In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Wie Journalisten Geld und weiteren Geheimnissen auf die Spur kommen
piqer:
Sven Prange
Das Reporter:innen-Büro Correctiv ist eine Ausnahmeerscheinung im deutschen Medienbetrieb. Mehr oder weniger ohne kommerziellen Druck kümmern sich Journalist:innen dort um Recherchen von großen Themen, die sonst womöglich nicht recherchiert würden. Mit diesem Ansatz haben die Kolleg:innen in den vergangenen Jahren eine Menge Aufmerksamkeit und noch mehr bewegende Rechercheergebnisse erzielt.
Nun haben sie sich bei ihrer Arbeit von arte über die Schultern schauen lassen. Dabei sind gleich zwei ziemlich interessante Erkenntnisse in einem Film herausgekommen: über zwei ziemlich schmierige Geldgeschäfte und über die Arbeit von Reporter:innen in dieser Zeit.
Zwei Dokumentarfilmerinnen haben die Correctiv-Menschen ein Jahr lang mit der Kamera bei zwei großen Recherchen begleitet: Es geht um heiße Spuren, um Fehlschläge, wie sich Quellen öffnen und auch wieder schließen. Olaya Argüeso Pérez, Justus von Daniels, Marcus Bensmann und Gabriela Keller von Correctiv haben versucht, herauszufinden, ob hinter einer Werbekampagne zugunsten der AfD eine millionenschwere Parteispenden-Affäre steht. Wer sind die anonymen Finanziers, die mit ihrem Geld Einfluss nehmen wollen auf die Demokratie?
Ein anderes Team ist Steuerbetrügern auf der Spur. In „Cum Ex Files II“ wollen die Journalistinnen und Journalisten beweisen, dass Banker, Anwälte und Berater mit illegalen Steuergeschäften noch immer Milliardensummen aus öffentlichen Kassen rauben. Dafür baut das Correctiv-Team ein kollaboratives Netz mit Journalistinnen und Journalisten aus fünf Kontinenten auf.
Das ist erkenntnisreich mit Blick auf die Spur des Geldes durch unsere vermeintlich so geregelte Gesellschaft. Und mit Blick auf die Rolle, die recherchierende Journalist:innen in einer solchen spielen können.
Der automatisierte Schufa-Score und die gespaltene Gesellschaft
piqer:
Magdalena Taube
Während der Corona-Krise darf sich die Gesellschaft einmal mehr als zutiefst gespalten erleben. Wen das nicht kalt lässt, darf nicht dabei stehen bleiben, die Symptome zu behandeln: etwa in Form von Verständigungstherapien für die Polarisierten und Fragmentierten. Denn: Bessere Kommunikation wird die Gräben in dieser Gesellschaft nicht abschaffen.
Also gilt es nach Ursachen zu fragen. Und die liegen wie so oft im gesellschaftlichen Geschäftsmodell: Es werden laufend Gewinner*innen und Verlierer*innen produziert – die Corona-Krise hat diesen „Normalzustand“ nur verschärft und vielleicht etwas sichtbarer gemacht. Derweil propagiert das Erziehungsprogramm dieses Systems radikalen Eigennutz und vernachlässigt die Theorie und Praxis der (unbedingten) Solidarität.
Kurz: Die Gräben und Spaltungen sind zugleich ökonomischer, politischer und sozialer Natur – und keine Frage misslungener Kommunikation. Die AfD hat sich dieses Missverständnis nur zu Nutze gemacht, nicht aber – wie manche meinen – die Bedingungen dafür geschaffen. Jene sind struktureller Natur. In Gesellschaften, die durch Bürokratien zuammengehalten werden, sind diese Strukturen spätestens seit dem 20. Jahrhundert nicht zuletzt das Produkt von Automatisierung.
