Manche Bücher verlieren ihre Aktualität schon bald nach der ersten Rezension, weil sie von Moden und kurzfristigen Ereignissen motiviert sind. Das vor gut einem Jahr erschienene Buch „Der Weg zur Prosperität“ des österreichischen Wirtschaftsforschers Stephan Schulmeister ist hingegen heute noch so aktuell wie am Tag der Veröffentlichung. Und es ist zu befürchten, dass sich an seiner Brisanz auf absehbare Zeit nicht viel ändern wird. Denn das Hauptthema des Buches ist der Neoliberalismus, der Schulmeister zufolge seit fast 50 Jahren als „Navigationskarte“ für die globale Wirtschaftspolitik dient und das „erfolgreichste Projekt der Gegen-Aufklärung“ ist.
Es ist ein Thema, mit dem sich kaum jemand in deutschsprachigen Raum intensiver beschäftigt hat als Stephan Schulmeister. Der 1947 geborene Ökonom war vier Jahrzehnte lang am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) beschäftigt und hat in dieser Zeit akribisch das Verhältnis von Finanzsystem und Realwirtschaft analysiert, die Finanzkrise und ihre Folgen früh und oft vorhergesagt und immer wieder mögliche Auswege für Ökonomie und Politik dargelegt. Mitten in der letzten großen Weltwirtschaftskrise hat Schulmeister 2010 bereits in einem dünnen Büchlein eine Tour d’Horizon durch sein Forschungsprogramm niedergeschrieben, einen „New Deal für Europa“ vorgeschlagen und Vorarbeit für das nun vorliegende Werk geleistet.
Dieses ist nun sein „Lebensbuch“, wie er es in der Wochenzeitung „Die Zeit“ nennt. Man kann es zu Recht als Lebenswerk bezeichnen, denn das Buch ist prall gefüllt mit Informationen, Grafiken, Exkursen, erklärenden Boxen, weiterführenden Literaturhinweisen und seitenweisen Anmerkungen, die Schulmeisters jahrzehntelange Forschung widerspiegeln. Auf die Frage, an wen sich das Buch richtet, gibt es zwei Antworten. Zum einen an LeserInnen, die wirtschaftspolitisch und -historisch interessiert sind, aktuelle Krisenerscheinungen besser verstehen wollen und Vorschläge für Auswege aus ökonomischen Sackgassen suchen. Der Autor selbst widmet sein Buch allerdings „den Neoliberalen in allen Parteien, in den Medien und in der Wissenschaft“.
Der Weg zur Knechtschaft
Schon nach wenigen Seiten zeigt sich: Der Autor hegt nicht nur Abneigung, sondern auch eine gewisse Bewunderung und Anerkennung für die Größen des Neoliberalismus. Nicht zuletzt ist der Titel des Buches eindeutig an eines der Hauptwerke von Friedrich August von Hayek, „Der Weg zur Knechtschaft“ (1944), angelehnt. Hayek führte darin einen erbitterten Feldzug gegen zentrale Wirtschaftsplanung, die ihm zufolge in autoritäre politische Systeme münde, und preist die Vorzüge der Marktwirtschaft, die mit Freiheit und Recht einhergehe. Tatsächlich enthüllte Hayek später seine antidemokratische Gesinnung mit der Unterstützung für die blutige Militärdiktatur Pinochets in Chile und das faschistische Militärregime von Salazar in Portugal. Mit seinem Buch verfasste er jedenfalls den Katechismus neoliberalen Gedankenguts, die Kampfschrift für einen Kreuzzug.
Es scheint, dass Schulmeister vor allem die wohlüberlegte Strategie und das systematische Vorantreiben neoliberaler Grundsätze bewundert, die schließlich auch zu deren erfolgreicher Umsetzung geführt haben. Schulmeister lässt auch keinen Zweifel daran, dass der Weg zur Prosperität ähnlich minutiös und geduldig wie die „neoliberale Revolution“ geplant und durchgeführt werden muss. Es drängt sich der Wunsch nach einer fortschrittlichen, linken Mont-Pelerin Gesellschaft auf. Diese in Schulmeisters Geburtsjahr gegründete Denkfabrik war die treibende Kraft hinter vielen Initiativen, die sukzessive die damals vorherrschende keynesianische Doktrin untergruben und schließlich deren Ablöse bewirkten. Das Netzwerk der neoliberalen Chefideologen hat Schulmeister genau studiert. „Kenne deinen Feind“ ist eine Grundregel in kriegerischen Auseinandersetzungen, und eine Vielzahl an Zitierungen der einschlägigen Literatur aus dem Umkreis der Mont-Pelerin-Gesellschaft zeugt davon, dass Schulmeister seine GegnerInnen hervorragend kennt.
