Fremde Federn

Rüstungsindustrie, Einwanderungsland, Next Level Aussichtslosigkeit

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum die Weltwirtschaft immer indischer wird, wie KI das Methodenspektrum der Sozialwissenschaft erweitert und wieso man die öffentliche Meinung nicht als Beraterin bei der Qualität wichtiger Zukunftsentscheidungen heranziehen sollte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Die Welt und ihre Wirtschaft wird indischer

piqer:
Thomas Wahl

Migration ist ein globales und offenbar extrem komplexes Phänomen. Insofern ist der Blick aus der Vogelperspektive, den der ECONOMIST auf das weltweite, von indischen Migranten angeführte Phänomen wirft, spannend.

Von den 281 Millionen Migranten, die sich heute rund um den Globus verteilen – allgemein definiert als Menschen, die außerhalb ihres Geburtslandes leben – sind nach den jüngsten Schätzungen der UNO aus dem Jahr 2020 fast 18 Millionen Inder. Mexikanische Migranten, die die zweitgrößte Gruppe bilden, zählen etwa 11,2 Millionen. Die Auslandschinesen kommen auf 10,5 Millionen.

Das sind ganz andere Gruppen, als die, die wir in Deutschland aufnehmen, wahrnehmen oder gar fürchten. Der Artikel betont dabei den quantitativen, aber auch qualitativen Erfolg indischer Refugiés, die auch für das Image ihres Landes stehen. Während die Inder im Ausland eher positiv wahrgenommen werden, schlägt den Chinesen eher Misstrauen entgegen. Was auch auf geopolitische Verwerfungen hindeutet.

Eine große Zahl von Chinesen der zweiten, dritten und vierten Generation lebt im Ausland, vor allem in Südostasien, Amerika und Kanada. Doch in vielen reichen Ländern, darunter Amerika und Großbritannien, übersteigt die Zahl der in Indien geborenen Menschen die der in China geborenen.

Indisch stämmige Migranten verteilen sich über den ganzen Globus. So etwa in den westlichen Staaten:

  • 2,7 Millionen leben in Amerika,
  • über 835.000 in Großbritannien,
  • 720.000 in Kanada und
  • 579.000 in Australien.

Junge Inder strömen in den Nahen Osten, wo niedrig qualifizierte Jobs im Baugewerbe und im Gastgewerbe besser bezahlt werden als im Heimatland:

  • 3,5 Mio. indische Migranten leben in den Vereinigten Arabischen Emiraten und
  • 2,5 Mio. in Saudi-Arabien.

Weitere findet man in Afrika und anderen Teilen Asiens und der Karibik. Bekanntlich leisten gerade Arbeitsmigranten meist auch einen wichtigen Beitrag zum BIP ihres Heimatlandes. So erreichten Indiens Überweisungen aus dem Ausland 2020 einen Rekordwert von fast 108 Mrd. $, etwa 3% des BIP und damit mehr als in jedem anderen Land. Aber die Inder in Übersee mit ihren guten Sprachkenntnissen, dem hohen Bildungsstand und ihrem Know-how fördern auch intensiv den grenzüberschreitenden Handel und die Investitionen.

Indien hat wesentliche Voraussetzungen, um ein führender Exporteur von Talenten zu sein: eine große Zahl junger Menschen und eine erstklassige Hochschulbildung. Dass die Inder die englische Sprache beherrschen, ein Erbe der britischen Kolonialherrschaft, ist wahrscheinlich auch hilfreich. Nur 22 % der indischen Einwanderer in Amerika, die älter als fünf Jahre sind, geben an, dass sie nur begrenzte Englischkenntnisse haben, verglichen mit 57 % der chinesischen Einwanderer, … .

Dazu kommt, die Einwanderungsregeln vieler reicher Länder filtern nach gefragten hohen Qualifikationen. Was z.B. dazu führte, dass 2022 73% der amerikanischen h-1b-Visa, die an Spezialisten in „Fachberufen“ wie Informatiker vergeben werden, an in Indien geborene Menschen gingen. Was als „Brain Drain“ für das Geburtsland sicher auch Nachteile hat. So analysierte eine Studie den Verbleib

von Studenten, die 2010 die hart umkämpften Aufnahmeprüfungen für die Indian Institutes of Technology, die Elite-Ingenieurschulen des Landes, absolvierten. Acht Jahre später stellten die Forscher fest, dass 36 % der 1 000 Besten ins Ausland abgewandert waren, unter den 100 Besten waren es sogar 62 %. Die meisten gingen in die USA.

