Fremde Federn

Wirtschaft ohne Feuer, fossile Subventionen, Atomkraftwerke

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie AI-Systeme bereits heute den Arbeitsmarkt unter Druck setzen, warum Putin an Russlands Modernisierung scheiterte und wieso Atomenergie (langfristig) eher zu den teuersten Energiearten zu zählen ist.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Volk und Wirtschaft ohne Feuer?

piqer:
Thomas Wahl

Die Menschwerdung und die Entwicklung der Menschheit sind wohl ebenso an die Beherrschung des Feuers wie an den Wandel des Klimas gebunden. Insofern ist der Abschied von der fossilen Energie des Feuers ein zivilisatorischer Menschheitsschritt. Auch der menschengemachte Klimawandel zwingt uns (wie schon unsere Urahnen) zu technischen und sozialen Innovationen. Er erfordert, wie Jens Soentgen im Merkur schreibt,

ein Projekt von menschheitsgeschichtlicher Dimension, weil ein seit rund einer Million Jahre bestehender Pakt aufgelöst werden soll.

Man kann das durchaus in einer Theorie der Zivilisation denken. Ähnlich wie es Norbert Elias im Prozess der Zivilisation um die Erlangung von Kontrolle unwillkürlicher Gefühle oder Leidenschaften (Zorn, Wut, Angst oder Scham) ging, also „um den Zusammenhang von Soziogenese und Psychogenese“, ging es beim Feuer um die gemeinschaftliche Kontrolle eines bedrohlichen Naturphänomens mit langfristig enormen Nutzungspotenzial. Soentgen bezieht sich dabei auf das Buch von Johan Goudsblom „Feuer und Zivilisation“, der die Domestizierung des Feuers als Zivilisationsprozess beschreibt. Er formuliert das so:

Zu lernen, wie man Feuer kontrolliert, war und ist eine Form der Zivilisation. Weil Menschen das Feuer gezähmt und es zu einem Teil ihrer eigenen Gesellschaften gemacht haben, sind diese Gesellschaften komplexer und die Menschen selbst zivilisierter geworden.

Zivilisation beginnt in dem Sinne nicht erst mit dem Übergang zur Landwirtschaft in der neolithischen Revolution. Diese setzte bereits die Kontrolle des Feuers voraus:

Denn diese Landwirtschaft beruhte auf Brandwirtschaft, also auf der Fähigkeit, durch das Feuer bestimmte Gelände von ihrer Vegetation zu befreien und für den Ackerbau tauglich, nämlich urbar zu machen. Von dem Moment an, in dem menschliche Gruppen das Feuer nutzten, bemühten sie sich zugleich darum, das spontane Feuer, das etwa durch Blitzschlag entsteht, und das übergriffige Feuer, das vom Herd aus die Hütte entflammt, unter Kontrolle zu bringen. All das erfordert Disziplin und Arbeitsteilung.

Das deutet schon an, wie tief die Beherrschung des Feuers in die Entwicklung der Menschheit eingebunden ist. Ich will hier gar nicht konkreter auf die spannenden historischen Schilderungen des Artikels eingehen. Das sollte man unbedingt selbst lesen. Aber kommen wir zur Gegenwart.

Die Frage, wie viele Feuer eigentlich weltweit brennen, lässt sich schon deshalb nicht beantworten, weil die meisten Brände im Verborgenen vor sich gehen, in Industrieanlagen, in Motoren, Gasturbinen oder auch in Heizungsboilern. Dennoch lässt sich die Größenordnung statistisch erstaunlich exakt bestimmen, und das über lange Zeiträume. Denn wo immer Wälder (beziehungsweise Biomasse) abgebrannt, wo Torf, Kohle, Erdgas, Erdöl oder Müll verfeuert werden, entsteht, neben Rauch (Feinstaub) und Wasserdampf, die beide rasch aus der Atmosphäre verschwinden, Kohlendioxid.