Navigationskarte in die Krise
Für einen guten Überblick hat Schulmeister seine Hauptaussagen in 20 Thesen zusammengefasst, die einen roten Faden durch das Buch vorgeben. Im Zentrum steht dabei immer der Neoliberalismus, den Schulmeister als eine politische Navigationskarte in die europäische Krise beschreibt. Die wichtigsten Elemente dieser Orientierungskarte sind die Entfesselung der Finanzmärkte und gestiegene Finanzspekulation bei gleichzeitigem Rückgang des Wachstums von Realinvestitionen und Beschäftigung sowie die Durchsetzung von Sparpolitik und Lohnsenkungen.
Das Buch gliedert sich in sechs Abschnitte, beginnend mit einer Theoriekritik, über eine Analyse der herrschenden Wirtschaftspolitik bis zu Vorschlägen für einen Paradigmenwechsel in Theorie und Praxis. Der erste Abschnitt ist der Dekonstruktion neoklassischer Wirtschaftstheorie gewidmet. Schulmeister behandelt darin die gleichgewichtszentrierten Lehrbuchmodelle für Güter-, Arbeits- und Finanzmärkte.
Es ist verständlich, dass der Autor einzelnen Ausdifferenzierungen dieser Modelle nicht allzu viel Platz einräumen möchte – allerdings wirkt die Kritik oft etwas holzschnittartig. Natürlich haben die fundamentalen Grundannahmen der Neoklassik, wie das nutzenmaximierende Verhalten des homo oeconomicus, vollkommene Information und rationale Erwartungen, nur wenig mit der Realität zu tun. Diese Reduktion in der Argumentation Schulmeisters macht es den VertreterInnen der Neoklassik in Diskussionen aber zu einfach, die Kritik mit Verweis auf moderne Adaptionen und Abweichungen von diesen Grundannahmen als Strohmannargumente abzukanzeln.
Dabei wird regelmäßig die Verhaltensökonomie angeführt, die menschliches Handeln bei nicht vollkommener Information oder nicht rationalem Verhalten an Finanzmärkten untersucht. Die Kritik Schulmeisters wird durch moderne neoklassische Ansätze nicht ausgehebelt, sie wäre aber noch treffender, wenn sie sich auch explizit auf die neueren Strömungen und ihre Nähe zum neoklassischen Referenzrahmen bezöge. Wer sich damit ausführlicher beschäftigen möchte, greift zusätzlich zu Büchern wie „Debunking Economics“ von Steve Keen oder „Microeconomics: Behavior, Institutions, and Evolution“ von Sam Bowles.
Sehr gewinnbringend ist allerdings ein Exkurs Schulmeisters in die Erkenntnistheorie von Ludwik Fleck, der Theorieproduktion als sozialen Prozess unter Einfluss gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse versteht. Zentral ist dabei die Auffassung, dass die neoklassische Lehrbuchökonomie keineswegs die einzige und unumstößliche Lehrmeinung ist, sondern die derzeit dominante Denkschule in einem Wettstreit von Ideen darstellt.
Im zweiten Abschnitt des Buches zieht Schulmeister Lehren aus der Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit. Er skizziert, wie sich die Spielanordnung des „golden age of capitalism“ in eine Gegen-Aufklärung der Marktreligiosität wandelte – einen Umbau vom Real- zum Finanzkapitalismus. Das bis in die 1970er vorherrschende keynesianische Wirtschaftsmodell zeichnete sich durch Kooperation von Arbeit und Kapital, Konzentration auf Realwirtschaft, Nachfrage durch produktivitätsorientierte Lohnpolitik und Stabilität durch staatliche Intervention aus. Der Finanzsektor war zu dieser Zeit lediglich der Diener der Realwirtschaft.
Dieses Modell wurde untergraben durch neoliberale Theorien über die Stabilität freier Finanzmärkte (Friedman), über die Schädlichkeit (Stigler) bzw. Verzichtbarkeit (Coase) staatlicher Regulierungen, über das Staatsversagen (Buchanan) und über die Sinnlosigkeit von Vollbeschäftigungspolitik (Friedman). Die KeynesianerInnen waren zu selbstsicher und ignorierten diese Angriffe fahrlässig, schreibt Schulmeister. Er skizziert dabei minutiös die erfolgreiche „Reconquista“ der Mont-Pelerin Gesellschaft, die in der Durchsetzung einer finanzkapitalistischen Spielanordnung mündete.
