In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Shopify, das zweite Amazon
piqer:
Jannis Brühl
Ein toll geschriebenes Porträt von Ober-Tech-Reporter Brad Stone über ein Unternehmen, das trotz seiner interessanten Geschichte und seiner Allgegenwart im Hintergrund kaum jemand kennt: Shopify, Anbieter von Software-Werkzeugen für Online-Händler – die verkaufen nicht auf einer eigenen Shopify-Plattform, sondern ganz altmodisch über eigene Online-Shops. Das ist der große Unterschied zu Amazon – und die Marktlücke, die Jeff Bezos offengelassen hat.
Ausgenutzt hat diese Lücke der nerdige Deutsche Tobias Lütke. Der 41-jährige Shopify-Gründer und -Chef neigt zu eigenwilligem Philosophieren und ist mittlerweile der zweitreichste Mensch Kanadas. Denn Shopify sitzt – eigentlich – im eiskalten Ottawa. In der Pandemie hat Lütke, der öfter halsbrecherische Ideen hat und sie dann auch umsetzt, kurzerhand das Büro abgeschafft. Jetzt läuft alles remote. Sein Unternehmen profitiert in der Pandemie auch davon, dass viele physische Geschäfte wegen der Einschränkungen plötzlich online verkaufen mussten.
Stone beschreibt ein Geschäftsmodell, das es im Amazon-Plattformzeitalter eigentlich nicht geben sollte, mit einer eigentümlichen Unternehmenskultur, die Lütke vor dem Zeitgeist abzuschirmen versucht – was ihm nur mäßig gelingt.
Shopify ist für Amazon ein Problem, weil es den Händlern digitale Werkzeuge in die Hand gibt, statt sie – wie Amazon – den Kunden und der Plattform vollkommen auszuliefern:
If Amazon’s devotion to customers and an infinite selection earned it the nickname “the everything store,” Shopify, as its new dateline suggests, wants to be the everywhere store.
Nahezu unglaublich klingt da die Geschichte, dass Amazon seinen Webseite-Service für Händler verkaufte – an Shopify:
In late 2015, in one of Bezos’ periodic purges of underachieving businesses, he agreed to close Webstore. Then, in a rare strategic mistake that’s likely to go down in the annals of corporate blunders, Amazon sent its customers to Shopify and proclaimed publicly that the Canadian company was its preferred partner for the Webstore diaspora. In exchange, Shopify agreed to offer Amazon Pay to its merchants and let them easily list their products on Amazon’s marketplace. Shopify also paid Amazon $1 million.
Lütkes Erfolg ist unumstritten, doch was kommt danach? In jedem Fall sollte man diese Shopify-Story gelesen haben, um in Sachen E-Commerce durchzublicken.
IG Metall-Vorsitzender Jörg Hofmann zur Energie- und Verkehrswende
piqer:
Jürgen Klute
Für Gewerkschaften sind Energie- und Verkehrswende eine schwierige Angelegenheit. Sie vertreten die Interessen der Beschäftigten. Sowohl die Energie- als auch die Verkehrswende erfordert massive Umstrukturierungen in den entsprechenden Wirtschaftszweigen. Und die haben weitreichende Auswirkungen auf Arbeitsplätze.
Vor diesem Hintergrund ist das Interview, das Markus Dettmer mit dem IG Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann geführt hat, bemerkenswert. Da das Interview hinter der Paywall liegt, will ich es hier etwas ausführlicher vorstellen.
Hofmann, davon kann man ausgehen, hat das Interview mit dem IG Metall-Vorstand abgestimmt. Der Vorstand dürfte also mehrheitlich hinter den Aussagen von Hofmann stehen. Das heißt zwar nicht, dass alle Mitglieder der IG Metall dem zustimmen, aber dennoch ist mit den Aussagen von Hofmann die klimapolitisch Grundrichtung der IG Metall vorgezeichnet – immerhin ist sie die größte und einflussreichste Industriegewerkschaft der Bundesrepublik und aktiv in den Branchen, die von Energie- und Verkehrswende am stärksten betroffen sind.
In der Vergangenheit waren die großen Industriegewerkschaften oft Bremser einer wirksamen Umweltpolitik und haben nicht selten einen Gegensatz von Sozialem und Ökologie behauptet. Von dieser Position hat die IG Metall sich offensichtlich gelöst. Was dafür sprechen könnte, dass auch die entsprechenden Wirtschaftszweige, in denen die IG Metall vertreten ist, sich auf eine klimapolitische Neuausrichtung einstellen.