Eine andere Studie untersuchte die besten 20%

der Forscher im Bereich der künstlichen Intelligenz (definiert als diejenigen, deren Arbeiten im Wettbewerb für eine Konferenz im Jahr 2019 angenommen wurden). Dabei wurde festgestellt, dass 8 % ihren ersten Abschluss in Indien gemacht haben. Aber nur eine winzige Anzahl von Forschern arbeitet heute dort.

Und so besitzen auch fast 80% der in Indien geborenen Bevölkerung im schulpflichtigen Alter mindestens einen Bachelor-Abschluss.

Bei den in China geborenen Amerikanern sind es nur  50 % und lediglich 30 % der amerikanischen Gesamtbevölkerung können dies von sich behaupten. Und so verwundert es nicht, dass Inder die am höchsten verdiente Migrantengruppe in Amerika sind –  mit einem mittleren Haushaltseinkommen von fast 150.000 Dollar pro Jahr. Das ist doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt und weit vor chinesischen Migranten, mit einem durchschnittlichen Haushaltseinkommen von über 95.000 Dollar. In Australien liegt das mittlere Haushaltseinkommen unter indischen Migranten bei fast 87.000 Dollar pro Jahr, verglichen mit einem Durchschnitt von etwa 62.000 Dollar in allen Haushalten und etwa 58.000 Dollar bei den in China geborenen.

Und so steigen Mitglieder der indischen Diaspora auch zunehmend an die Spitze der Geschäftswelt sowie der Politik auf. So sind heute bei den amerikanischen S&P 500-Unternehmen 25 Geschäftsführer indischer Abstammung, gegenüber 11 vor einem Jahrzehnt.

In der Technologiebranche war es, laut Vinod Khosla, Mitbegründer von Sun Microsystems, für indische Unternehmer noch in den 1980er Jahren schwierig, in Amerika Geld zu sammeln.

„Sie waren Leute mit einem lustigen Akzent und einem schwer aussprechenden Namen und sie mussten höhere Hürden überwinden“, sagt er. Jetzt werden Adobe, Alphabet, Googles Muttergesellschaft, ibm und Microsoft alle von Menschen indischer Abstammung geführt. Die Dekane an drei der fünf führenden Business Schools, einschließlich der Harvard Business School, sind es auch.

Vergleichbares gilt ebenfalls für die Politik. Johns Hopkins-Forscher zählten im britischen Unterhaus 19 Mitglieder indischer Abstammung, darunter Premierminister Rishi Sunak. Man identifizierte sechs Indischstämmige im australischen Parlament und fünf im amerikanischen Kongress. Amerikas Vizepräsidentin Kamala Harris hat eine tamilisch-indische Mutter. Chef der Weltbank ist Ajay Banga, geboren in Pune in Westindien, nachdem er mehr als ein Jahrzehnt lang MasterCard geführt hatte.

Die chinesische Diaspora ist die einzige andere Gruppe mit vergleichbarem Einfluss in der Welt. Eine Analyse von The Economist, die zu Beginn der Covid-19-Pandemie durchgeführt wurde, schätzt, dass mehr als drei Viertel des gesamten 369-Milliarden-Dollar-Vermögens der Milliardäre in Südostasien von huaqiao kontrolliert werden, einem Mandarin-Begriff für ethnische Chinesen, die Bürger anderer Länder sind.

Vergleicht man Südostasien mit Europa und Nordamerika, sieht dieses Bild etwas anders aus. Es gibt z.B. weniger Chefs chinesischer Abstammung, die S&P 500-Unternehmen leiten, als Chefs indischer Abstammung. Man vermutet, dass sich viele der chinesischen Geschäftsleute eher dafür entscheiden, in China zu arbeiten und zu investieren. Gibt es doch genügend schnell wachsende chinesische Unternehmen, wie etwa den Smartphone-Hersteller Xiaomi, den Internet-Suchdienst Baidu und ByteDance, die in Peking ansässige Muttergesellschaft von TikTok, einer global agierenden Social-Media-App.

Der wachsende indische Einfluss wird zunehmend auch gestützt durch das westliche Misstrauen gegenüber China und seiner aggressiven Politik. Viele Westler sehen das Land zunehmend als Feind, der auf einen neuen Kalten Krieg zusteuert. Das belastet die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen gegenüber China.