Das ist die bereits aus vielen Publikationen und Auftritten Schulmeisters bekannte Hauptkritik, die auch den dritten Abschnitt des Buches füllt. Er stellt die zwei, wie er es nennt, „Spielanordnungen“ Realkapitalismus und Finanzkapitalismus nebeneinander und untersucht Unterschiede in Bezug auf dominante Interessen, das Verhältnis zum Staat, die Profiteure der jeweiligen Wirtschaftsordnung, deren wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ziele. Schulmeister legt überzeugend dar, dass das realkapitalistische Modell der Nachkriegszeit für breiten Wohlstand und Stabilität sorgte, das finanzkapitalistische Modell hingegen zu tiefen Wirtschaftskrisen und Instabilität führte.
In bekannter Manier spart er in seinem Feldzug nicht mit scharfer und pointierter Kritik. In der neoliberalen Weltanschauung hätten Demokratie, Ethik und Moral keinen Platz, dafür aber Finanzspekulation, Arbeitslosigkeit, soziale Unsicherheit und Armut. Empirisch untersucht er die fünf Rezessionen 1973/74, 1980/82, 1991/93, 2001/03 und 2008/09 und resümiert, dass diese durchweg von Turbulenzen auf den Finanzmärkten ausgelöst wurden. Die staatlichen Defizite waren niemals der Grund für die Krise, sondern die Folge von höherer Arbeitslosigkeit und sinkenden Steuereinnahmen. Wie gewohnt überzeugt Schulmeister in diesem Teil des Buches mit fundierter Kenntnis der Finanz- und Rohstoffmärkte. Er gilt zu Recht als einer der versiertesten Finanzmarktexperten mit dem Talent, die komplexe Materie für interessierte Laien möglichst einfach zu erklären.
Der vierte Abschnitt handelt von der jüngsten Wirtschaftskrise in der Eurozone. Schulmeister hat viel Datenmaterial zusammengetragen, um den Verlauf der Krise ab 2007 zu analysieren. Mit besonderem Augenmerk auf die Ursachen, Narrative, Lösungswege und Folgen der Krise bietet er eine messerscharfe Analyse der verheerenden europäischen Wirtschaftspolitik. Auf die systemischen Wurzeln der Krise gab es keine politische Reaktion, die fehlgeleitete Symptombekämpfung führte hingegen noch tiefer in die Katastrophe.
An der Austeritätspolitik lässt Schulmeister wie viele ÖkonomInnen mit postkeynesianischem Hintergrund kein gutes Haar. Sein Fazit: Die finanzkapitalistische Spielanordnung ist die Hauptursache der europäischen Krise, und die neoliberalen Therapien verschlimmern die Krankheiten wie Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Armut. Eine grundlegende Erneuerung der gescheiterten EU-Regelwerke sei innerhalb der herrschenden Spielanordnung illusorisch, denn wichtige Maßnahmen zur Stärkung von Wirtschaftswachstum, sozialem Zusammenhalt und europäischer Integration widersprechen den Eckpfeilern des Neoliberalismus.
Neoliberalismus als „falsches Ganzes“
Im gesamten Buch schwingt immer wieder etwas Nostalgie mit, wenn Schulmeister über den europäischen Nachkriegskapitalismus schreibt. Das europäische Modell, das sich durch soziale Marktwirtschaft und eine realkapitalistische Spielanordnung auszeichnete, war aus wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten klar dem heutigen überlegen. Der in den 1970ern verortete Wandel zum Finanzkapitalismus stellte für das europäische Modell einen viel größeren Bruch dar als beispielsweise für das US-amerikanische Laissez-faire-Modell. Denn der Sozialstaat europäischer Prägung basiert auf stabilem Wirtschaftswachstum, das unter finanzkapitalistischen Rahmenbedingungen unmöglich wurde, schreibt Schulmeister.
Somit zieht der Ökonom im fünften Abschnitt eine vernichtende Gesamtbilanz des Neoliberalismus. Das neoliberale Gesellschaftsmodell sei ein „falsches Ganzes“, das auch nur „im Ganzen“ überwunden werden könne. Als wichtige Etappen sieht Schulmeister die Aufklärung über die realitätsfernen neoliberalen Theorien sowie die fatalen Folgen der daraus abgeleiteten Politik. Außerdem sei für den Weg zur Prosperität eine neue Navigationskarte erforderlich, die auf realitätsnahen Theorien anstelle von abstrakten, marktreligiösen Modellen beruht.