Die wichtigsten Punkte, die Hofmann benennt, sind die folgenden:
- Hofmann begrüßt das klimapolitische Programm von Wirtschafts- und Klimaminister Robert Harbeck als notwendigen Modernisierungsimpuls für die bundesrepublikanische Wirtschaft, die ohne diesen Anstoß für Hofmann zu einer „Bad Bank alter Technologien“ würde.
- Hofmann spricht sich ohne jede Relativierung gegen eine Renaissance der Atomenergie aus.
- Selbstverständlich verliert Hofmann nicht die Ängste und Interessen der Beschäftigten aus den Augen. Er fordert ebenso klar, dass der Umbau der Wirtschaft mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten begleitet und sozial abgefederte wird, um den Beschäftigten in den alten Industrien einen Zugang zu neuen auskömmlichen Arbeitsplätzen zu ermöglichen und zu sichern. Und erfordert die Beteiligung von Gewerkschaften und Beschäftigten am Umbauprozess.
Im letzten Jahr hat die Klimabewegung das Gespräch mit den Gewerkschaften gesucht (siehe hier). Offensichtlich waren die Bemühungen der Klimabewegung, die Gewerkschaften von der Notwendigkeit einer ambitionierten Klimapolitik zu überzeugen, erfolgreich.
Deshalb ist dieses Interview aus meiner Sicht ein klimapolitischer Meilenstein.
Der tägliche Begriffspopulismus – von Kapitalismus bis Neoliberal
piqer:
Thomas Wahl
Jürgen Kaube greift ein Thema auf, das mich auch bewegt – der häufige Gebrauch von wenigen, meist einfach vernetzten politischen Kampfbegriffen zur Erklärung von Wirtschaft und Gesellschaft in unseren Medien, aber auch in täglichen Diskussionen. Was natürlich nicht die Welt erklärt, sondern eher die Weltsicht der Schreibenden oder der Diskutanten. Ein Merkmal dieser Begriffe, die wir heute zur Beschreibung unserer Gesellschaft bevorzugen:
Sie stammen oft nicht nur aus vergangenen Zeiten. Es sind auch viele Begriffe darunter, die einst mehr als politische Waffe denn als wissenschaftliches Instrument eingesetzt wurden. Nehmen wir “Technokratie” und folgen wir dem angloamerikanischen Wirtschaftshistoriker Harold James aus Princeton, der gerade ein gedankenanregendes “Glossar der Globalisierung” vorgelegt hat.
Darin wird die Geschichte und der aktuelle Gebrauch zentraler politischer Kampfbegriffe analysiert. Der Technokratie-Begriff hat darin einen konkreten Erfinder,
den amerikanischen Ingenieur William H. Smyth. In einem 1919 publizierten Aufsatz forderte er eine Befreiung der Wirtschaftspolitik aus demokratischen Fesseln. Denn Demokratie, so der Ingenieur, führe doch nur zur Herrschaft der “unintelligenten” Mehrheit. Demgegenüber sollte allein auf der Grundlage von technischer und wissenschaftlicher Erkenntnis entschieden werden, was gut für die Nation sei. Smyth hielt offenbar, wie immer noch viele, die Wissenschaft für eine Angelegenheit, die stets zu eindeutigen Empfehlungen führt.
Das war auch eine Idee, die aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges entstand. Kriege vereinfachen scheinbar die Gesellschaften. Sie erscheinen einfach steuer- und planbar. So wurde im Zweiten Weltkrieg der Begriff “Big Science” geboren,
um den engen Kontakt zwischen Forschung und politischer Planung zu beschreiben. Harold James notiert, in den Jahren 1944 und 1945 sei das Budget des “Manhattan Project”, das die Atombombe hervorbrachte, größer gewesen als das des Verteidigungsministeriums. Gleichzeitig stiegen Disziplinen wie Ökonomie und Soziologie auf. 1945 wählte der Philosoph Karl Popper für seinen Vorschlag, an die Stelle großer Ideale als Taktgeber der Politik nun schrittweise und begrenzte Reformen zu setzen, den Begriff “social engineering”.
