liesemer
Gut, dieser Piq kommt ein wenig zu spät, denn der Anlass für diese Analyse von Christian Rieck war der Besuch von der US-Demokratin Nancy Pelosi in Taiwan vor gut drei Wochen. Andererseits geht der Streit um Taiwan weiter, täglich gibt es neue Nachrichten – und vor allem geht die Analyse natürlich weit über den Anlass hinaus. Rieck, der sich seit drei Jahrzehnten mit Spieltheorie beschäftigt, bietet einen distanzierten Blick an, um über die Interessen der Akteure nachzudenken. Einschränkend gilt, dass Analysen, die den Akteuren ein strategisches, nüchternes Vorgehen unterstellen, oft die Macht und die Dynamik von Emotionen nicht abbilden können. Rieck selbst sagt daher: Es sind nur Szenarien.
Das Europäische Parlament und die italienische Rechte
piqer:
Jürgen Klute
Bei den anstehenden italienischen Parlamentswahlen hat nach aktuellen Umfragen die italienische Recht gute Chancen, nach einer relativ kurzen Unterbrechung erneut die Regierung zu stellen. Mit der Rechten käme dann in Italien auch eine Putin freundlich und der EU weniger freundlich gesonnene Regierung an die Macht.
Eleonora Vasques ist in einem Artikel für Euractiv der Frage nachgegangen, welche Verknüpfungen es zwischen dem Europäischen Parlament und der italienischen Politik gibt, in welchem Umfang und auf welche Weise aus dem Europäischen Parlament heraus die Rechte in Italien gefördert und gestärkt wurde, um erneut auf einen Wahlerfolg zuzusteuern. „12 der 76 italienischen EU-Abgeordneten treten bei den nationalen Wahlen am 25. September an“, schreibt Vasques.
Was Vasques hier im Blick auf Italien analysiert, gilt natürlich auch für einige weitere Mitgliedsländer der Europäischen Union.
Elite-Überproduktion – eine Hypothese zur sozialen Instabilität
piqer:
Thomas Wahl
Der Westen erlebt eine Welle der Unzufriedenheit, gerade seiner gebildeten Schichten. Die vielfältigen, wütenden Proteste und Auseinandersetzungen in den sozialen Medien etwa gegen die Ungerechtigkeiten und Zumutungen des „Kapitalismus“ oder die „Cancel Culture“ gehen nicht so sehr von der Arbeiterklasse oder gar den Deklassierten aus. Nein, es sind eher die studierten Eliten – oft mit einem Hintergrund in den „Humanities„. Das stützt die Hypothese von Peter Turchin zur Überproduktion studierter Eliten, über die ich vor einiger Zeit schon einmal in einem piq geschrieben habe.
Noah Smith greift die Hypothese auf und stellt die Frage:
Hat Amerika in den 2000er und 2010er Jahren zu viele frustrierte Hochschulabsolventen produziert?
Er unterlegt seine Beantwortung der Frage mit interessantem statistischen Material. Die Kurven zeigen sehr schön, wie bis etwa 2010 die Zahlen der Studienabschlüsse in den Humanities (Humanwissenschaften, Geisteswissenschaften sowie die Sozialwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften) rasant wachsen, dann stagnieren und schnell sinken. Während Abschlüsse in Computer Science und Science zu dominieren beginnen. Warum war das so, fragt Smith. Nach seiner Hypothese gab es bis zur großen Rezession 2008 mit einem Abschluss in den Humanities eine Fülle von Karrierewegen. Was den jungen Menschen
wahrscheinlich das Gefühl (gab), dass es sicher war, Geisteswissenschaften zu studieren – dass es trotz des Stereotyps, dass man mit einem englischen Abschluss nichts anfangen konnte, immer noch jede Menge Arbeit für sie gab, wenn sie es wollten. Das Studium der Geisteswissenschaften hat Spaß gemacht, man fühlte sich wie ein Intellektueller, und die sozialen Möglichkeiten waren wahrscheinlich viel besser, als wenn man den ganzen Tag in einem Labor oder vor einem Computerbildschirm feststeckte.
