Fremde Federn

Schrumpfeuropa, CO2-Zertifikate, Musks Schlägertruppe

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Ein fortschrittsmüdes Schrumpfeuropa, warum die EU in Afrika ihren wichtigsten Partner für die Energiewende sieht und wie es den Pro-Brexit-Regionen heute geht.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wie geht es den Regionen in UK heute, die den Brexit 2016 wollten?

piqer:
Silke Jäger

Drei Jahre nach dem Austritt UKs aus der EU hat das Land nicht nur mit den Folgen des Brexits zu kämpfen und die Regierung in London bemüht sich auch nach allen Kräften, die Schwierigkeiten anderen Ursachen zuzuschreiben: Pandemie, Krieg, Inflation. Natürlich gibt es nicht nur eine Ursache für die wirtschaftlichen Probleme des Landes – es ist inzwischen das Schlusslicht der G-7-Staaten, bezogen auf das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts – und der Brexit hat auch im Rest Europas Auswirkungen. Alles auf den Brexit zu schieben, wäre deshalb auch grundfalsch.

Interessant ist aber, sich mal anzuschauen, wie sich die wirtschaftlichen Probleme in unterschiedlichen Regionen des Vereinigten Königreichs ausgestalten. Nicht alle Regionen sind Verlierer, aber ausgerechnet diejenigen, in denen 2016 besonders viele Menschen für den Austritt aus der EU stimmten, haben ein größeres Risiko, weiter zurückzufallen im Vergleich zu den Referenzregionen London und Südost-UK. In diesen schon länger vernachlässigten Gebieten hatten Menschen die Hoffnung, dass der Brexit ihre Probleme löst. Stattdessen hat er sie noch verstärkt.

Boris Johnson gewann 2019 mit dem Versprechen die Wahl, dass die vernachlässigten Regionen besonders gefördert werden. Dadurch konnten die Torys Sitze in den Gebieten gewinnen, die seit Jahrzehnten fest in der Hand von Labour waren. Obwohl nun mehr Gelder durch das Levelling-up-Programm in diese Regionen fließen, vergrößert sich ihr Abstand zu den reicheren Gegenden in den meisten der verglichenen Punkte immer weiter. Nur bei den Ausgaben für öffentlichen Nahverkehr und bei den ausländischen Investitionen holen diese Wahlkreise auf.

Die Analyse von Bloomberg zeigt mithilfe von Grafiken, dass Gebiete, in denen viele Menschen gegen den Brexit waren, nicht so stark unter der Wirtschaftskrise leiden oder sogar profitieren. London und der Südosten stehen weiterhin gut da. Auch Nordirland holt auf. Dabei entsteht schon lange viel Unzufriedenheit in UK genau dadurch, dass London und sein Umland reicher sind als der Rest des Landes.

Für die Torys stehen die Aussichten in der nächsten Parlamentswahl also nicht gut, dass sie die neu dazu gewonnenen Sitze im Nordosten des Landes halten können. Ihr politisches Kalkül mit dem Brexit scheint nicht aufzugehen. Auch die Brexit-Befürworter halten den EU-Austritt inzwischen mehrheitlich für einen Fehler.

Wer braucht ein fortschrittsmüdes Schrumpfeuropa?

piqer:
Thomas Wahl

Ralf Fücks ist ein Mensch mit interessanter politischen Biografie. In den 1970er Jahren ein führendes Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland über das Komitee für Demokratie und Sozialismus mit vielen anderen dieser Szene hin zu den Grünen (1982). Er war von 1991 bis 1995 Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz in Bremen, ab 1993 dann Bürgermeister. Ab 1997 amtierte Ralf Fücks als Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung Partei der Grünen. Nach dem Ausscheiden aus der Heinrich-Böll-Stiftung 2017 gründete er gemeinsam mit seiner Frau Marieluise Beck die NGO „Zentrum Liberale Moderne“, das manchmal auch als konzeptionelle Basis für eine Jamaika-Koalition gesehen wird.

Er ist den Weg vom „Revolutionär“ zum Reformer selbstbestimmt gegangen und bestimmt nicht verdächtig, ein Wirtschaftslobbyist zu sein. Für ihn ist der

Klimawandel … die Schattenseite einer unerhörten Erfolgsgeschichte. Lebte zu Beginn der industriellen Revolution noch die große Mehrheit der Menschen in bitterer Armut, sind es heute noch zehn Prozent. Gleichzeitig stieg die Zahl der Menschenkinder von einer Milliarde auf knapp 8 Milliarden. Ihre Lebenserwartung hat sich glatt verdoppelt.