Hier haben wir eine weitere Eigenschaft vieler dieser scheinbar klar analytischen Begriffe, die verwendet werden, um unsere Gesellschaft zu beschreiben. Sie können und werden normativ gesetzt, mit positiver oder negativer Konnotation. Wenn das Wort erklingt, weiß eigentlich jeder, worauf das zielt. Und jeder glaubt, damit die Gesellschaft verstanden zu haben. Man kann vermuten, diese Begriffe werden erfunden, um einen “Krieg der Worte” zu führen. Der „Kalte Krieg“ läßt grüßen.
Niemand würde sich heute selbst als Technokraten titulieren. Oder nehmen wir das Wort „Populismus“.
Bei James folgt auf das Kapitel über Technokratie insofern schlüssig das über die entgegengesetzte Illusion: Populismus. Die Ersten, die sich Populisten nannten, waren amerikanische Bauern, die gegen die Ostküste und die Industriegesellschaft protestierten. Hier wird ein Begriff von Demokratie gegen die Technokratie aufgeboten, der sich aus den Träumen einer umfassenden politischen Beteiligung aller an allem nährt sowie an der Vorstellung einer Willensübertragung zwischen Regierten und Regierenden.
Wer will heute schon ein Populist sein? Auch der Begriff “Neoliberalismus” zeigt nach James klar wie ungeeignet einfache „farbige“ Begriffe zur Charakterisierung komplexer Gesellschaften sind. Heute haben alle, denen man eine Schuld an den wirtschaftlichen und sozialen Problemen der Welt gibt einen Namen – Neoliberale. Einfach und klar – aber sicher falsch.
Die Konsumenten und Wähler wiederum, die sowohl am Klimawandel wie an den Finanzkrisen ihren Anteil haben, werden nie als neoliberal angeklagt. Im Krieg der Worte spielen, wie in jedem, Wahrheiten nur eine untergeordnete Rolle.
Wähler können nicht schuldig sein? Was natürlich ein schräges Bild auf die Demokratie wirft. Zwar soll das Volk der Souverän sein. Als unser grundlegendes demokratisches Prinzip gilt, das im Staat die oberste Gewalt (= Souveränität) vom Volk ausgeht. Das ist im Grundgesetz verankert [Art. 20 GG] und wird durch Wahlen realisiert, in denen das Volk direkt oder indirekt seine Regierung, seine Gesetzgeber und seine Richter selbst bestimmt. Aber was ist das für eine Demokratie, in der der Souverän nur als ein unschuldiger, gar geistig beschränkter (?) und von den Neoliberalen manipulierter Akteur gesehen wird?
Was „Eigenverantwortung“ wirklich bedeutet
piqer:
Theresa Bäuerlein
Das sprach- und medienkritischen Netzprojekt Floskelwolke hat den Begriff „“Eigenverantwortung“ zur Floskel des Jahres 2021 gekürt.
Ein „legitimer Begriff von hoher gesellschaftlicher Bedeutung“, meinen die Sprachkritiker, werde ausgehöhlt und ende „als Schlagwort von politisch Verantwortlichen, die der Pandemie inkonsequent entgegenwirken“. „Eigenverantwortung“ sei fehlgedeutet worden „als Synonym für soziale Verantwortung und gekapert von Impfgegnerinnen und Impfgegnern als Rechtfertigung für Egoismus“.
In diesem Essay erklären zwei Professor:innen für Philosophie und Wirtschaftsethik, warum die Sprachkritiker:innen damit ins Schwarze treffen. Und warum das auch über die Pandemie hinaus relevant ist. Sie beschreiben, was Eigenverantwortung mit Blick auf die Klassiker des Liberalismus eigentlich bedeutet und warum ausgerechnet liberale Kreise dafür verantwortlich sind, dass dieser Begriff in der Pandemie umgedeutet und zum Kampfbegriff geworden ist – was fundamentale Systemgegner:innen der Neuen Rechten, manche Anthroposoph:innen und religiöse Fundamentalest:innen dankbar mitnehmen.
„Freiheit ist kein Freibrief“, um einen der Väter des Liberalismus, John Locke, zu zitieren. Freiheit hingegen als Lizenz zur Verantwortungslosigkeit: Dieses Missverständnis bringt die Verwendung von „Eigenverantwortung“ während der Pandemie auf den Punkt. Es wird nicht mit der Pandemie enden: Der von Egoisten und Ideologen geführte Kampf gegen wahre Eigenverantwortung unter der Flagge eines von der Verantwortung entkernten unsinnigen Scheinbegriffs der Eigenverantwortung kann sich auch weiterhin durch alle Debatten ziehen – vom Klimawandel über die Migration, Fleischkonsum und Tierschutz bis hin zum Wohlfahrtsstaat als solchem. Ohne einen substanziellen Begriff von Eigenverantwortung, der den Scheingegensatz zwischen Solidarität und Freiheit auflöst, wird es uns kaum gelingen, anhaltenden wie künftigen Herausforderungen zu begegnen.