Der Autor nennt Kohlendioxyd eindrücklich „die eigentliche, abstrakte Asche aller Feuer“, mit den bekannten dramatischen Folgen für das Klima. Und so verbreitet sich in den westlichen Gesellschaften das Leitbild der „klimaneutralen“ Gesellschaft mit einer „dekarbonisierten, emissionsfreien Wirtschaft“. Es stimmt, diese Gesellschaft muss den Pakt mit dem Feuer auflösen, kohlenstoffbasierte Verbrennungsprozesse drastisch zurückdrängen. Der Artikel warnt aber davor zu glauben, dass eine solche Gesellschaft sich durch friedliche, sozial gerechte Transformation innerhalb weniger Jahrzehnte global einrichten lasse. Solche idealen Zukunftsprojektionen seien Utopien in wissenschaftlichem Gewand.

Nicht so sehr deswegen,

weil sie einen politischen und gesellschaftlichen Zielzustand imaginieren, dessen Verwirklichung sehr unwahrscheinlich ist (auch im Jahr 2021 stammten mehr als 80 Prozent der weltweit erzeugten Energie aus Verbrennungsprozessen; nahezu alles, womit wir hantieren, worauf wir blicken, ist gekocht, gebacken, destilliert, erschmolzen, von den Seiten der Zeitschriften und Bücher und ihrer Druckerschwärze bis hin zu Häusern, Straßen, Fabriken, Fahrrädern, Elektroautos, Flugzeugen, Raumfähren und Raumstationen), sondern vor allem deshalb, weil hier eine Welt versprochen wird, in der mit der Beseitigung eines Kernübels auch alle anderen verschwinden und außerdem für das bewahrenswerte Gute kein Schaden entsteht.

Weltweit initiiert der geplante Ausstieg aus Verbrennungsprozessen und das Wachstum der erneuerbaren Energien dramatische Konflikte aufgrund unterschiedlicher ökonomischer oder sicherheitspolitischer Interessen (auch der Ukrainekonflikt hat u. a. einen solchen Hintergrund). Wie man am Beispiel der Wasserkraft zeigen kann, kommt es auch zu innerökologischen Konflikten, z. B. zwischen Klimaschutz und Biodiversität.

Wer sich nur mit dem Wünschenswerten befasst, verliert das Gefühl für das Wahrscheinliche und versäumt, sich darauf einzustellen. Wahrscheinlich aber ist, dass die weltweiten Emissionen in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren nicht drastisch sinken werden, sondern sich vielmehr auf dem erreichten hohen Niveau stabilisieren, trotz des gleichzeitigen weltweiten Ausbaus erneuerbarer Energien. Und das bedeutet, dass das in Paris vereinbarte 1,5-Grad-Ziel verfehlt werden wird; der Klimawandel wird sich weiter entfalten.

Schauen wir nur auf die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung (2010):

.. rund drei Milliarden Menschen, kocht mit Pflanzenresten, Dung, Holzkohle – und vor allem Holz. Es ist ein ökonomischer und ökologischer Teufelskreis: Für Feuerholz werden Wälder gerodet, wodurch die Erosion zunimmt. Der Regen schwämmt fruchtbaren Boden von den Feldern, die Ernten gehen zurück. Und es wird trockener, weil sich das regionale Klima ohne den Wald verändert. Wer traditionell kocht, verliert außerdem beim Holzsammeln wertvolle Arbeitszeit – auch das trägt zur Armut bei. Darüber hinaus schaden Holzfeuer dem Klima: Sie verursachen 17 Prozent des globalen CO2-Ausstoßes.

Dieses Problem der Armut, der Unterernährung und der Entwaldung ganzer Regionen lässt sich mit unserer Energiewende nicht so schnell wie gewünscht lösen, es verschwindet nicht mit unseren Windrädern und ist schon gar nicht sozial gerecht.

Der Autor kommt daher zu einem aus meiner Sicht realistischerem Zukunfts-Szenario:

Das Ideal der modernen, feuerlosen Gesellschaft wird in kleineren, abgeschotteten Zonen, die ihren Feuerbedarf auslagern, durchaus realisiert werden. Denn in vielen Städten Europas wird sich der Rückzug der Öfen und Essen und der Verbrennungsmotoren fortsetzen. …… Die Feuerlandkarte der Zukunft wird also flackern und fleckig sein; und zwar auf verschiedenen Maßstabsebenen, auch global wird es eher feuerarme und extrem feuerreiche Regionen geben. Schon jetzt werden ja feuerintensive Produktionen (etwa von Stahl und anderen Metallen, die zum Beispiel für Elektromobilität notwendig sind) zunehmend in Ostasien, Südasien und Südostasien erledigt.