Der abschließende sechste Abschnitt sammelt Vorschläge für eine solche Navigationskarte. Es ist ein Spagat zwischen der von ihm selbst geforderten Überwindung „im Ganzen“ und realpolitischen Reformen im Bestehenden. Er analysiert rezente Debatten um Vollgeld, bedingungsloses Grundeinkommen, Gemeinwohlökonomie, green growth und degrowth.
Sehr konkrete Vorschläge hat Schulmeister zur Eindämmung der „Finanzalchemie“ parat. Die Gründung eines europäischen Währungsfonds soll eine gemeinsame Finanzierungsagentur aller Eurostaaten sein, die an Bedingungen geknüpfte Kredite für Fiskal- und Wachstumspolitik vergibt. Die Einführung einer generellen Finanztransaktionssteuer zwischen 0,01 und 0,1 Prozent soll überbordende Finanzspekulation eindämmen und Hochfrequenzhandel unrentabel machen. Eine EU-Behörde zur Beaufsichtigung des gesamten Finanzsektors soll dafür sorgen, dass dieser im Dienst der Realwirtschaft steht. Das Buch bietet zudem eine Reihe von konkreten Maßnahmen im Bereich Ökologie (Preispfad für fossile Energieträger, thermische Sanierung und Ausbau der Hochgeschwindigkeitsnetze für Züge) und Soziales (Schaffung von Wohnraum, Mindestsicherung, Beschäftigungsprogramme).
Schulmeister adressiert bei seinen Vorschlägen durchwegs die europäische Ebene. Es ist nachvollziehbar, dass die großen Probleme auch auf einer größeren politischen Bühne gelöst werden müssen. Für manche Fragestellung gibt es aber durchaus auch nationale Spielräume, die hier eher in den Hintergrund geraten, für andere Probleme gibt es hingegen nur globale Lösungen. Der Fokus auf die EU als großer geopolitischer Block in der Weltwirtschaft birgt aber auch viel Diskussionspotenzial. So werden Möglichkeiten skizziert, wie die EU die starke Einflussnahme Chinas am afrikanischen Kontinent bremsen und selbst aktiv werden sollte. Gut gemeint, aber aus postkolonialer Sicht zu Recht höchst umstritten.
Fazit
Schulmeisters „Lebensbuch“ bietet in vielen Bereichen Lehrreiches und Diskussionsstoff, denn es vereint gekonnt ökonomische Theorie, wirtschaftsgeschichtliches Hintergrundwissen, Finanzmarktexpertise, rezente empirische Analysen und eine lange Liste an wirtschaftspolitischen Vorschlägen. Dabei entwickelt er zahlreiche innovative Ansätze, wie etwa den „homo humanus“ als Widersacher des „homo oeconomicus“ oder die „Bullen-Bären-Hypothese“ als Gegenstück zur neoklassischen Effizienzmarkthypothese.
Das Buch lässt sich nicht leicht in eine Literaturrubrik einordnen. Es ist sowohl ein leidenschaftliches Plädoyer für eine andere (keynesianische) Wirtschaftspolitik, eine Abrechnung mit neoliberalen Doktrinen und der Lehrbuchökonomie, ein fundierter Beitrag zur Volksbildung in Wirtschaftsgeschichte als auch ein Lebenswerk aus der jahrzehntelangen Erfahrung eines unbeugsamen Ökonomen. Ein Rezensent beschreibt es in der „Zeit“ treffend als eine Mischung aus Wutausbruch, Lehrbuch und Anklageschrift. Auch wenn viele WegbegleiterInnen Schulmeister als unermüdlichen Mahner und hartnäckigen Kritiker kennen, bleibt er im Buch erfrischend optimistisch: Die Performanz des Neoliberalismus sei derart miserabel, dass er selbst den Boden für seinen Niedergang aufbereite.
Zum Autor:
Matthias Schnetzer ist Ökonom in der Arbeiterkammer Wien sowie Lektor an der Wirtschaftsuniversität Wien. Er twittert als @matschnetzer und bloggt bei awblog.at
Hinweis:
Dieser Beitrag ist zuerst in „Wirtschaft und Gesellschaft“ (Ausgabe 2/2019) erschienen.