Besser als jeder Vermögensverwalter: Der US-Kongress
piqer:
Rico Grimm
Eine famose kleine Seite ist „Unusual Whales“, weil sie zeigt, wie US-Politiker mit Aktien handeln. Die Macher dahinter werten die Offenlegungen aus, zu denen diese Politiker verpflichtet sind.
Es zeigt sich: US-Parlamentarier könnten auch an der Wall Street arbeiten, so gut handeln sie. Da ist etwa ein Abgeordneter, dem es gelang, bei der Cannabis-Firma Tilray erst genau den Boden im Kurs zu kaufen und dann das Hoch zu verkaufen. 560% Plus in ein paar Wochen. Dass dieser Abgeordnete auch in dem Ausschuss sitzt, der für die Cannabis-Legalisierung zuständig ist? Wahrscheinlich nicht so wichtig …
Oder nehmen wir Nancy Pelosi, Anführerin der US-Demokraten, die als beste Traderin Washingtons gilt. Mit ihrem Portfolio schlägt sie den US-Aktienindex S&P 500 um Längen.
Auf TikTok gibt es folgerichtig schon Menschen, die einfach die Aktienkäufe der US-Parlamentarier kopieren wollen; und wir anderen können uns wahrscheinlich nur eine Frage stellen: Warum zur Hölle dürfen Parlamentarier überhaupt mit Aktien handeln?
PS: Eine ähnliche Übersicht für Deutschland wäre unmöglich. Parlamentarier müssen keine Auskunft darüber geben, welche Aktien sie kaufen und verkaufen.
Geschichte des Neoliberalimus: Vom Staat als Schiedsrichter
piqer:
Dirk Liesemer
Vom Neoliberalismus hat man in letzter Zeit nicht mehr ganz so viel gehört. Anders jedenfalls als noch vor der Weltwirtschaftskrise 2008. Bis dahin stand er bei einigen Regierungen hoch im Kurs. Heute handelt es sich, wie zu Beginn dieses einstündigen Features betont wird, um einen Kampfbegriff. Gleichwohl ist unsere Welt weiterhin durch neoliberale Gesetze geprägt. So schnell erledigen sich die Dinge ja nicht.
In diesem Feature wird erzählt, wie der Neoliberalismus in die Welt kam: als eine wirtschaftstheoretische Denkschule, die in den 1930er-Jahren die Demokratien fit für den Kampf gegen totalitäre Systeme machen wollte. Dabei ging es aber nicht um einen Laissez-faire-Kapitalismus, wie von Gegnern zuweilen behauptet wird, sondern um eine Ordnungspolitik, die einen fairen, geregelten Wettbewerb ermöglicht, wie auch immer dieser konkret aussehen mochte. Zudem waren sich die ersten neoliberalen Theoretiker in vielem keineswegs einig. Gestritten wurde etwa über die nicht unwichtige Frage, ob es ein Versicherungswesen braucht. So weit gingen einzelne Konzepte auseinander, dass manche gar von zwei Neoliberalismen sprechen.
Erst in den 1970er-Jahren schwang sich der Neoliberalismus zu einer totalitären Ideologie auf, die alle Lebensbereiche unterwerfen wollte. Zum Experimentierfeld der Chicago Boys wurde ab 1973 Chile, bald auch Argentinien, ehe einige Jahre später, 1979, Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in England als Staatsoberhäupter gewählt wurden. Nun ließen sich die Konzepte auch im Westen erproben. Und die Zeit war günstig, weil beide Länder in wirtschaftlichen Problemen steckten.
Das Feature verdeutlicht, wie lange es dauern kann, was alles geschehen muss und welche Netzwerke gesponnen werden, bis eine Theorie in der Wirklichkeit ausprobiert wird. Drei Jahrzehnte lang währte der Siegeszug des Neoliberalismus, ehe sich seine Konzepte so weit entfaltet und die Spekulationen sich so weit aufgebläht hatten, dass eine Weltfinanzkrise fast alles verschlungen hätte. Seine Hinterlassenschaften lassen sich noch betrachten, weniger in Europa als in Afrika und Südamerika: von hohen Staatsverschuldungen bis zu kaputten Märkten – wobei Neoliberale zurückweisen, dass dies Folgen ihrer Theorie sind.