Wir sollten uns daher auf eine inhomogene „patchy high fire world“ einstellen. Wir müssen lernen, damit umzugehen und müssen daher wohl auch lieb gewordene Überzeugungen revidieren:

Solange das Leitbild eines kurz bevorstehenden globalen Abschieds vom Feuer den intellektuellen Diskurs beherrscht, ist der gesellschaftliche Lernprozess, der zu einem neuen, besonneneren Umgang mit dem Feuer führen könnte, nicht einmal in Gang gekommen.

Ich würde es nicht so absolut formulieren. Allerdings sehe ich auch: Unser Diskurs um die Antwort auf den Klimawandel ist noch weit weg von der Realität.

Teure Subventionierung der fossilen Energieproduktion

piqer:
Jürgen Klute

Einer meiner letzten piqs – Klimapolitik in Deutschland gescheitert? – hatte eine etwas umfassendere Debatte ausgelöst. Unter anderem ging es um die Frage der Kosten der fossilen und der nicht-fossilen Energieproduktion.

Eher zufällig bin ich dann gestern auf diesen Beitrag von Alicia Prager im Wiener Standard gestoßen. Die Autorin stellt in ihrem Beitrag einen Bericht der Organisation Climate Action Network Europe über die Entwicklung der Subventionen in die fossile Energieproduktion in der EU in den letzten Jahren dar. Demnach sind die Subventionen zugunsten der fossilen Energieproduktion deutlich höher als die Subventionen zum Ausbau erneuerbarer Energien. Zudem, so heißt es in dem Artikel, bremsen die Subventionen der Fossilien Energieproduktion den Ausbau der erneuerbaren Energie auch noch aus.

Vielleicht tragen dieser Artikel und vor allem der Bericht, auf den er sich bezieht, ein bisschen zur Aufklärung über die Kosten von fossiler und erneuerbarer Energieproduktion bei. Wen es interessiert: Die staatlichen Beihilfen allein für den deutschen Steinkohlebergbau belaufen sich für den Zeitraum von 1967 bis 1997 auf 72,478 Milliarden DM und von 1998 bis 2017 noch einmal auf 41,606 Milliarden Euro. Das sind allerdings nur die direkten Beihilfen. Die indirekten Leistungen (Steuervergünstigungen, Kohlepfennig, etc.) sind da noch nicht berücksichtigt. Diese Zahlen sind den Subventionsberichten der Bundesregierung entnommen. Ich habe sie für die 2019 veröffentlichte Studie „Strukturwandel und Industriepolitik im Ruhrgebiet – Ein historischer Überblick“ für die Rosa Luxemburg Stiftung zusammen gestellt. Die Zahlen finden sich auf den Seiten 18 bis 24 (dort sind auch noch Angaben zu den indirekten Leistungen gemacht, die allerdings schwieriger zu beziffern sind als die direkten Beihilfen). Die Förderung regenerierbarer Energien bleibt bisher deutlich hinter diesen Subventionen zurück. Noch nicht berücksichtigt ist hier die Subventionierung atomarer Energieproduktion, einer weiteren Konkurrentin der erneuerbaren Energien. Das sei hier nur angemerkt, um das Bild etwas zu vervollständigen.

Wo Putin auch versagte – die gescheiterte Modernisierung Russlands

piqer:
Thomas Wahl

Es gibt verschiedene Interpretationen der sowjetischen und der postsowjetischen Geschichte. Fakt scheint mir, Gorbatschow hat durch seine Reformen „Glasnost und Perestroika“ den Niedergang der UdSSR nicht aufhalten können. Die beabsichtigte soziale und ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft scheiterte, die erzwungene Staatenunion löste sich auf. Russland geriet in eine schwere Wirtschaftskrise, während der sich das Bruttosozialprodukt halbierte. Misswirtschaft, Korruption, Verarmung und sinkende Ölpreise führten das Land in eine Katastrophe. Dann – so eine verbreitete Erzählung – erschien Putin als nationaler Retter, der Russland wieder groß machte.