Huawei, ein chinesischer Telekommunikationsausrüster, der in der Vergangenheit verdächtigt wurde, Embargos zu brechen und ein Kanal für die Spionage der chinesischen Regierung zu sein, wurde in Amerika verboten. Einige europäische Länder sind dem Beispiel gefolgt. Strenge Überprüfungen ausländischer Investitionen in amerikanische Unternehmen aus Gründen der nationalen Sicherheit zielen offen auf chinesisches Geld im Silicon Valley. Einzelne Personen, die im Verdacht stehen, auf Chinas Geheiß zu handeln, darunter ein ehemaliger Harvard-Professor, wurden bestraft.

Auch wenn Modi und seine hindunationalistische Bharatiya Janata Party Anlass zur Sorge gibt, indische Firmen können hier viel freier agieren.

Indiens Anspruch, eine von liberalen Werten geprägte Demokratie zu sein, erleichtert der Diaspora die Integration im Westen. Die Diaspora wiederum bindet Indien an den Westen. Ein verblüffendes Beispiel dafür war 2005, als die USA ein Abkommen schlossen, das Indien faktisch als Atommacht anerkannte, obwohl das Land sich weigerte, den Atomwaffensperrvertrag … zu unterzeichnen. Lobbyarbeit und Geldbeschaffung durch indische Amerikaner halfen dabei, das Abkommen durch den Kongress zu bringen.

Sicher, unter Modis Führung werden Indiens Verbindungen zum Westen einem Stresstest unterzogen. Im Land wächst die nationalistische Rhetorik und liberale Freiheiten werden angegriffen. Außenpolitisch ist Indien kein williger Follower der USA oder des Westens. Es betont seinen Status als unabhängige Macht, hat sich geweigert, Russlands Invasion der Ukraine zu verurteilen und kauft billig russisches Öl und Dünger.

Indien ist eine gewichtige Stimme der BRICS-Staaten, einer Vereinigung aufstrebender Volkswirtschaften. Die Abkürzung „BRICS“ steht für die Anfangsbuchstaben der fünf zugehörigen Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Der Club erwägt gerade, Saudi-Arabien und den Iran beitreten zu lassen. Das alles könnte den Ruf Indiens gefährden und der indischen Soft Power schaden. Andererseits werden die Übersee-Inder das versuchen auszugleichen. Und in der Konfrontation mit China wäre der Westen um so mehr auf Indien angewiesen. Ebenso wie auf die fachlich guten indischen Migranten. Es bleibt also spannend.

Next Level Aussichtslosigkeit in Großbritannien

piqer:
Silke Jäger

John Harris ist ein von mir sehr geschätzter Reporter, der unermüdlich durch Großbritannien reist und mit den Menschen spricht. Ihnen einfach zuhört. Wissen will, was sie bewegt. Und sie nicht ausstellt, wenn er berichtet.

Er hat sich schon, so lange ich ihn lese, Sorgen gemacht. Um die Menschen, die kämpfen müssen, um über die Runden zu kommen. Um die, die keine Perspektive sehen. Und um das Land, das sie so sehr im Stich lässt.

Aus diesem Text sticht aber noch etwas anderes aus den ohnehin schon düsteren Zeilen heraus. Harris ist selbst von Erschöpfung und Perspektivlosigkeit betroffen. Das sagt er nicht direkt, sondern erzählt es aus der Perspektive zweier Frauen, die in seiner Heimatstadt wohnen.

Die eine ist Altenpflegerin und verdient 10,70 Pfund die Stunde, was im Moment 12,48 Euro entspricht. Sie verdient damit als erfahrene Pflegefachkraft ungefähr das, was in Deutschland eine Pflegehilfskraft bekommt. Sie hat keine Hoffnung, dass sie demnächst mehr verdienen könne. Denn aus ihrer Sicht wäre der naheliegendste Grund für eine Lohnerhöhung ihr Einsatz während der Covid-Pandemie gewesen. Doch auch dafür gab es keine finanzielle Anerkennung.

Die andere ist selbstständige Buchhalterin und fürchtet sich vor dem Auslaufen ihres Hauskreditvertrages. So wie schätzungsweise zwei Millionen Brit:innen, deren zinsgebundene Verträge bald auslaufen und die dann mehrere Hundert Pfund im Monat nachzahlen müssen. Man schätzt, dass circa 4% der Haushalte in UK ihre Ersparnisse deshalb verlieren werden. Diese Aussicht gibt der Frau das Gefühl, sich nicht mehr hocharbeiten zu können, sondern mit dem, was sie jetzt hat, für immer zufrieden sein zu müssen.

Diese Beispiele symbolisieren unterschiedliche Arten von Aussichtslosigkeit. Und was Harris so anfasst, ist, dass nicht mehr nur diejenigen hoffnungslos sind, die von prekären Jobs oder von staatlicher Unterstützung leben müssen, sondern inzwischen auch die Mittelschicht. Leute wie er selbst.