Deshalb, um ein Beispiel zu geben, sprechen die kritischen Algorithmus-Studien davon, dass Algorithmen nicht an sich rassistisch sind, sondern „nur“ die gesellschaftlichen Realitäten reproduzieren. Sie verweisen damit (vielleicht ungewollt) darauf, dass der von FDP und Konsorten geforderte Bürokratie-Abbau solche Probleme nicht lösen wird. Längst werden die Effekte der Bürokratisierung nicht nur durch die Bürokratie selbst erzeugt, sondern durch alle möglichen technisch unterstützten Systeme, bei denen Automatisierung, durch Algorithmen getrieben oder nicht, eine Rolle spielt. Das wäre in einem hochindustralisierten und zugleich post-industralisierten Land wie Deutschland praktisch überall, wo man nicht die Idylle des vormodernen Schrebergartens künstlich herzustellen versucht.
Nun sagt Artikel 22 der DSGVO, dass niemand einem vollständig automatisierten Entscheidungsprozess unterworfen werden darf. Gilt das auch für Deutschlands größte Auskunftei, die Schufa? Diese Frage hat ein Verwaltungsgericht in Deutschland dem Europäischen Gerichtshof gestellt. Während Datenschützer*innen und Transparenzverfechter*innen auf ein „Ja“ hoffen, weil es die Transparenz von Auskunfteien in der EU drastisch erhöhen könnte, wäre der Fall für alle Bürokratie-Abbau- und Kommunikationstherapie-Freunde ein Anlass, endlich etwas tiefer das Problem der gespaltenen Gesellschaft anzugehen.
Schließlich dürften auch viele von ihnen die Folgen einer automatisierten Schufa-Auskunft schmerzhaft zu spüren bekommen – bei ganz alltäglichen und zusehends durchautomatisierten Dingen, die bislang nicht von der Schufa-Auskunft abhängig waren, aber nun, in der sich weiter zuspitzenden Produktion von Gewinner*innen und Verlierer*innen, abhängig werden dürften: etwa bei der Vergabe von Zugangsrechten oder Wartenummern. Je schlechter der Schufa-Score, desto länger das Warten und desto vergeblicher das Hoffen auf Zugang zu lebenswichtigen Gütern und Leistungen …
Wie der größte deutsche Wirtschaftsskandal entstand
piqer:
Sven Prange
Wirecard ist in vielerlei Hinsicht eine neue Dimension Unternehmen (gewesen): in seinen Ambitionen, in der kriminellen Energie seiner Manager, in der Baseligkeit deutscher Politik im Umgang mit dem Unternehmen und am Ende vor allem aber durch seine gigantische Pleite.
Von einem Ex-Porno-Vermittler und einem Anhänger dubioser Geheimdienst-Zirkel quasi aus dem Nichts aufgebaut, bediente der ehemalige Münchener Zahlungsdienstleister über Jahre die naiven Träume deutscher Politiker:innen, Unternehmer:innen und Anleger:innen von einem deutschen Tech-Wunder. Das Unternehmen schien mit seinen digitalen Zahlungsabwicklungsprozessen genau das zu sein.
Schon früh bezweifelten einzelne Investor:innen und Journalist:innen diese Geschichte, die in Wirklichkeit die Räuberpistole eines kleinen Kreises an Größenwahnsinnigen war. Doch: Sie wurden nicht gehört. Weder von der deutschen Finanzaufsicht, noch von den Berater:innen der geschäftsführenden deutschen Kanzlerin, noch vom (eigentlich zuständigen) Ministerium des vermutlich künftigen Kanzlers.
In dieser Doku werden sie gehört. Britische und deutsche Wirtschaftsjournalist:innen, die schildern, wie sie einem dubiosen Konzern schon früh auf die Schliche kamen – und damit mit aufdeckten, was am Ende als größter deutscher Wirtschaftsbetrug samt Pleite dasteht. Ein Krimi, der leider wahr war.