Noah Smith zeigt nun mit vielen Statistiken, dass diese Revitalisierung eher eine Folge der steigenden Ölpreise als das Ergebnis einer grundsätzlichen Modernisierung war. Brutal gesagt: Die 20 Jahre unter Putin waren nur ein Zwischenhoch auf dem Weg des postsowjetischen Zusammenbruchs. Eine Chance wurde vertan.

Richtig ist, kurz bevor Putin 2000 die Macht übernahm, begann Russlands Pro-Kopf-BIP seinen Tiefstand aus dem Zusammenbruch zu überwinden. Dieses Wachstum lief ziemlich parallel zu den Ölpreisen am Weltmarkt, die etwa 1998 zu steigen begannen, 2008 ihren Höhepunkt erreichten und 2013/14 dann einbrachen. Damit endeten auch der steile Anstieg des BIP in Russland – sowie Putins glorreiche Jahre.

Aber, so Smith:

auch Putins Wirtschaftsmanagement spielte eine Schlüsselrolle. Die Öffnung der Wirtschaft für den Handel, anstatt darauf zu bestehen, alles im Inland zu tun, ermöglichte es Russland, sich auf das zu spezialisieren, was es gut konnte (d.h. Öl und Gas zu fördern). Und es erlaubte der Zentralbank, Devisen anzuhäufen. Die Devisenreserven schützten Russland vor Zahlungsbilanzkrisen in mehreren Krisen – der Großen Rezession, den Sanktionen nach 2014 und den Sanktionen von 2022. Unter Putin stabilisierte sich auch die russische Gesellschaft vom Chaos der 1990er Jahre. Von 2003 bis 2019 gab es einen Rückgang des Alkoholkonsums um 43%, was teilweise auf Putins Politik zurückzuführen ist, das Trinken zu verhindern. Die spektakulär hohe Mordrate des Landes fiel auf ein ziemlich niedriges Niveau.

Die Lebenserwartung übertraf das sowjetische Niveau, bevor Covid sie dann wieder fallen ließ. Russlands, damals gegenüber anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion relativ starke Wirtschaft generierte einen Zustrom von Einwanderern. Kombiniert mit einer niedrigeren Sterblichkeitsrate führte dies dazu, dass die russische Bevölkerung (die in den 1990er und 2000er Jahren zurückgegangen war) in den 2010er Jahren um etwa zwei Millionen wuchs.

Mit anderen Worten, Putin leitete eine echte, wenn auch bescheidene Wiederbelebung der russischen Wirtschaft ein. Selbst wenn ein Teil dieser Wiederbelebung auch auf Glück beruhte, waren erhebliche Teile davon auf Putins Führung und politischen Scharfsinn zurückzuführen.

Aber bei kritischerer Analyse zeigen sich die Schattenseiten:

  • Der Bevölkerungszuwachs blieb gering und vorübergehend. Er kam zudem aus Ländern mit schnell schrumpfenden, alternden Bevölkerungen.
  • Russlands Fruchtbarkeitsrate erlebte zwar während Putins „Glory Days“ einen leichten Anstieg, erreichte aber nie wieder das Niveau der Sowjetzeit.

Ein umsichtiges makroökonomisches Management mag Russland davor bewahrt haben, als Reaktion auf die Sanktionen nach 2014 zusammenzubrechen, aber der Lebensstandard hörte auf zu steigen. Russland, das viel reicher war als Polen, Rumänien oder das Baltikum, als die UdSSR zusammenbrach, hinkt diesen Ländern jetzt deutlich hinterher.

Was eine ziemliche Umkehrung der Entwicklung ist und ganz und gar nicht Putins Ambitionen oder den Erwartungen der Russen entspricht. Eher im Gegenteil ist es eine Gefahr für die Herrschaft des Präsidenten, zeigt sich doch das Potenzial des europäischen Weges.

Dramatisch auch die Ungleichheit der Einkommen (vor Steuern).