Auf die Frage, was diese Menschen von der Politik erwarten, kommt:

If we have a Conservative government, it gets worse every year.

und

Everything is so out of your control … I feel like it doesn’t make much difference any more.

Die Rhetorik der letzten Jahre und die wirtschaftlichen Probleme erzeugen bei den Menschen eine tiefe Erschöpfung. Niemand will mehr leere Versprechungen hören, aber jede:r erwartet nur noch diese von der politischen Klasse.

Harris meint:

Now, I hear echoes of the weariness and bafflement I used to associate with the post-industrial places whose furies took us out of the EU, but this time in our market towns and suburbs. I worry about that. I think we all should.

Rüstungskonzern Hensoldt AG: Profit schlägt Compliance?

piqer:
Lars Hauch

Russlands Überfall auf die Ukraine ist ein PR-Glücksfall für die deutsche Rüstungsindustrie. Als Olaf Scholz das Ulmer Werk der Hensoldt AG besucht, verkündet Vorstandschef Thomas Müller dem Kanzler und Aktionärsvertretern, Hensoldts Produkte seien technologisch „die besten, wirklich die besten elektronischen Systeme zur Verteidigung unserer liberalen Grundordnung“.

Überraschung: In Wirklichkeit scheint Hensoldt es mit liberalen Werten nicht ganz so genau zu nehmen. Dem Spiegel wurden diverse interne Dokumente zugespielt. Daraus entstanden ist ein Text, der viele Fragen aufwirft. Vor einem Monat erschien er bei Spiegel+. Hier nun ohne Paywall bei Spiegel International. Es folgt eine Zusammenfassung.

Die Bundesregierung hat vor drei Jahren 25,1 Prozent der Hensoldt AG gekauft. Technik von Hensoldt steckt in allen möglichen Waffensystemen, unter anderem dem Leopard-2 sowie Iris-T. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat Hensoldts Aktienkurs sich beinahe verdreifacht.

Compliance (= Regeltreue) ist besonders in der Rüstungsindustrie ein wichtiges und heißes Eisen. Deals werden oft über Ecken, unter Beteiligung diverser Unternehmen und Regierungen, eingefädelt. Korruption und Grauzonen gibt es entsprechend zuhauf. Leitend zuständig für Compliance ist bei der Hensoldt AG ein Jurist namens Solms Wittig. Laut internen Unterlagen mischt Sittig sich regelmäßig in laufende Geschäfte ein und macht sich dadurch nicht nur Freunde.

Besser kann man die Rolle von Compliance wohl nicht beschreiben. Die Aufpasser warnen, mahnen — aber können längst nicht jedes Fehlverhalten verhindern. Ein Beispiel dafür sind Hensoldts Geschäfte mit Uganda.

Uganda wird seit 37 Jahren autoritär von Yoweri Museveni regiert. Hensoldts hausinterne Analyse warnte 2020, es gebe ein „sehr hohes und kritisches Korruptionsrisiko“. Wegen des „Geschäftspotenzials“ drang man laut Spiegel-Recherchen dennoch in den Markt ein. Ein üblicher Vorgang: Hensoldt engagierte eine lokale Beraterfirma, die über die nötigen Verbindungen für einen Deal verfügt. Der Leiter der Geschäftsentwicklung Afrika schrieb an seine Kollegen gar, die Berater hätten besonderen Zugang zur Armee und Spezialkräften, die von Musevenis Sohn geleitet werden. Er sei ein „Bekannter von uns“. Hensoldt hat sich auf Nachfrage nicht zu dieser Beziehung äußern wollen. Der Deal sei jedoch nicht zustande gekommen.

An die Luftwaffe Ugandas lieferte Hensoldt dann aber doch. Compliance-Chef Sittig schrieb im Dezember 2020 einem Mitglied des Exekutivkomitees: „Wir haben einen Fall, der uns Kopfschmerzen bereitet.“ Ugandas Luftwaffe sollte Sensoren bekommen, die vor herannahenden Raketen warnen. An dieser Stelle wird es etwas kompliziert. Denn, wie in der Rüstungsbranche üblich, Hensoldt war nicht direkter Vertragspartner, sondern Zulieferer, in diesem Fall an die israelische Rüstungsfirma Bird Aerosystems. Das israelische Unternehmen arbeitete in Uganda mit einem einflussreichen Waffenhändler namens Boaz Badichi zusammen, der für Deals mit Despoten bekannt ist. Badichis Firma sowie eine lokale Tochterfirma bemühten sich zwei Jahre darum, den Deal mit der Luftwaffe auf die Beine zu stellen.