Und er zeigt wiederum mit Statistiken, dass danach eine ganze Reihe dieser Karrierewege prekärer wurden. Sei es in der Juristerei, in den traditionellen Medien oder als Beamter.
So litten all diese traditionellen Karrierewege für geisteswissenschaftliche Absolventen in den späten 2000er und 2010er Jahren. Aber gleichzeitig gab es einen riesigen Boom in der Zahl der Menschen, die Geisteswissenschaften studierten.
Und hier kommt nun die Theorie der Revolution durch nicht eingelöste Erwartungen zum Tragen. Sie besagt,
dass eine Revolution wahrscheinlich ist, wenn nach einer langen Zeit steigender Erwartungen, begleitet von einer parallelen Erhöhung ihrer Zufriedenheit, ein Abschwung eintritt. Wenn die Wahrnehmung der Bedarfszufriedenheit abnimmt, die Erwartungen weiter steigen, entsteht eine wachsende Kluft zwischen Erwartungen und Realität. Diese Kluft wird schließlich unerträglich und schafft die Voraussetzungen für eine Rebellion gegen ein soziales System, das seine Versprechen nicht erfüllt.
Und dieser Verlauf passt sehr gut auf die USA in den 2010er Jahren. Das Produktivitätswachstum verlangsamte sich um 2005 stark. Die Immobilienpreise (ein Hauptpfeiler der Mittelschichtsvermögen) stiegen bis 2006 an und begannen 2007 zu sinken. Und die Wirtschaft brach in der Großen Rezession ein. Und mitten drin die 25-Jährigen, die gerade ihre Abschlüsse in den Humanwissenschaften machten mit all ihren Karriereerwartungen und Studienschulden.
… und niemand will Anwälte, Zeitschriften sterben, Nachrichtenredaktionen sterben, Universitäten stellen nicht ein, …
Damit wurde Sozialismus in den 2010er Jahren bei jungen Amerikanern schnell beliebter, die Bernie-Sanders-Bewegung explodierte. Sicher bestand sie aus Menschen aller Klassen. Aber insgesamt war es keine proletarische Bewegung. Es war und ist noch im Grunde, wie N. Smith wahrscheinlich richtig vermutet, eine Revolte von studierten Eliten
oder zumindest der Menschen, die erwarteten, dass ihre Ausbildung sie zu einem Teil dieser Klasse macht. Es ist bezeichnend, dass zwei der leidenschaftlichsten Kreuzzüge der neuen sozialistischen Bewegung der Schuldenerlass von Studenten und das freie College waren.
Oder wie Smith selbst sagt:
… als Sozialisten mit Hochschulabschlüssen mit mir über die „Arbeiterklasse“ sprachen, wurde mir klar, dass die Klasse, die sie beschrieben, sie selbst war.
Traditionell glauben ja viele, dass Revolutionen grundsätzlich von unterdrückten Arbeitern oder Landarbeitern ausgehen. Aber eigentlich sind frustrierte und unterbeschäftigte Eliten viel besser geeignet, um Gesellschaften zu destabilisieren und ggf. umzugestalten (und so war es auch in den meisten vergangenen Revolutionen).
Sie haben das Talent, die Verbindungen und die Zeit, radikale Bewegungen zu organisieren und radikale Ideen zu verbreiten. ….
Was auch bedeutet,
eine Gesellschaft, die eine große Kohorte unruhiger, frustrierter, talentierter und hochgebildeter junger Menschen hervorbringt, bittet um Ärger.
Wie kommen wir da raus? N. Smith sieht zwei Wege und ich würde ihm da zustimmen:
- Die Realität zu verbessern, was nur schwer, graduell und langsam möglich ist oder
- Erwartungen zu reduzieren bzw. realistischer zu gestalten.