Die russische Ungleichheit stieg nach dem Fall der UdSSR massiv an und fiel auch unter Putin nicht wirklich (bis vor kurzem, als reiche Russen von Sanktionen getroffen wurden). So ging das Einkommen der mittleren Russen zwischen 1989 und 2016 tatsächlich sehr leicht zurück, während die armen Russen noch ärmer wurden. Fast das gesamte Wachstum Russlands unter Putin entfällt auf die wohlhabendsten 10% des Landes

Wie Noah Smith richtig bemerkt, ist Putin wirtschaftlich einfach der Logik des komparativen Vorteils gefolgt. Das heißt hart formuliert, Russland ist weitgehend ein Petrostaat, ein Rohstofflieferant geblieben (oder geworden) und hat sich noch mehr auf importierte Technologien verlassen. Was in guten Zeiten funktioniert, das kann langfristig in die Stagnation führen:

Die Ölpreise können nicht ewig steigen, und Petrostaaten sind bekannt für langsames langfristiges Wachstum. Russlands Abhängigkeit von westlichen Maschinen für die Öl- und Gasförderung wird dem Land langfristig auch noch mehr schaden, es sei denn, es wird Ersatz aus China kommen.

Das Fehlen eigener technologischer Fähigkeiten zeigt sich auch im Krieg gegen die Ukraine. Russlands Rüstungsindustrie stützt sich offensichtlich weitgehend auf importierte westliche Computerchips. Auch die Maschinen, die Russland zur Produktion militärischer und ziviler Güter braucht, kommen bisher aus dem Westen. Auch die könnte man mittelfristig durch chinesische ersetzen – und gerät wieder in Abhängigkeit. Von einem Land, mit dem es traditionell oft kriegerische Auseinandersetzungen gegeben hat. Das Zarenreich wuchs auch auf Kosten chinesischer Territorien. Was nicht vergessen ist, wie jüngst die NZZ schrieb:

Wenig hilfreich in diesem Zusammenhang erscheinen dabei die von chinesischen Kolumnisten geposteten Beiträge über die Territorialverluste Chinas seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre Phantomschmerzen lindern sie mit einer Litanei über den Raub von anderthalb Millionen Quadratkilometern Staatsgebiet durch das Russische Reich, einschliesslich der heutigen russischen Fernostregion, der Mongolei und einiger Gebiete im heutigen Kirgistan und Kasachstan. Dass derartige Beiträge auch in Zeiten «grenzenloser Freundschaft» zwischen Peking und Moskau unter den wachsamen Augen der chinesischen Internetpolizei veröffentlicht und geteilt werden dürfen, lässt ebenso aufhorchen wie der toponymische Patriotismus einer Ministerialverordnung über die Gestaltung chinesische Karten.

Die technologische Schwäche des neuen Russlands erstreckt sich übrigens nicht nur auf Produkte, in denen schon die Sowjets schlecht waren, wie Computerchips und computergesteuerte Werkzeugmaschinen. Auch Technologien, in denen die Sowjetunion führend war, wie bei der Raumfahrt, fehlt es an Entwicklung und Potenzial. So wurde Russlands Versäumnis, mehr Spionagesatelliten zu starten, zu einem realen militärischen Handicap gegenüber den Ukrainern mit ihren westlichen Verbündeten. Ohne die entsprechende technologische und industrielle Basis ist man keine Supermacht. Insofern stimmte vielleicht das Bild von „Obervolta mit Raketen“, das Helmut Schmidt mal gegenüber der Sowjetunion gebrauchte, oder Obamas Einschätzung von der Regionalmacht – auch wenn es unklug ist, dies öffentlich zu formulieren.

Russlands Entwicklung – so Noah Smith – hält aber auch eine Lektion für die Vereinigten Staaten und Europa bereit:

Ein Land, das sich allein von der einfachen Grenzkosten-Logik des komparativen Vorteils leiten lässt, wird am Ende kurzfristige wirtschaftliche Gewinne erzielen. Aber diese Gewinne können durch den Verlust tiefgreifenderer technologischer Fähigkeiten wieder aufgehoben werden. In den 2000er und 2010er Jahren war es für die USA und Europa kurzfristig wirtschaftlich sinnvoll, China den größten Teil des weltweiten Lithiums und Kobalts verarbeiten zu lassen, alle Batterien und Unterhaltungselektronik der Welt herzustellen, alle seltenen Erden der Welt abzubauen und so weiter. Aber genau wie bei Putins Entscheidung, Russlands Umwandlung in einen Petrostaat fortzusetzen, hatten diese kurzfristigen Gewinne ihren Preis. Wir beginnen erst jetzt aufzuwachen und diesen Preis zu erkennen.