Auch wenn mit dem Klimawandel unser westlicher expansiver Lebensstil kritisch zu hinterfragen ist. Um Wohlstand, Freiheit und Ökologie in Einklang zu bringen, braucht die Welt Innovationen und einen Wettbewerb um die besten Lösungen – da stimme ich Fücks uneingeschränkt zu. Auch da, wo er feststellt:

Für ein fortschrittsmüdes Schrumpfeuropa interessiert sich kein Mensch.

Den ganzen Fortschritt bei der globalen Armutsbekämpfung, wachsender Gesundheit und Lebenserwartung verdanken wir vor allem dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt – letztendlich auch der Nutzung fossiler Energien.

Wissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen führten zu einer immensen Steigerung der Arbeitsproduktivität und der landwirtschaftlichen Erträge. Sie erweiterten den Radius menschlicher Aktivität und die Triumphe der modernen Medizin.

Und auch die Kehrseite dieses Fortschritts können wir mit Forschung und Innovation in den Griff bekommen. Es stimmt:

Die Globalisierung hat den Druck auf die ökologischen Belastungsgrenzen des Planeten noch einmal gesteigert. Rund die Hälfte aller fossilen Energien, die seit Beginn der Industrialisierung verfeuert wurden, gehen auf das Konto der letzten 30 Jahre.

Das ist übrigens der Zeitraum, in der D mit dem Ausstieg aus der Atomkraft begonnen hat – genial. Es wurde eine Technologie, mit der man schon erreicht hatte, 40% des deutschen Stromes CO2-frei zu produzieren aus der Hand gegeben. Und trotzdem hat es Deutschland – wie Fücks zeigt – in den letzten 30 Jahren geschafft, beim Wirtschaftswachstum 45% zuzulegen und den CO2-Ausstoß um 31% zu reduzieren. Ähnlich wie andere Industriestaaten auch. Wenn also Deutschland und Europa für die globale Zukunft, für den Bestand der Demokratie, die Geltung der Menschenrechte relevant bleiben will, dann wäre „Degrowth“ der wahrscheinlich falsche Weg.

In einer schrumpfenden Ökonomie sinken auch Investitionen und Innovationstempo. Der Wettlauf gegen den Klimawandel erfordert ganz im Gegenteil ein höheres Innovationstempo und steigende Investitionen in den Umbau des Energiesystems, des Produktionsapparats und der öffentlichen Infrastruktur. Daraus kann eine neue ökonomische Dynamik entstehen, eine lange Welle umweltfreundlichen Wachstums. Ihre Treiber sind Künstliche Intelligenz und die kybernetische Steuerung von Produktion und Logistik, Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe, E‑Mobilität und Batterietechnik, nachwachsende Werkstoffe, Bionik und das weite Feld der Biotechnologie mit ertragreicheren, robusteren Nutzpflanzen und Lebensmitteln aus Zellkulturen.

Ob Kernkraft und/oder Fusionsenergie global dazugehören, das werden wir sehen. Packen wir es an …

EU sieht in Afrika ihren wichtigsten Partner für die Energiewende

piqer:
Jürgen Klute

Am 3. Februar 2023 veröffentlichte die taz ein Interview mit der Vorsitzenden des Club of Rome, Mamphela Ramphele, in dem sie den Green Deal der EU als kolonial kritisierte (siehe dazu meinen piq „Europas Green Deal bleibt kolonial!“). Wenige Tage später hat Kira Taylor auf Euractiv einen Artikel veröffentlicht, in dem sie die Vorstellungen der EU von einer Energie-Partnerschaft mit Afrika darstellt. Der Artikel beruht auf einem Interview mit dem für die Energiewende verantwortlichen EU-Kommissar Frans Timmermans, das während der Versammlung der Internationalen Agentur für erneuerbare Energien (IRENA) in Abu Dhabi gemacht wurde. Taylor zitiert den EU-Energiewende-Chef gleich einleitend mit den Worten:

„Der afrikanische Kontinent wird wahrscheinlich der wichtigste Partner für Europa sein, wenn es um die Entwicklung des Sektors der erneuerbaren Energien geht“,

um dann Ziel und Strategie der EU auf den Punkt zu bringen:

„Europa baue zwar seine heimische Produktion von erneuerbaren Energien aus, muss aber auch über seine Grenzen hinausschauen, um die benötigten Mengen zu sichern. Um die Lücke zu schließen, blicken viele in der EU nach Afrika, wo es ein großes Potenzial für die Erzeugung erneuerbarer Energien gibt – insbesondere für die Solarenergie.“

Mit welchen Ländern die EU bereits im Kontakt ist, wie die EU dabei vorgeht und welche konkreten Schritte bereits unternommen wurden, erfahren Leser und Leserinnen dann im weiteren Verlauf des Artikels.