Tim Harford über journalistisches Storytelling zu Zahlen und Daten
piqer:
Alexander Matzkeit
Hier kommen zwei Leute zusammen, denen es sich zuzuhören lohnt. Host Cardiff Garcia stammt aus dem Team des Wirtschafts-Podcasts Planet Money und Gast Tim Harford ist Ökonom, Bestseller-Autor (The Undercover Economist) und selbst Host zweier Podcasts. In More or Less spricht er über Statistiken und in Cautionary Tales. erklärt er verschiedene menschliche Schwächen im Umgang mit Informationen und Daten anhand von historischen Ereignissen.
Über die Kunst, abstrakte Informationen in gute Geschichten zu verpacken, spricht Harford im Interview. Wie immer pflegt er dabei sein britisches Understatement und seine grundsätzliche Überzeugung, dass Menschen eher naiv sind, was Zahlen angeht und nur selten geplant Falschinformationen verbreiten. Er erklärt, warum Statistiken trotz ihres schlechten Leumunds wichtig sind, um Sachverhalte zu erfassen und welche Regeln er bei der Recherche und beim Schreiben verfolgt, um nicht selbst in die größte aller Storytelling-Fallen zu tappen: Geschichten (vor allem durch Weglassen von Informationen) so zu verbiegen, dass sie einem als Exempel gut in den Kram passen, obwohl eigentlich mehr dahinter steckt.
Wer nach dem Gespräch Lust auf mehr Tim Harford hat, dem sei Cautionary Tales ausdrücklich empfohlen. Insbesondere die erste Staffel, in der es darum geht, wie schlecht wir darin sind, neue Informationen in unser gewohntes oder geplantes einzubeziehen, hat mir gut gefallen und lässt sich auch gut auf die aktuelle Pandemie-Situation übertragen. Wer lieber etwas Bezug zu Deutschland möchte, für den gibt es auch eine Folge zu Georg Traxlers Hänsel-und-Gretel-Satire.
2021 nur sechstwärmstes Jahr seit 1850 …
piqer:
Dominik Lenné
… und wohl der letzten paar Tausend Jahre.
Die gepiqde Webseite ist der „Global Temperature Report“ von Berkeley Earth, einem unabhängigen Nonprofit in, nun ja, Berkeley, der Klimadaten zusammenstellt.
Dass die Erdatmosphäre nicht wärmer war als in den vergangenen 5 Jahren, ist nicht ungewöhnlich und bedeutet insbesondere nicht, dass es nicht an vielen Orten Temperaturrekorde gegeben hätte. Diese kann man auf einer eigenen Karte besichtigen. Es macht anschaulich, wie die Erwärmung mit den Wetterlagen räumlich und zeitlich fluktuiert.
Interessant ist weiter die getrennte Darstellung der Entwicklung
- des globalen Mittels (+1,2 °C)
- des Mittels über der Landfläche (+1,7 °C)
- über dem Ozean (+0,8 °C)
- über der Arktis (Alles über 65 °Nord, +2,0 °C, ungewöhnlich niedrig, sonst eher um +2,5 °C)
Die Globaltemperatur steigt seit ca. 1980 linear mit 0,19 °C je Dekade. Wenn das so weitergeht, landen wir also im Jahr 2100 bei + 2,8 °C. Beschleunigungen durch verstärkende Rückkoppelungen oder Bremsungen durch Emissionsstopp tauchen bei dieser Extrapolation natürlich nicht auf.
Auch auf den momentanen Zustand der ENSO (El Niño Southern Oscillation) wird eingegangen. Dies ist jene periodische Änderung des Strömungsmusters im Südpazifik, der die globale Mitteltemperatur um einige Zehntelgrad nach oben oder unten verändern kann. Sie ist im Moment im La-Niña-Zustand, d.h. kaltes Tiefenwasser steigt an der südamerikanischen Ostküste auf und strömt westwärts. Dadurch nimmt der Südpazifik viel Wärme aus der Atmosphäre auf.