Compiance-Chef Wittig schlug Alarm. Es sei nicht klar, ob Hensoldt sich strafbar mache. Denn obwohl Hensoldt ja „bloß“ Zulieferer war, könnte ihr Mittäterschaft vorgeworfen werden, falls der israelische Waffenhändler in Korruption verwickelt sei. Sittig forderte eine Prüfung durch externe Rechtsexperten. Das dauerte der Verkaufsabteilung von Hensoldt aber offenbar zu lang. Der Deal wurde ohne weitere Prüfung durchgezogen.

Auf Nachfrage sagte Hensoldt, es habe keine konkreten Anhaltspunkte für rechtswidriges Verhalten gegeben. Ergänzende Ermittlungen hätten das letztlich bestätigt. Derlei Ermittlungen sind allerdings schwierig, und das hat in der Waffenbranche System. Die internationalen Unternehmen outsourcen gewisse Bereiche an lokale Partner, deren Methoden sie kaum kontrollieren können — und vermutlich auch nicht wollen. Laut internen Dokumenten gab es innerhalb Hensoldt einen heftigen Streit um das richtige Vorgehen. Letztlich setzten sich die Verkaufsleute gegen die Compliance-Abteilung durch. Wenn Compliance ernst genommen wird, sollte es eigentlich anders herum laufen.

Im Spiegel-Artikel wird noch ein weiteres Beispiel ausgeführt, dabei geht es um fragwürdige Deals mit Katar. Hensoldt hat die Anschuldigungen der Spiegel-Recherche übrigens allesamt zurückgewiesen. Wie wertegeleitet und feministisch deutsche Außenpolitik ist, wenn Profit in einem Rüstungsunternehmen mit Staatsbeteiligung offenbar über Compliance geht, muss die Bundesregierung beantworten.

Über Putins Schwäche

piqer:
Theresa Bäuerlein

Nach den plötzlichen und chaotisch wirkenden Entwicklungen in Russland – auf einmal marschierte Söldnerführer Jewgenij Prigoschin auf Moskau zu und zog nach einer bizarren Vereinbarung mit dem Kreml blitzschnell wieder ab – habe ich nach Hintergrundartikeln gesucht, um besser zu verstehen, was da los ist.

Einer der Besten, die ich gefunden habe, ist aus dem New Yorker. Der Autor sprach dafür mit Mikhail Zygar, einem der kenntnisreichsten Reporter und Kommentatoren, über die Macht des Kremls.

Im Januar 2023 schrieb Zygar in der New York Times einen prophetischen Kommentar über Prigoschin mit dem Titel „The Man Challenging Putin for Power“. Zygar lebt seit Beginn des Ukraine-Kriegs in Europa im Exil. Er ist ehemaliger Chefredakteur von TV Rain (auf Russisch Dozhd), einem unabhängigen Sender, den Putin nach Beginn des Krieges geschlossen hat. Sein 2016 erschienenes Buch „All the Kremlin’s Men“ war in Russland ein Bestseller, darin untersucht er Putins Herrschaft und die innere Dynamik seines Führungszirkels.

Für den Artikel im New Yorker beschreibt er, wie sich die Beziehung zwischen Putin und Prigoschin entwickelt hat. Nach einem neunjährigen Knastaufenthalt und Jobs als Hot-Dog-Verkäufer und im Catering schaffte Prigoschin es ins Putins Nähe, wurde sein Günstling, wurde reich, dann Anführer der Wagner-Truppe. Seit dem Ukraine-Krieg trat er jedoch mehr und mehr als Gegner Putins auf – nicht weil er gegen den Krieg war, sondern weil er nicht damit einverstanden war, wie dieser geführt wurde.

Sie [Putin und  Prigoschin] überwarfen sich in dem Moment, als Prigoschin zu glauben begann, er sei beliebt“, sagte Zygar. Als Prigoschin letzten Herbst durch Russland reiste, um Gefangene für die Wagner-Gruppe zu rekrutieren, „fühlte er sich wie ein Rockstar“. Seine Gabe war, dass er „so effektiv mit ihnen in ihrer Sprache sprach“, sagte Zygar. „Es kam der Moment, in dem Prigoschin nicht mehr Putins Marionette war. Pinocchio wurde ein echter Junge.“

Der auffälligste Aspekt des gerade geschehenen Aufstandes, so Zygar:

Putin ist schwächer geworden. Ich habe das Gefühl, dass er das Land nicht wirklich regiert. Jedenfalls nicht so, wie er es einst tat. Er ist immer noch Präsident, aber alle verschiedenen Clans“ – die Fraktionen innerhalb der Regierung, des Militärs und vor allem der Sicherheitsdienste – „haben jetzt das Gefühl, dass das ‚Russland nach Putin‘ näher rückt. Putin ist noch am Leben. Er ist immer noch in seinem Bunker. Aber es wächst das Gefühl, dass er eine lahme Ente ist, und sie müssen sich auf ein Russland nach Putin vorbereiten.