Es geht dabei auch um den von der deutschen Bundesregierung favorisierten grünen Wasserstoff, dessen geplanten Bedarf die Bundesrepublik nur zu einem kleineren Teil aus eigenen Ressourcen decken kann. Dass der europäische Energiehunger trotz der guten Voraussetzungen für die Produktion von erneuerbarer Energie auch zu einem Problem für die afrikanischen Länder werden kann, war offensichtlich auch Thema auf der Konferenz. Jedenfalls gibt es seitens der EU die Absicht, Energiearmut in afrikanischen Ländern zu bekämpfen.

„Nach Angaben der Weltbank hat weniger als die Hälfte der Bevölkerung in Westafrika Zugang zu Elektrizität. Und fast 600 Millionen Menschen in Afrika südlich der Sahara haben keinen Stromanschluss.“

heißt es in dem Artikel. Der ebenfalls auf der Versammlung in Dubai anwesende Klima- und Energieminister der belgischen Region Wallonien, Philippe Henry, betonte daher gegenüber Euractiv:

„Bei der Zusammenarbeit gehe es nicht nur darum, die Versorgung Europas zu sichern, sondern auch darum, die Infrastruktur zu entwickeln und den Zugang Afrikas zu Energie zu verbessern.“

Ob das ausreicht, um die eingangs erwähnte Kritik der Chefin des Club of Rome, Mamphela Ramphele, am Green Deal der EU zu zerstreuen, wird sich erst noch zeigen müssen.

Lässt sich das System der freiwilligen CO2-Zertifikate retten?

piqer:
Ralph Diermann

Die ZEIT, der Guardian und die britische Investigativ-Plattform SourceMaterial haben neulich in einer gemeinsamen Recherche (dazu ein piq) offengelegt, dass ein sehr großer Teil der freiwilligen CO2-Zertifikate mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Emissionsminderung gegenübersteht. Diese Zertifikate werden häufig von Unternehmen genutzt, die klimaneutral werden wollen. Sie gleichen damit Emissionen aus, die sie selbst nicht vermeiden können – oder wollen. Die Unternehmen zahlen dafür, dass andernorts Emissionen vermieden werden oder aber CO2 aus der Atmosphäre entfernt wird.

Ist das Konzept der freiwilligen CO2-Zertifikate damit gescheitert? Nicht zwangsläufig, argumentiert SZ-Redakteur Christoph von Eichhorn in einem längeren Beitrag – das System müsse aber grundlegend reformiert werden. Als einen zentralen Ansatzpunkt nennt er die Praxis, Zertifikate für Projekte auszustellen, die darauf zielen, das Abholzen von Wäldern zu vermeiden. Hier arbeiten die Unternehmen, die Zertifikate ausgeben, mit Annahmen, wann der Wald ohne solche Projekte abgeholzt würde. Das ist aber oft hochgradig unsicher. So fließt hier Geld in Maßnahmen, bei denen überhaupt nicht klar ist, ob sie überhaupt benötigt werden. Der deutsche Anbieter Atmosfair verzichtet deshalb ganz auf solche Zertifikate. Ein anderer Vertreter der Branche hält allerdings dagegen, dass Satellitenaufnahmen sehr wohl zeigen, dass sich auf diese Weise Kahlschlag verhindern lässt.

Ein weiter heikler Punkt ist die „Zusätzlichkeit“ der finanzierten Maßnahmen: Sie kompensieren nur dann CO2-Emissionen der Zertifikatskäufer, wenn sie ohne diese Mittel nicht durchgeführt worden wären. Problematisch sind vor allem Zertifikate für die Installation von Erneuerbare-Energien-Anlagen. Die Kosten gerade von Solarsystemen sind nämlich so stark gesunken, dass sie auch ohne „Zuschuss“ durch die Zertifikate wirtschaftlich sind. Mehr Ambitionen, fordert hier von Eichhorn.