Der neue Wallwitz ist da: „Die große Inflation“
piqer:
Moritz Orendt
Juri Wallwitz ist ja nicht nur piqer und Vermögensverwalter, sondern auch Buch-Autor. Ich habe zwei seiner Werke bisher gelesen und beide haben sich besonders durch die Vergnüglichkeit der Lektüre ausgezeichnet. Das ist für Wirtschaftsbücher nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit.
Vor zwei Jahren haben Juri und ich einigermaßen regelmäßig einen Podcast aufgezeichnet. Schon damals hat er mir von seinem Buchprojekt zur großen Inflation erzählt. Das Thema bot sich aus seiner Sicht an, weil die große Inflation bald 100 Jahre her ist. Pünktlich zum Erscheinen des Buches ist das Phänomen Inflation ja auf einmal sehr aktuell. Vermutlich hat das in dieser Vehemenz nicht einmal Juri gerochen.
Warum die große Inflation ein Trauma für viele war und wieso sich dieses laut dem Autor so tief in ein „finanzielles Gedächtnis“ von uns Deutschen festgegraben hat, das erzählt dieser Deutschlandfunk-Beitrag.
Happy Planet Index: Wohlstandsmessung mal anders
piqer:
Leonie Sontheimer
Wie geht es uns eigentlich in Deutschland? Es ist gar nicht einfach, diese Frage zu beantworten. Gerne wird unser Wohlstand von der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts abgeleitet: Wächst die Wirtschaft, geht es allen besser. Dass dies aber für zukünftige Generationen nicht gilt, weil Wirtschaftswachstum bisher nicht von einer immensen Ausbeutung von Ressourcen (und Arbeitskraft im Globalen Süden) entkoppelt wurde (und diese Entkopplung auch nicht absehbar ist), wird zu selten mit kommuniziert. So bleibt das BIP das Maß aller Dinge. Das ist ein Problem.*
Die Lösung: andere, diversere Indizes. Einer – der Happy Planet Index – wurde Ende Oktober wieder veröffentlicht. Leider haben nur wenige Medien darüber berichtet. Für die taz hat Lukas Nickel einen kurzen Bericht geschrieben. Darin erklärt er, wie der HPI berechnet wird:
Der HPI soll die verschiedenen Länder der Welt danach bewerten, wie effizient sie mit ihren begrenzten ökologischen Ressourcen Wohlstand herstellen. Deswegen berechnet sich der Index anhand von drei Faktoren: erstens dem Wohlergehen der Menschen nach dem World Happiness Report, zweitens der Lebenserwartung der Menschen nach Zahlen der Vereinten Nationen und drittens der Umweltbelastung, gemessen an dem ökologischen Fußabdruck nach Zahlen des Global Footprint Network.
Das Ergebnis: Costa Rica führt an, Deutschland liegt auf Platz 29, im Mittelfeld also. (Die Daten sind allerdings von 2019, also prä Corona.) Was ich an dem Beitrag von Nickel schätze: Es wird auch die Kritik am HPI erwähnt, dass die hohe Gewichtung des ökologischen Fußabdrucks zu unerwarteten Ergebnissen führe (wohlhabende Länder wie Luxemburg rangieren deshalb erst hinter Ländern wie Mali oder Jemen).
Erhoben wird der HPI von dem britischen Think Tank New Economics Foundation. Dieses empfiehlt selbst, den HPI nicht als einziges Kriterium zur Bewertung des Fortschritts eines Landes heranzuziehen.
Wussten Sie, dass auch das Statistische Bundesamt ganz unterschiedliche Indizes im Bereich Nachhaltigkeit erhebt? Hier kann man sich durch einige durchklicken. Und in diesem Zuge auch noch mal der Hinweis auf den Nationalen Wohlfahrtsindex vom Umweltbundesamt, der die Kritik am BIP berücksichtigt.