Eine geschwächte Industrienation, eine ehemals führende Weltregion mit hohem moralischen Anspruch, aber ohne Raketen und funktionierendem Militär, wird schnell zum Papiertiger.

Der Abriss von Atomkraftwerken: kostspielig und langwierig

piqer:
Jürgen Klute

In den Wochen und Tagen vor dem endgültigen Aus der letzten drei Atomkraftwerke in der Bundesrepublik am 15. April 2023 schwebte noch einmal eine meinungsstarke, aber aus meiner Wahrnehmung zumeist faktenarme Debatte um den Atom-Ausstieg durch Medien und soziale Medien. Interessanterweise sind es oft CDU/CSU- und FDP-Politiker:innen, die sich gegen das Atomenergieende wehren, obgleich der Beschluss zum Ausstieg aus der Kernenergie 2012 gerade durch eine schwarz-gelbe Bundesregierung gefasst wurde. Das nährt den Verdacht, dass es hier nicht um eine Sachdebatte geht, sondern um Parteipolitik.

Wie auch immer, ein Argument, auf das ich mehrfach gestoßen bin, lautet, dass der Strompreis durch den Atomausstieg steigen würde. Dass AKW nur mehr eine sehr begrenzte Strommenge von 5 bis 6 Prozent zum Gesamtverbrauch beitragen in der Bundesrepublik, lassen wir mal außen vor. Atomenergie, so die Behauptung, sei eine preisgünstige Energie.

Bereits in den 1990er Jahren gab es Berechnungen, denen zufolge die Atomenergie eher zu den teuersten Energiearten zu zählen ist. Aber das hängt davon ab, welche Kosten in die Berechnung einbezogen werden. Genau darauf macht der hier empfohlene Artikel aufmerksam. Wolfgang Mulke hat sich für die taz in Lubmin die Demontage des AKW Greifswald angeschaut. Der Abbau des Kraftwerks läuft bereits seit 30 Jahren und wird noch etliche Jahre dauern. Insgesamt, so Molke, braucht der Abriss mehr Zeit als der Bau und der Betrieb zusammengerechnet. Ca. 900 Menschen sind mit dem Abbau befasst.

Warum das so lange dauert und welche Kosten ein solcher Abriss verursacht, erklärt Mulke in seinem Artikel. Letztlich bleiben auch diese Kosten – egal, über welche Kanäle sie fließen – an den Verbrauchern hängen. Sie erscheinen allerdings nicht auf der monatlichen Stromrechnung.

Auf einen Punkt, der zwischen den Zeilen anklingt, aber nicht explizit angesprochen wird, will ich hier noch hinweisen. Der Atommüll muss aufgrund seiner atomaren Strahlung für viele Jahrtausende sicher unterbracht werden. Das ist nicht nur ein unverantwortliches Erbe an die nachfolgenden Generationen und eine extrem teuere Angelegenheit, sondern dieser atomar verseuchte Müll besteht ja aus Stoffen (z.B. Stahl), die unter normalen Umständen gut zu recyceln wären. Aufgrund der Strahlenbelastungen können diese Materialien aber auf absehbare Zeit nicht wiedergenutzt werden. Mit jedem AKW werden also große Mengen wertvoller Materialen einer möglichen Kreislaufwirtschaft auf Dauer entzogen.

OpenAI investiert in 1X: Androiden next level?

piqer:
Ole Wintermann

Zurzeit wird (richtigerweise) sehr oft über die Folgen der Nutzung von ChatGPT, BARD et al. gesprochen. Spannend ist aber auch die Kombination der hinter ChatGPT stehenden künstlichen Intelligenz mit hardwarespezifischen Weiterentwicklungen. Die hinter ChatGPT stehende Firma OpenAI (ehemals Foundation) hat nun 23,5 Mio. US-Dollar in das Start-up „1X“ investiert. Es geht dabei darum, die Steuerung eines Androiden mit einer KI auszuführen, die ähnliche Fähigkeiten besitzt wie die KI hinter ChatGPT. Hierbei kann man sich auf Daten stützen, die bereits derzeit durch die Remote-Bedienung von Robotern in der Mensch-Maschine-Schnittstelle generiert werden. Ein positiver Nebeneffekt des Ausbaus der Remote-Potenziale ist die Möglichkeit, die Millionen Menschen geboten werden kann, ihre manuelle Arbeit von zu Hause aus auszuführen. Erste Erfahrungen mit der Remote-Bedienung von Lkw werden bereits gesammelt.