Auch müssten die Regeln für zwischenstaatliche Kompensationsgeschäfte klarer gestaltet werden. Länder wie die Schweiz zum Beispiel kaufen bei Entwicklungsländern Zertifikate ein, um dem eigenen Ziel der Klimaneutralität näher zu kommen. Das liegt quer zum Pariser Abkommen, da es alle Staaten verpflichtet, ihre Emissionen zu reduzieren. Mit deren „Verkauf“ droht, dass die Minderung quasi doppelt verbucht wird.

Und: Die Zertifikate müssen viel, viel teurer werden. Heute kosten sie zwischen drei und fünf Euro. Sie müssten aber mindestens zehn Mal so teuer sein, um echte Emissionsminderungen auszulösen, schreibt von Eichhorn mit Bezug auf eine britische Studie.

Studie: Vergessen wir besser das 1,5-Grad-Ziel!

piqer:
Nick Reimer

Es scheint sowieso nichts mehr zu werden mit dem Ziel, die Klimaerhitzung auf global durchschnittlich 1,5 Grad zu begrenzen: Eine neue Untersuchung – „Hamburg Climate Futures Outlook 2023“  – kommt zu dem Schluss, dass für eine Begrenzung des Temperaturanstieges auf 1,5 Grad Celsius die gesellschaftlichen Voraussetzungen fehlen.

Für das interdisziplinäre Forschungsprojekt haben etwa 60 Sozial- und Na­tur­wis­sen­schaft­le­r:in­nen in einem Team zehn gesellschaftliche, klimarelevante Faktoren untersucht, die sozialen Bewegungen etwa, Investitionen in die Fossilwirtschaft, die UN-Klimapolitik, die Gesetzgebung zum Klimaschutz, Klagen vor Gericht, Konsumverhalten, die Qualität der Medienberichterstattung, die Wissensproduktion oder die Proteste gegen die aktuell fossil gesteuerte Politik. Ergebnis: „Die notwendige umfassende Dekarbonisierung verläuft einfach zu langsam“, fasst die Leiterin des Exzellenzclusters „Klima, Klimawandel und Gesellschaft“, Anita Engels, zusammen.

Immerhin ist beim Klimaschutz einiges in Bewegung gekommen, heißt es in der Studie. Vor allem aber das Verhalten von Kon­su­men­t:in­nen und Unternehmen bremse die weltweit dringend notwendige Abkehr von fossilen Energieträgern. Anita Engels:

„Die notwendige umfassende Dekarbonisierung verläuft einfach zu langsam.“

Schuld sind der Studie zufolge auch Vertreter meiner Zunft: Medien würden sich nach Auswertung der Au­to­r:in­nen ambivalent verhalten: Mal unterstützten sie das Ziel einer treibhausgasneutralen Gesellschaft, mal unterminierten sie es. Entscheidend für eine Eindämmung der Klimaerhitzung ist nach Auffassung der Wis­sen­schaft­le­r:in­nen der soziale Wandel. Studienautorin Engels:

„Wir sind nicht mal in Ansätzen auf dem richtigen Pfad.“

Politische Bruchlinien unserer Zeit (Ivan Krastev)

piqer:
Achim Engelberg

Eine fundamentale Krise des Liberalismus sieht der auch auf piqd viel beachtete Osteuropaexperte Ivan Krastev. Befragt von der Schweizer Journalistin Barbara Bleisch zeigt er auf, wie der Krieg in und um die Ukraine mit seinem millionenfachen Leid die politische, wirtschaftliche und psychologische Landkarte Europas jäh verändert mit Auswirkungen im globalen Ausmaß. Er zeichnet die neuen oder neu hervortretenden Bruchlinien der Epoche.

Viele Kriege der letzten Jahrzehnte, so der Politologe, enden nicht, sondern sterben ohne Friedensvertrag. Sie enden oft an den Wahlurnen. So war es beim französischen Algerienkrieg und im amerikanischen Vietnamkrieg. Entscheidend war dort, aber auch bei den Balkankriegen der 1990er-Jahre, welche Parteien die Wahlen gewannen und wie sie Kriege weiter unterstützten oder nicht. Dieses Phänomen erläutert er in verblüffender Weise und beantwortet Fragen wie: Wie bleiben die Menschen als Gesellschaft resilient in der Krise? Was nährt den Liberalismus und weshalb ist es von zentraler Bedeutung, den Osten Europas zu begreifen, um die Welt zu verstehen?

Osteuropa ist durch Diktaturerfahrungen, aber auch durch schnelle Umstürze geprägt. Westeuropa dagegen habe andere Erfahrungen in seiner Geschichte, so waren fünf der sechs Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG – der Vorläuferin der heutigen EU – ehemalige oder noch aktive Kolonialmächte.