Letzteres würde auch heißen, die Konzepte der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften pragmatischer und realitätsnäher zu machen.
Care-Arbeit und Kapitalismus von 1800 bis heute
piqer:
Antje Schrupp
Dieses halbstündige Feature schildert kompakt und prägnant den Aufstieg und Fall des Modells „Hausfrau“ in den vergangenen zwei Jahrhunderten. Die Vorstellung, es gäbe eine besondere weibliche Begabung zur häuslichen Fürsorgearbeit, entstand nach der Französischen Revolution und sollte den Ausschluss der Frauen aus den bürgerlichen Freiheitsrechten legitimieren.
War der (unbezahlte) Beruf der „Hausfrau und Mutter“ im 19. Jahrhundert noch weitgehend den bürgerlichen Frauen vorbehalten, wurde er im 20. Jahrhundert zum Leitbild der gesamten Gesellschaft und blieb das in Westdeutschland bis in die 1980er Jahre. Die weibliche Hausarbeit bekam so den Charakter einer natürlichen Ressource, die „der Wirtschaft“ unbegrenzt zur Verfügung steht. Insofern ist sie eng mit der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus verknüpft. Heute wird jedoch immer deutlicher, dass Care-Arbeit endlich umfassend in volkswirtschaftliche Kalkulationen einbezogen werden muss, um ein realistisches Bild ökonomischer Verhältnisse zu gewinnen.
Privatjets: Ausbund an Klimaungerechtigkeit
piqer:
Daniela Becker
Bislang gehört der Flugsektor zu den am wenigsten regulierten Transportarten in der EU. Über eine Abgabe auf den Treibstoff Kerosin wird schon lange debattiert – allerdings bislang ohne konkrete Gesetze.
Am Flugverkehr lässt sich besonders gut demonstrieren, warum Klimaschutz auch immer eine Gerechtigkeitsdebatte ist. Eine sehr kleine Minderheit der Weltbevölkerung hat überhaupt jemals ein Flugzeug betreten. Wenn deutsche Urlauber also meinen, „nur einmal im Jahr in Urlaub fliegen“ sei gar nicht so viel, muss man daran erinnern, dass Fliegen an sich schon eine extrem privilegierte Form der Fortbewegung ist.
Noch krasser wird es, wenn man sich die Bilanz der Superreichen ansieht. So war kürzlich beispielsweise Taylor Swift öffentlich in der Kritik, weil sie exzessiv ihren Privatjet nutzt.
Allein der Privatjet der US-Sängerin hat in einem knappen halben Jahr über 700-mal so viel umweltschädliches CO₂ zu verantworten wie ein Durchschnittsdeutscher: Seit Anfang des Jahres soll das Flugzeug insgesamt 170 mal abgehoben sein und dabei 8.293 Tonnen Kohlendioxid produziert haben. Das hat die Marketingfirma „Yard“ in einem Ranking US-amerikanischer Prominenter zusammengefasst, das Taylor Swift anführt.
Bei solchen Zahlen fragt sich der Otto-Normal-Verbraucher zu Recht, warum er/sie überhaupt Energiesparen soll. Umso wichtiger, dass (so wie in Frankreich) nun endlich eine Debatte um konkrete Maßnahmen Fahrt aufgenommen hat.
Sie haben nun eine Debatte um Verschwendung in Zeiten der Klimakrise losgetreten – und die französische Regierung dazu bewogen, die privaten Flüge einschränken zu wollen, etwa durch höhere Steuern. „Wenn wir alle Franzosen und Französinnen auffordern, sparsam zu sein und etwa ihre Heizungs- und Klimaanlagen zu drosseln, müssen die größten und vermögendsten Verschmutzer einen umso größeren Beitrag leisten“, sagte Verkehrsminister Clément Beaune. In der Klimakrise müssten alle ihr Verhalten ändern.