Angesichts der Schnelligkeit der Entwicklung von KI wird derzeit viel über die „#KI-Ethik“ diskutiert und ein 6-Monats-Moratorium bei der Entwicklung von ChatGPT und seinen Verwandten gefordert. Was aber bei all diesen Ethik-Debatten zu kurz kommt, ist die Frage, wie zukünftig eigentlich staatliche und soziale Systeme finanziert werden sollen, wenn Menschen drohen, als steuer- und beitragszahlende Vollzeitbeschäftigte wegzufallen.

Ausbeutung durch AI-Unternehmen und (e)skalierender Bullshit

piqer:
René Walter

Mit Gary Marcus und Emily M. Bender hatte ich hier auf piqd bereits zwei prominente Vertreter der englischsprachigen Kritik am AI-Hype vorgestellt, hierzulande hat jüngst IT-Experte Jürgen Geuther, den man auch als Tante auf Twitter kennt, einen langen Text auf Golem.de veröffentlicht, der sich von den Innovationen im sich scheinbar rasend schnell entwickelnden AI-Sektor gänzlich unbeeindruckt zeigt und aus linker Perspektive einigen Diskussionspunkten die heiße Luft rauslässt.

So bescheinigt er etwa, den Londoner Physiker Dan McQuillan zitierend, den AI-Unternehmen ausbeuterische Absichten, „um menschliche Arbeitskräfte zu ersetzen oder, was noch wichtiger ist, sie zu prekarisieren und zu untergraben“, es gehe nicht wirklich um „echte KI mit brillanten Ergebnissen, es reichten passable Ergebnisse, um große Mengen von Menschen ökonomisch unter Druck zu setzen“. Argumente, die zweifelsohne auch in den kommenden Verfahren gegen Microsofts CoPilot und Stable Diffusion im Gericht vorgetragen werden.

Ich persönlich würde in meiner Kritik nicht so weit gehen und über die Passagen kann man streiten. Ich persönlich glaube etwa einem Sam Altman, wenn er während eines Interviews mit Lex Fridman nach dem Start von GPT4 vor wenigen Wochen sagte, das Ziel sei vorrangig die Entwicklung von AGI, also  künstlicher allgemeiner Intelligenz, die von menschlicher Kognition nicht mehr zu unterscheiden sei, und denke, viele AI-Enthusiasten wie Altman ordnen die sozialen Folgen dieser Entwicklung dieser Vision schlichtweg unter. Auch hierüber kann man trefflich streiten.

Tatsache aber ist, dass AI-Systeme bereits heute den Arbeitsmarkt unter Druck setzen – in der Kreativbranche, bei den Textern, im Marketing, in der IT-Branche selbst –, während die Arbeit von Millionen von Menschen, die die Trainingsdaten für die Produkte von Meta, Google, Microsoft und OpenAI geschaffen haben, ohne Entlohnung verwertet wird – Menschen, die damit unfreiwillig und gratis zu ihrem eigenen überflüssig machen beitragen. Dies geschieht, wie von Andy Baio an anderer Stelle dargelegt, indem Datensätze in einem akademischen Setting von der Fair-Use-Klausel gedeckt abgegriffen werden und schließlich in einem kommerziellen Produkt landen, was mutmaßlich eben nicht mehr von der amerikanischen Fair-Use-Regelung getragen wird. Baio bezeichnet diese Strategie daher als Data Laundering.

Geuther spricht in seinem Text durchgehend von künstlicher Intelligenz als Narrativ, das eigentlich auf der zwar innovativen Transformer-Architektur aus dem Jahr 2017 basiert, das sämtliche LLM- und Image-Synthesis-Produkte der neueren Zeit von ChatGPT bis Dall-E ermöglichte, die aber seitdem aus wissenschaftlicher Sicht nur wenig tatsächliche Innovation vorzuweisen und mit dem alten Traum einer wirklichen maschinellen Intelligenz nur wenig zu tun habe. Das Narrativ diene vor allem dazu, der Technologie, die derzeit in praktisch alle Office-Produkte und Web-Interfaces verbaut wird, eine Art Persilschein auszustellen, laut dem künstliche Intelligenz wie im bekannten One-Liner des Avengers-Villains Thanos angeblich „inevitable„, also unvermeidlich sei, während wir als Gesellschaft in Wirklichkeit durchaus entscheiden könnten, auf den Einsatz von künstlicher Intelligenz zumindest in sensiblen Bereichen zu verzichten, wenn es etwa um Entscheidungen in Gesundheits- oder Pflegebereichen geht.