Die Vorhersagespanne für 2022 ist ein wenig höher zentriert als die 2021-Temperatur, wegen des anhaltenden La-Niña jedoch nicht viel. Der kürzliche Ausbruch des Hunga Tonga-Hunga Ha’apai (diesen Namen voll auszuschreiben konnte ich mir nicht entgehen lassen) dürfte die Erderwärmung wegen der ausgestoßenen Partikel weiter bremsen – um wie viel ist noch unklar, aber wohl deutlich weniger als nach der Pinatubo-Eruption 1991.
Klar ist jedoch, dass ENSO uns nur eine kurze Atempause verschafft und ab 2023 wieder ein deutlicherer Temperatursprung wahrscheinlich erscheint.
Eine weitere interessante Grafik möchte ich noch verlinken: der Wärmeinhalt der Ozeane, die ja bekanntlich 90 % der von der Erde behaltenen Energie aufnehmen, steigt seit ungefähr 1995 linear an.
PS: Auf carbonbrief.org gibt es eine ähnliche Zusammenstellung, teils mit denselben Grafiken, aber noch weiteren Infos: Stratosphärentemperatur (nimmt ab, wie es sein muss bei Treibhausgasantrieb der Erwärmung), Meeresspiegel (nimmt zu mit ca. 3,5 cm/Dekade), Eismasse der Gletscher (nimmt ab), Konzentrationen von CO2, Methan und Stickoxiden (nehmen zu), Flächen des polaren schwimmenden Eises (Arktis: abnehmend, Antarktis: unklar).
Über die Geschichte der prekären Arbeit
piqer:
Michaela Maria Müller
Das Thema der Denkfabrik des Deutschlandradios 2022 ist „Von der Hand in den Mund – wenn Arbeit kaum zum Leben reicht“. Bereits jetzt, im Januar, sind eine Reihe interessanter Beiträge, Reportagen und Interviews erschienen, unter anderem mit der Einzelhandelskauffrau Maurike Maaßen (die unbedingt in die Politik gehen sollte, wie sie am Ende des Gesprächs überlegt), der Jungbäuerin Svenja Menssen oder der Reinigungskraft Susanne Holtkotte.
In diesem Gespräch, das Catherine Newmark mit der Soziologin Nicole Mayer-Ahuja führt, geht es um die historische Dimension der Lohnarbeit bis hin zu der Entwicklung, dass fast ein Viertel der Beschäftigten in Deutschland inzwischen im Niedriglohnsektor arbeitet. Dieser wurde seit den 1980er-Jahren in Westdeutschland immer weiter ausgebaut, nachdem klar geworden war, dass das Wirtschaftswachstum sich abgekühlt hatte. Es wurde einer unternehmerfreundlichen Politik Vorschub geleistet, die mit Leih- und Teilzeitarbeit und Minijobs flexible Arbeitsverhältnisse möglich machte. Eine gesetzliche Grundlage bekam es etwa mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz, das auf Liberalisierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes ausgelegt war. Das Versprechen für die Arbeitnehmer:innen war, dass ein Minijob eine Einstiegsmöglichkeit für eine feste, sozialversicherungspflichtige Stelle sein könnte, sozusagen eine Brückenfunktion, die sich bis heute nur selten bewahrheitet hat.
Nicole Mayer-Ahuja geht aber in dem Gespräch noch weiter zurück, wenn sie beschreibt, wie es zu der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung kam, die etwa in bäuerlichen Haushalten nicht oder nur kaum üblich war. Während des Zeitfensters der westdeutschen Wirtschaftswunderjahre war es möglich geworden, dass die Frau eines Arbeiters nicht arbeiten gehen musste und daran wurde nun ein Status geknüpft: Der Mann verdient das Geld, die Frau einen Zuverdienst, doch ihre eigentliche Rolle ist die der Hausfrau und Mutter. Diese Idee, Mayer-Ahuja nennt sie „ideologische Idee“, hat dazu geführt, dass in der Arbeitswelt Jobs entstanden sind, die nur in Teilzeit oder als Minijobs angeboten werden – kurz gesagt Arbeitsverhältnisse, die nicht mehr existenzsichernd sind. Argumentiert wurde dabei, dass Frauen solche Erwerbsgelegenheiten wollten. Heute wird deutlich, dass der Niedriglohnsektor zu groß geworden ist, und viele Erwerbstätige sogar mehrere Teilzeit- oder Minijobs annehmen müssen, um über die Runden zu kommen.