*Ich habe mich vor ziemlich genau zwei Jahren schon mal ausführlicher mit dem BIP und der Kritik daran beschäftigt, war im Statistischen Bundesamt, wo das BIP berechnet wird. Wer ein Krautreporter-Abo hat, kann den Text hier lesen.
Drei einfach und schnell umzusetzende Ansätze für mehr Klimaschutz
piqer:
Ole Wintermann
Liegt die Lösung im Kampf gegen den Klimawandel in einem Top-Down- oder einem Bottom-Up-Ansatz? Diese Grundsatzfrage bewegt seit Beginn der Debatte die politischen und wissenschaftlichen Kämpferinnen für mehr Klimaschutz. Politische Top-Down-Ansätze ermöglichen zwar von Beginn an eine weitreichende Skalierung von Maßnahmen, entheben aber möglicher Weise die Einzelne der Mitverantwortung. Prof. Newell von der University of New South Wales plädiert auf Basis seiner Kognitionsforschung für ergänzende Maßnahmen auf individueller Ebene.
Der erste Schritt, so Newell, ist sicherlich auf jeden Fall, seine Gewohnheiten bezüglich Reisen, Essen und Konsum kritisch zu hinterfragen. Der zweite Schritt, der die Skalierung auf individueller Ebene voranbringt, ist das gezielte Gespräch bei der Arbeit, im Verein oder in der weiteren Familie über Klimaschutz. Newell empfiehlt hierfür einfach zu kommunizierende Bilder: Man lädt seinen Müll nicht bei der Nachbarin ab. Wieso sollte es also Unternehmen erlaubt sein, ihren CO2-Müll bei der Weltgemeinschaft abzuladen?
Newell betont, dass der auf der persönlichen Ebene gelebte Wert der Fairness argumentativ einfach auf das Verhalten von Unternehmen und Politik übertragen werden sollte. Handeln Unternehmen nicht “fair”, so werden sie zu verurteilungswürdigen Freifahrern. Und darüber müssen wir mit unseren Mitmenschen reden:
„If we don’t, we are acting as moral free riders—getting a benefit from a collective good without contributing—a bit like riding the bus without paying for a ticket.“
Der dritte Schritt ist es, von Unternehmensseite aus die Wahl der “grünen Option” für die Kundinnen zur Standardoption zu machen. Keinen Klimaschutz zu wollen, muss in dieser Vorgehensweise immer bewusst ausgewählt werden; dies gilt bspw. für Strom aus regenerativen Energiequellen, für die CO2-Kompensation bei der Buchung von Flügen. Umweltbewusst zu handeln, muss als die einfachere Option angeboten werden.
Alle Optionen des Bottom-Up-Ansatzes sind selbstverstärkend, da sie die Selbstwirksamkeit in den Mittelpunkt des eigenen Handelns stellen. Und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ist ein wissenschaftlich anerkannter Motivator für weiteres “richtiges” Handeln.
Blockiererinnen handeln in diesem Themenkontext zumeist gegen die grüne Transformation, weil sie meinen, dass sie im Zuge der Klimaschutzmaßnahmen übervorteilt werden. Von daher ist es auch sehr wichtig, sogenannte Freeriderinnen unter den Unternehmen, die meinen, die Interessen ihrer Aktionärinnen stünden über den Interessen der Weltgemeinschaft, negativ zu sanktionieren.
Rohstoffe für die Energiewende – der blinde Fleck beim Klimaschutz?
piqer:
Ralph Diermann
Gern vorgebrachtes Argument gegen die Elektromobilität: Aber das Kobalt! Für die Batterien würden allerlei Rohstoffe problematischer Herkunft benötigt, so dass es sinnvoller sei, bei Benzin und Diesel zu bleiben. Auch Photovoltaik und Windenergie seien längst nicht so grün, wie allgemein angenommen, da die Anlagen Seltene-Erden-Metalle, Blei, Silber und andere Materialien benötigen, die oder deren Abbau umweltschädlich sind.