Die Sage von der angeblichen Alternativlosigkeit von AI-Systemen entspricht auch der Analyse des Philosophen Mark Fisher, der unseren Gesellschaften einen Capitalist Realism nachweist, in dem uns ökonomische Systeme davon überzeugt haben, es gäbe keine anderen Möglichkeiten des Wirtschaftens und der Umverteilung. Selbst ein gesellschaftsweites bedingungsloses Grundeinkommen, so Ted Chiang in einem Vortrag auf der Summit on AI in Society, übertrage die Verantwortung für die sozialen Folgen von Automation an den Staat: Die Kosten für die Ausbeutung menschlicher Arbeit durch das Training von AI-Systemen, die schließlich auch zur Vernichtung genau dieser Arbeitsplätze führen, werden sozialisiert, die Profite privatisiert. Alles alternativlos und unabwendbar, gestützt, absurderweise, auf eine Fair-Use-Klausel.

Wie fair AI-Unternehmen mit menschlicher Arbeit umgehen, werden sicher bald Gerichte beurteilen, und bis dahin ist Geuthers Text eine klare Empfehlung und der möglicherweise bislang umfassendste Überblick über die Kernpunkte linker AI-Kritik im deutschsprachigen Raum.

Das Internet kennt endlich mehr als eine Wahrheit

piqer:
Jannis Brühl

Jaron Lanier hat Virtual Reality mehr oder weniger erfunden, ist in Zelten und einer abgedrehten Kuppelkonstruktion in der Wüste aufgewachsen und spielt virtuos klassische Musik. Viele kennen ihn als „Tech-Kritiker“ (was für ein Berufsbild!) der ersten Stunde, er hat Bestseller über die negativen Auswirkungen der Silicon-Valley-Monopole geschrieben. So weit, so bekannt. Dieses Interview Laniers mit dem Guardian über die jüngsten KI-Modelle ist lesenswert, nicht nur weil er vor Fake News und anderem Ungemach aus den Chatbots warnt ‒ das ist eher erwartbar. Bemerkenswert finde ich einen positiven Aspekt, den Lanier in den Large Language Models entdeckt: Sie verlassen die festgetretenen Pfade, auf denen das Internet uns mittlerweile hin und her schickt.

So could the new chatbots challenge this? “Right. That’s my point. If you go to a chatbot and say: ‘Please can you summarise the state of the London tube?’ you’ll get different answers each time. And then you have to choose.” This programmed-in randomness, he says, is progress. “All of a sudden this idea of trying to make the computer seem humanlike has gone far enough in this iteration that we might have naturally outgrown this illusion of the monolithic truth of the internet or AI. It means there is a bit more choice and discernment and humanity back with the person who’s interacting with the thing.”

Wahrheit will Lanier hier wohl eher im technischen als im inhaltlichen Sinn verstanden wissen: Es gibt für jeden Menschen je nach Situation eine (oder mehrere?) ideale Interaktion, einen idealen Output, und die abwechslungsreichen Antworten der Chatbots können sie liefern (wobei natürlich zu prüfen wäre, wie stark sich solche Outputs wirklich unterscheiden). Laniers Idee: das Streben nach der ultimativen, allerbesten Lösung für ein Problem ist ein Irrweg, stattdessen braucht es Varianz. Er erläutert das an einem allseits beliebten Beispiel:

For Lanier, the classic example of restricted choice is Wikipedia … “Wikipedia is run by super-nice people who are my friends. But the thing is it’s like one encyclopedia. Some of us might remember when on paper there was both an Encyclopedia Britannica and Encyclopedia Americana and they provided different perspectives. The notion of having the perfect encyclopedia is just weird.”

Dann lieber von Chat-GPT eine neue Enzyklopädie erfinden lassen.