Die Regierungen dieser Staaten waren es gewohnt, dass ihre Stimme Gewicht hat.

Nicht nur als Teil des sowjetischen Ostblocks war Osteuropa fremdbestimmt, sondern schon vorher. Polen zum Beispiel, das mit fast 40 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land Osteuropas, war jahrhundertelang ein Spielball der Großmächte und es verschwand immer mal wieder von der europäischen Landkarte. Die Nationalhymne beginnt mit der Zeile „Noch ist Polen nicht verloren“, eine Formulierung, die für eine große westeuropäische Macht unvorstellbar ist.

Jahrelang warnten die Polen und die Balten den Westen vor Russland, doch der Westen hat sie nicht gehört.

Leidvoll änderte sich das nun und wird die Kräfte innerhalb Europas und der EU umstürzend verändern. Ein Ausdruck dieses neuen Selbstvertrauens, so Ivan Krastev, sei die von Polen am 1. September 2022 an Deutschland gerichtete Forderung nach Reparationen in der Höhe von 1,3 Billionen Euro für die erlittenen Verluste im Zweiten Weltkrieg. Exakt 83 Jahre nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf Polen.

Wer die Texte von Ivan Krastev kennt, wird solche gut begründeten Verknüpfungen in diesem einstündigen Fernsehgespräch wiedererkennen. Die Qualität des von Barbara Bleisch geführten Gesprächs liegt nicht darin, dass sie Neues Ivan Krastev entlockt, sondern darin, dass sie dessen Ein- und Ansichten über das geteilte Europa in komprimierter Weise erfragt. In seiner ganzen Breite ist es für alle, die nicht jedes Buch dieses Ausnahmeintellektuellen kennen, insgesamt dann doch neu.

Wer nach diesem Rundumschlag in die Breite in die Tiefe gehen will und gerade nicht die Bücher von Ivan Krastev zur Hand hat, findet kurze Beiträge aus den letzten Jahrzehnten auf der Website des Instituts für die Wissenschaft des Menschens in Wien, wo der prägnante Beobachter ständiger Fellow ist.

Wenn Elon Musk übernimmt

piqer:
Jannis Brühl

Das wirklich Schlimme an uneingeschränkter Macht ist wohl die Willkür. Die Untergebenen, die Abhängigen wissen nie, was als nächstes passiert. Ständig stehen sie unter Anspannung, was als nächstes „von oben“ kommt. Das ist für mich die Quintessenz dieses Longreads über die Übernahme von Twitter durch Elon Musk und seine Homies, oder wie sie intern genannt werden: „goon squad“ (also in etwa: Schlägertrupp). Der Artikel ist eine Kollaboration von New York Magazine und The Verge. Er rekonstruiert nach Gesprächen mit vielen, oft aus verständlichen Gründen anonym bleibenden Quellen, was passierte, als der Milliardär in Twitters Zentrale in San Francisco einlief und sofort begann, seine Vorstellungen rücksichtslos umzusetzen. Eine Übernahme, aber keine freundliche.

Die supererfolgreiche Musk-Sekte kam wie eine Plage über die Twitter-Belegschaft, die bis dahin zwar nicht für ein besonders erfolgreiches Unternehmen, aber für eines mit einer relativ offenen Kultur gearbeitet hatten. Jetzt wurden erst einmal Leute gefeuert, dann wieder eingestellt, dann Unmögliches von ihnen verlangt und dann war wieder, doch ganz anders als ursprünglich angeordnet, Musk-Manie.

Mitarbeiter schwankten zwischen Bewunderung für Musk, Hoffnung auf seine guten Ideen, Angst um ihren Job und Irritationen über die widersprüchlichen Anweisungen, die teils komplett absurd waren. Prototypisch der Fall mit dem ausgedruckten Programmcode:

The boss wanted to see their code. Employees were instructed to “print out 50 pages of code you’ve done in the last 30 days” and get ready to show it to Musk in person. Panicked engineers started hunting around the office for printers. Many of the devices weren’t functional, having sat unused for two years during the pandemic. Eventually, a group of executive assistants offered to print some engineers’ code for them if they would send the file as a PDF.

Wer sich nicht dauernd mit jeder kleinen Weiterentwicklung des Twitter-Dramas beschäftigen wollte, ist bei diesem Text gut aufgehoben. Er entlarvt den Mythos, Musk sei ein CEO-Genie, und zwar gründlich.