Christoph Podewils, bis vor wenigen Monaten Kommunikationschef des Think Tanks Agora Energiewende und Autor des kürzlich im Beck-Verlag erschienenen Buchs „Deutschland unter Strom – Unsere Antwort auf die Klimakrise“, liefert in seinem Blog jetzt gute Argumente, die den Rohstoffbedarf der Energiewende ins rechte Licht rücken.
Sein stärkstes Argument: die in der Energiewende eingesetzten Rohstoffe sind eine Art Investition, mit deren Hilfe sich klimaneutrale Primärenergiequellen wie Sonne und Wind nutzen lassen – und das für eine lange Zeit, da die Materialien nicht verbraucht werden. Zudem lassen sich viele der verwendeten Rohstoffe gut recyceln, wenn die Anlagen irgendwann das Ende ihrer Lebenszeit erreicht haben. Anders dagegen die Rohstoffe der fossilen Energiewelt: Kohle, Gas und Öl verschwinden in dem Moment, in dem sie ihren Zweck erfüllt haben, also Energie geliefert haben. Ein solches System kann niemals nachhaltig sein, da es wie ein nimmersattes Monster auf die permanente Zufuhr neuer Rohstoffe angewiesen ist.
Podewils weist zudem darauf hin, dass jedes menschliche Wirtschaften Rohstoffe braucht. Die Folgen des Abbaus von Kohle, Öl und Gas werden aber gerne unterschätzt, etwa die großräumige Zerstörung von Landschaften. Zumal immer mehr fossile Energien aufgewandt werden müssen, um fossile Energien zu gewinnen: Um einen Liter Rohöl aus der Erde zu holen, ist heute gut sechs mal mehr Energie nötig als vor einigen Jahrzehnten.
Klar, nicht nur mit Blick auf die Rohstoffe wäre es natürlich sinnvoller, drastisch weniger Energie zu verbrauchen, egal ob aus fossilen oder erneuerbaren Quellen, so Podewils. Das würde jedoch auf deutlich mehr Widerstand stoßen als die Transformation des Energiesystems und seiner Lieferketten.
Libanon – Erzwungene Migration als Wirtschaftspolitik
piqer:
Thomas Wahl
Laut Weltbank befindet sich der Libanon in einer der schwersten Wirtschaftskrisen, die die Welt seit gut 150 Jahren erlebt hat. Wichtige ökonomische Indikatoren wie Inflation, Arbeitslosigkeit und das BIP lassen sich kaum noch sinnvoll messen. Interessant, dass es sich dabei um eine bewusste Wirtschaftspolitik der Eliten handeln soll – ein Lehrbeispiel für toxische Macht- und Finanzpolitik:
Die Weltbank nennt es eine „absichtliche Depression“, das Ergebnis eines „politischen Konsenses zur Verteidigung eines bankrotten Wirtschaftssystems, von dem wenige lange profitiert haben“ und der die gesamte politische Klasse des Landes und jede Regierung, die seit den 1990er Jahren an der Macht war, einbezog.
Noch zu Beginn der 2000er Jahre wurde der libanesische Bankensektor für ein „Wirtschaftswunder“ gelobt.
2009 wurde Riad Salamé, Gouverneur der Banque du Liban, zum Zentralbanker des Jahres gewählt. Gegen den Rat des IWF hatte er den Kauf von Subprime-Hypothekenpapieren verboten, darauf bestanden, dass Investitionen in Derivate von der Zentralbank genehmigt werden müssen und dass die Bankreserven auf konservativen 15 Prozent an Fremdwährungseinlagen gehalten werden. Infolgedessen hat der Libanon sich 2008 an der Finanzkrise vorbei geschlängelt.