In ideologischer Hinsicht, so Zygar,

…verbindet Prigoschin zwei Ideen. Die erste ist die Anti-Korruption und die Anti-Oligarchen. Trotz seines eigenen immensen Reichtums hat er sich immer als Oligarchen-Bekämpfer dargestellt. Gleichzeitig ist er super illiberal. Er hasst den Westen und behauptet, er sei der wahre Beschützer der traditionellen Werte. Wahrscheinlich hat er mehr Anhänger als die Wagner-Gruppe; es gibt Leute in der Armee, der F.S.B., dem Innenministerium, die seine ideologischen Verbündeten sein könnten.

Im Gegensatz zu Putin und seinen Anhängern, die Propaganda über Staatsfernsehen und andere offizielle Kanäle verbreiten, nutzen Prigoschin und seine Anhänger Social Media, vor allem Telegram. Dort inszenieren sie sich als das „wahre“ Russland.

Sollte Putin demnächst stürzen, so Zygar, könnten ihm entweder extrem harte Elemente folgen, die von den Sicherheitsdiensten unterstützt werden, oder ein „relativ“ liberaler Clan, vertreten durch Premierminister Michail Mischustin und den Bürgermeister von Moskau, Sergej Sobjanin.

Die Atmosphäre erinnert ein wenig an die späten Tage Josef Stalins in den frühen fünfziger Jahren, als er eine weitere Säuberungsaktion (gegen Juden, „wurzellose Kosmopoliten“ und andere vermeintliche Feinde) plante, während Rivalen wie Georgi Malenkow und Nikita Chruschtschow „geduldig“ auf den Tod des alten Mannes warteten, damit sie ihren Zug machen konnten. Putin, so Zygar, wisse genau, wie Autokraten wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Putschversuche ausnutzten, um Massenverhaftungen vorzunehmen, Medien und Informationen weiter zu unterdrücken und die Regierung neu zu ordnen. Er könnte diesem Beispiel folgen. Die üblichen Stimmen in den sozialen Medien haben den ganzen Tag über eine Kakophonie der Spekulationen ausgelöst. Das wird so schnell nicht aufhören.

Was das für die Ukraine bedeutet? Einerseits ist es ein wichtiger Moment in diesem Krieg, sogar eine historische Chance, glaubt Zygar. „Sie müssen jetzt angreifen. Das ist der Moment, in dem die russische Armee mit internen Problemen beschäftigt ist.“

Gleichzeitig gibt es aber keine Garantie dafür, dass das derzeitige Chaos in Russland nur eine gute Nachricht für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenski ist. Zygar befürchtet, dass Putin nach einer solchen innenpolitischen Blamage wie der Prigoschin-Affäre ins Ausland ausschlagen und den Krieg in der Ukraine eskalieren könnte.

China plant 455 Gigawatt Solar- und Windleistung in Wüsten

piqer:
Ralph Diermann

Im Westen Rumäniens entsteht derzeit der aktuell größte Solarpark Europas, die 1,6 Millionen Module kommen auf eine Spitzenleistung von gut einem Gigawatt. Das nur zur Einordnung einer Meldung, die der Erneuerbare-Energien-Infodienst IWR jetzt veröffentlicht hat: China plant, in der Wüste Gobi sowie in anderen Wüsten bis 2030 Solar- und Windparks mit einer Leistung von zusammen 455 Gigawatt zu bauen – also rund 400 Mal so viel wie die XXL-Anlage in Rumänien. Bei voller Auslastung würden sie etwa so viel Strom liefern wie 1.000 mittelgroße Kohlekraftwerksblöcke.

Ein gigantisches Vorhaben, da nicht nur Windräder und Solarmodule gebaut werden müssen, sondern auch entsprechende Stromleitungen, die die Energie aus den abgelegenen Wüsten in die Verbrauchszentren transportieren. Wobei China bei den Erneuerbaren derzeit ohnehin kräftig klotzt. Das zeigt etwa eine Meldung des Solar-Branchendienstes TaiyangNews: Allein zwischen Januar und Mai dieses Jahres hat China 61 Gigawatt Photovoltaik-Leistung installiert. Das entspricht etwa vier Fünftel der gesamten heute in Deutschland installierten Menge.