Das Kapital floss insbesondere aus der Diaspora, so dass sich bis 2016 die Devisenreserven der Banque du Liban mehr als verdreifachen konnten. Dieser Zufluss begann auszutrocknen, als sich die westlichen Volkswirtschaften erholten, die syrische Revolution zum Krieg wurde und die USA drohten, Sanktionen gegen das libanesische Bankensystem zu verhängen, um dieses zu zwingen, das Geldwäschesystem der Hisbollah einzudämmen. Mit hohen Zinssätzen für die, die Dollareinlagen in libanesische Lira umwandelten, gelang es noch, die Krise eine Zeit lang abzuwehren.
Aber heute sieht es sehr ähnlich aus wie die Schlussphase eines Ponzi-Schemas. Covid-19 und die Explosion im Hafen von Beirut im vergangenen August waren nur die jüngsten Schocks für ein System, das auch so nicht mehr hätte gerettet werden können.
Ein Ponzi-Schema ist ein Betrugssystem im Finanzsektor, in dem (ähnlich einem Schneeballsystem) die Anzahl der Teilnehmer ständig exponentiell wachsen muss, um nicht zu kollabieren. Dabei werden mit den Beiträgen neuer Teilnehmer die Gewinnausschüttungen der bestehenden Teilnehmer gezahlt. Im Falle Libanons waren die Migranten die bisher wachsende Quelle der Devisen und das soll wohl (aber kann nicht?) so bleiben:
Das Land hat eine lange Geschichte der Auswanderung: Die Bevölkerung des Libanon beträgt etwa sechs Millionen, und allein in Brasilien gibt es sieben Millionen Libanesen. Schätzungen zufolge sind 40 Prozent der Ärzte und 30 Prozent der Krankenschwestern seit 2019 gegangen. Es wird normalerweise als Braindrain bezeichnet, aber es scheint mir, dass Auswanderung seit Generationen von Herrschern das Wirtschaftsmodell ist. Vermeiden Sie progressive Steuern, bieten Sie keine öffentlichen Dienstleistungen an: Die Menschen werden in großer Zahl gehen, was in Ordnung ist, solange die Diaspora immer noch Anreize hat, ihr Geld hier zu parken – und künstlich hohe Zinssätze dafür sorgten, dass sie es taten..
Zusätzlich scheinen nun libanesische Politiker die Drohung mit verstärkter Auswanderung als Verhandlungsinstrument zu nutzen. Den europäischen Regierungen wird klar gemacht, dass sie mit einer Flut von Flüchtlingen rechnen müssen, wenn sie nicht die Hilfsgelder für Syrer im Libanon aufstocken.
Inzwischen ebben die Protestausbrüche ab, die Menschen kämpfen um ihr Überleben. „Die Wirtschaftskrise hat den Aufstand niedergeschlagen, nicht beschleunigt.“ Der Wert der Lira zum Dollar sinkt und sinkt, die Banken schließen, um das Abfließen von Dollars zu verhindern und die
größten Einleger (sind) damit beschäftigt, ihr Geld aus dem Land zu holen: Es wird geschätzt, dass zwischen Oktober 2019 und dem folgenden Juli 6 Milliarden Dollar entfernt wurden. Hunderte libanesische Unternehmen und Einzelpersonen erschienen in den Pandora Papers Lecks von Offshore-Finanzdaten. Einer von ihnen war Salamé, der Mann, der die Zentralbank seit fast dreißig Jahren leitet.
Die Folgen fürs Volk schildert der Artikel drastisch. Die Menschen fragen sich:
„Wie kommen wir raus?“ Haben Sie einen ausländischen Reisepass? Ein Visum? Wenn nicht, werden viele über die gefährliche Reise durch das Mittelmeer nachdenken. Die ersten Boote sind bereits gestartet.
Die Europäer werden es vielleicht richten wollen aber wohl nicht können – oder?