Erst der Shitstorm, dann die Begeisterung

piqer:
Squirrel News

Wenn es um die Qualität wichtiger Zukunftsentscheidungen geht, dann sollte man die öffentliche Meinung lieber nicht als Beraterin heranziehen. Umfragen zeigen jedenfalls immer wieder, dass sie sich ziemlich schnell ändern kann. Und die jüngsten Boulevard-Attacken auf die Wärmepumpe haben auch nicht gerade zu einem Klima geführt, in dem durchdachtes, kühles Abwägen überall an erster Stelle steht – um es mal ganz, ganz vorsichtig zu formulieren.

Eine interessante Sicht auf die Dynamik von gesellschaftlichen Herausforderungen, Lösungsvorschlägen, öffentlicher Resonanz und Akzeptanz hat nun Uwe Schneidewind in einem Interview mit der taz geäußert. Schneidewind war ja selbst Wissenschaftler, bis er dann 2020 in die Politik ging und Bürgermeister von Wuppertal wurde.

Im Interview erklärt er nun, warum der Wandel zuerst einmal mehr Zeit brauchte, als er es sich vorgestellt hatte, und warum es mühsam sein kann, Bürger von den Vorzügen einer Veränderung zu überzeugen, an die sie bisher noch nicht gewöhnt waren. Sein zwischenzeitliches Fazit:

Man muss immer erst einmal durch eine Shitstormphase durch. ­Danach sind dann meist alle begeistert.

Der Rest des Interviews ist nicht ganz so prägnant wie diese zwei Sätze. Aber auf jeden Fall lesenswert.

Deutschland, das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt

piqer:
Theresa Bäuerlein

„Wir sind kein Einwanderungsland und wir können es auch nicht werden,“ sagte Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl 1989. Das ist noch keine 35 Jahre her und wirkt dennoch wahnsinnig veraltet. Heute hat nur ein Land auf der Welt in absoluten Zahlen mehr Einwanderer als Deutschland: die USA.

ZEIT ONLINE hat in dem hier empfohlenen Überblick Daten zu allen Zu- und Wegzügen nach und aus Deutschland seit dem Jahr 1952 ausgewertet.

Dem statistischen Bundesamt zufolge hat mittlerweile rund ein Viertel der Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund. Das bedeutet, dass mindestens ein Elternteil bei der Geburt keinen deutschen Pass besaß.

Rund 58 Millionen Zuzüge gab es insgesamt in den vergangenen 70 Jahren, 42 Millionen Migrant:innen verließen Deutschland wieder. Die ZON-Redaktion hat in Grafiken die bisher vier großen Phasen der Zuwanderung seit dem zweiten Weltkrieg dargestellt:

Phase 1: Ab 1955 holte die Bundesrepublik rund 14 Millionen sogenannte Gastarbeiter ins Land, vor allem aus Italien, der Türkei und Jugoslawien. Elf Millionen gingen wieder zurück.

Phase 2: Nach dem Zerfall des Ostblocks und Jugoslawiens wanderten viele Menschen aus Polen nach Deutschland ein, außerdem die sogenannten Spätaussiedler – Menschen mit deutschen Wurzeln aus Ost- und Mitteleuropa. 774.000 von ihnen kamen allein 1989 und 1990.

Phase 3: Ab den Nullerjahren nahm die EU zwölf neue Mitgliedsstaaten auf. Allein zwischen 2011 und 2021 kamen rund 6,3 Millionen Menschen aus dem EU-Ausland nach Deutschland. Etwa 1,6 Millionen Menschen kamen im gleichen Zeitraum aus humanitären Gründen, vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.

Phase 4: Seit Russland 2022 die Ukraine überfiel, erlebt Deutschland den größten Zuzug seit Gründung der Bundesrepublik. Mehr als eine Million Ukrainer:innen kamen 2022 ins Land.

Außerdem gibt es eine wachsende Migration aus asiatischen Staaten.

Die größte Gruppe ausländischer Studierender in Deutschland kommt mittlerweile aus China. Und Indien liegt in der Liste der größten Herkunftsländer heute auf Platz fünf.

Die Einwanderer leben nicht gleichmäßig über Deutschland verteilt.

Die meisten Ausländer leben bis heute im Westen Deutschlands, vor allem in den Städten. In die BRD zogen bis zur Wiedervereinigung weit mehr Migranten als in die DDR, später zogen viele Einwanderer dorthin, wo bereits andere Einwanderer lebten. Hinzu kommt ein wirtschaftlicher Grund: Das Lohnniveau ist im Westen Deutschlands bis heute höher als im Osten. Das machte vor allem westdeutsche Städte für Migranten attraktiv.

Staatsbürger der Türkei leben bis heute vor allem in westdeutschen Städten mit Industrie, in Ostdeutschland leben heute so gut wie keine Menschen mit türkischem Pass. Im Osten leben wiederum deutlich mehr Vietnamesen als im Westen – die Familien der Zehntausenden ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam. Geflüchtete wiederum dürften ihren Wohnort nicht selbst wählen, sondern werden nach einem politisch ausgehandelten Quotensystem im Land verteilt. Deswegen leben fast überall in Deutschland Syrer:innen.

Wie geht es weiter mit Deutschland als Einwanderungsland? Das hätte Kohl sich vermutlich nicht im Traum einfallen lassen, aber:

Kaum jemand bezweifelt heute, dass Deutschland angesichts einer alternden Bevölkerung auf Zuwanderung angewiesen ist. Schätzungen zufolge braucht das Land rund 400.000 Migrantinnen und Migranten jedes Jahr, damit die Zahl der Arbeitskräfte stabil bleibt. Die Frage ist: Werden die Menschen weiter ins Land kommen? Und wird die Politik in der Lage sein, zu steuern, wer kommt?

Global betrachtet, so argumentiert der indisch-amerikanische Politikwissenschaftler Parag Khanna, befinden sich überalterte Länder wie Deutschland längst in einem Wettstreit um junge Arbeitskräfte. Die große Frage der kommenden Jahre wird sein, ob Deutschland attraktiv genug sein wird, um nicht nur Menschen aus Europa, sondern auch aus den jungen Gesellschaften im Mittleren Osten und Nordafrika, aus China und Indien anzuziehen.

KI (LLM) erweitert das Methodenspektrum der Sozialwissenschaft

piqer:
Ole Wintermann

In diesem SCIENCE-Text wird auf eindrückliche und spannende Weise beschrieben, wie die Nutzung von Künstlicher Intelligenz, die auf Sprachmodellen (LLM) basiert, die Methodik der Sozialwissenschaft bedeutend erweitern könnte. Der Text ist ein großartiges Beispiel für die potenzialorientierte Sicht auf KI und eine starke Empfehlung wert.

KI kann menschenähnliche Reaktionen und Verhaltensweisen simulieren und damit die Grundlage dafür schaffen, dass sozialwissenschaftliche Analysen sehr viel schneller, vielfältiger und effizienter durchgeführt werden können, da KI menschliche Teilnehmende an Fragebögen, Beobachtungsstudien oder Experimenten ersetzen oder auch alternative Erklärungsansätze für menschliches Verhalten anbieten könnte. KI bietet also die Möglichkeit, mehr Verhaltensparameter zu messen und zu interpretieren.

In der politischen Analyse könnte KI alternative Handlungs- und Verhaltensszenarien in Abhängigkeit politischer Ideologien entwickeln helfen. Die Autoren sprechen vom “Ideologischen Turing-Test”:

„Once LLMs can pass the Ideological Turing Test—meaning that they can accurately represent opposing viewpoints in a way indistinguishable from real humans—researchers can use them to generate future scenarios.“

In der Forschung über soziale Interaktion könnte KI den Part von einzelnen Personen übernehmen. Hiermit könnten unterschiedliche Interaktionsmuster erzeugt werden. Gerade in der Interaktionsforschung könnte ausgerechnet die KI helfen, so die Autoren, inhärente Annahmen und Verzerrungen, die durch Forschende und Probanden in die Experimente unbewusst eingeschleust werden, offenzulegen und zu eliminieren. Dass hierbei die LLM ja selbst Ergebnis kulturell erzeugter Sprachmuster ist und Sprache auch ein Spiegelbild menschlicher Vorurteile sein kann, muss aber natürlich beachtet werden. Zwar versuchen bereits die KI-Modellierer selbst auf die “reine” und durch Vorurteile unbelastete KI wert zu legen. Aber schon die Frage, was eine „unbelastete“ KI sein soll, ist an sich wieder eine normative Frage, so die Autoren.

Die Sozialwissenschaft muss rechtzeitig Richtlinien für die ethische Verwendung der LLM, den passenden Datenschutz, die algorithmische Fairness, die Umweltfolgekosten der LLM sowie den Missbrauch erarbeiten, so die Autoren.

„Only by maintaining transparency and replicability can we ensure that AI-assisted social science research truly contributes to our understanding of human experience.“