Schafft endlich Transparenz bei den Impfstoff-Verträgen!
piqer:
Eric Bonse
Fast ein Jahr ist es nun schon wieder her, dass in der EU die ersten Impfstoffe gegen Covid-19 zugelassen wurden. Doch die Verträge mit Biontech/Pfizer, Moderna & Co. wurden immer noch nicht vollständig offengelegt. Deshalb haben nun mehrere Europaabgeordnete der Grünen, darunter die Deutsche Jutta Paulus, Klage gegen die EU-Kommission eingereicht.
Das ist doch Schnee von gestern, könnte man meinen. Doch dem ist nicht so. Zum einen steht der Verdacht im Raum, dass EU-Kommissionschefin von der Leyen mit Biontech gekungelt und überhöhte Preise vereinbart hat. Zum anderen gibt es Streit um geheim gehaltene Vertragsklauseln, die möglicherweise eine Weitergabe von nicht benötigten Vakzinen an ärmere Länder verhindern.
Vor allem aber stellt sich in der nun nicht mehr zu übersehenden vierten Corona-Welle die Frage, wie wirksam die Vakzine wirklich sind. Lässt die Wirkung schon nach einem halben Jahr nach? Brauchen wir alle eine Booster-Impfung? Und was passiert danach – wird vielleicht auch noch eine vierte oder fünfte Impfung nötig? Was wissen die Hersteller, wie sieht es mit der Haftung aus?
Diese Fragen sind von grundsätzlicher Bedeutung, denn Corona dürfte nicht die letzte Pandemie gewesen sein – und die EU-Kommission will sich mit der neuen Gesundheitsbehörde HERA noch mehr Kompetenzen in der Gesundheitspolitik sichern, ohne parlamentarische Kontrolle. Umso wichtiger ist es, endlich für Transparenz bei den Verträgen mit „Big Pharma“ zu sorgen.
Was ein Rewe-Boykott am anderen Ende der Welt anrichtet
piqer:
Jannis Brühl
Es mag kaum jemandem aufgefallen sein: Die Tierschutzorganisation Peta hat Rewe dazu gebracht, eine Kokosnussmilch aus den Regalen zu nehmen. Denn die Nüsse werden in Thailand von Affen geerntet, die nicht alle gut behandelt werden.
Mein SZ-Kollege David Pfeifer hat getan, was ein Reporter in so einem Fall tun sollte: Er hat die thailändischen Affenbesitzer und ihre Langschwanz-Makaken besucht:
Khun Thong ist einer von noch etwa 3000 Makaken, die in Thailand darauf dressiert wurden, bei der Kokosnussernte zu helfen. Er hangelt sich im Palmwipfel zur nächsten Nuss, betrachtet sie mit Kennermiene, dreht sie ein paar Mal im Kreis, bis sie sich vom Stiel löst, beißt den restlichen Strunk durch. Wumms.
Die Affenbesitzer verstehen nun die Welt nicht mehr. Sie sagen: Wir behandeln unsere Affen besser als ihr im Westen eure Kühe und Hühner! Und was ist mit dem Palmfett aus Indonesien, dass in euren Supermarktregalen in zig Produkten steckt?
Beide Seiten kommen zu Wort, also auch Peta. Dabei wird klar: Es gibt Produkte, die sich deutlich leichter aus Regalen kegeln lassen als andere. Es kommt halt drauf an, was dem deutschen Verbraucher wie wichtig ist.
Der Text zeigt eindrucksvoll: Die Verflechtung der Welt ist manchmal eher grau als schwarz und weiß. Nicht nur westliche Unternehmen müssen sich – zurecht – vorwerfen lassen, dass ihnen das andere Ende der Lieferkette völlig egal ist. Auch die NGOs, die sie kritisieren, interessieren sich nicht dafür, was ihre Kampagnen am anderen Ende der Welt auslösen (vielleicht ist die Erwartungshaltung aber auch falsch, dass sich eine Tierschutzorganisation für Menschen interessieren müsste).
Eine schöne Reportage über Globalisierung, Verbrauchermacht, Armut, Menschen und Tiere.