In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
„Jawoll“: Erhellende Doku über die AfD – ganz ohne Kommentar
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Dirk Liesemer
Das ist mal wirklich eine besondere Dokumentation: ganz ohne Kommentare, ohne Fragen, nicht einmal die Namen der Politiker werden eingeblendet. Es ist einfach nur eine Kamera da, die stundenlang filmt. Natürlich ist auch eine solche Doku nicht objektiv im allerstrengsten Sinne, weil ja immer noch Szenen zu einer Geschichte montiert werden. Aber ich finde, der fast zweistündige Film von Simon Brückner gibt einen erstaunlich guten, nüchternen und ziemlich neutralen Einblick ins Innenleben und in die virulenten Konflikte dieser Partei. Als Zuschauer erlebt man recht eindrücklich, wie sich die AfD von einer nationalliberalen zu einer völkischen Partei wandelt, wie sich bei internen Besprechungen meist populistische Argumente durchsetzen – und wie sich die Organisation immer mehr international vernetzt. Leider nur abrufbar bis zum 29. September 2023.
Europaparlament reagiert auf Katar-Gate
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Jürgen Klute
Einige Leserinnen und Leser erinnern sich sicher noch an Katar-Gate, jenen Schmiergeld-Skandal im Europäischen Parlament, den die belgische Staatsanwaltschaft kurz vor dem Weihnachtsfest 2022 aufgedeckt hat. In dieser Woche hat sich das Europäische Parlament auf seiner Plenarsitzung in Straßburg neue Regeln gegeben, die eine Wiederholung von Katar-Gate verhindern sollen.
In den deutschsprachigen Medien hat die Entscheidung des Europäischen Parlaments kaum einen Widerhall gefunden. Immerhin hat die taz darüber einen Bericht von Eric Bonse veröffentlicht. Bonse skizziert die neuen Regelungen und präsentiert zudem einige Reaktionen von Europaabgeordneten und aus der Zivilgesellschaft auf die neuen Regeln.
Bemerkenswert ist, dass die konservative EVP/EPP-Fraktion im Europäischen Parlament, der auch die CDU- und CSU-Mitglieder aus der Bundesrepublik angehören, unter der Leitung des deutschen CSU-Mitglieds Manfred Weber der Neureglung nicht zugestimmt haben.
Zerfällt Deutschland? Eine neue Studie von More in Common
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Achim Engelberg
Es ist ein Misstrauensvotum ersten Ranges, das Lenz Jacobsen und Mia Janzen auf Zeit.de auf Grundlage einer neuen, aufregenden Studie darstellen.
Ihr Fazit:
In der Summe attestiert More in Common eine gesellschaftliche Selbst- und Politikwahrnehmung, die „das Bild einer vermeintlich dysfunktionalen Demokratie befeuern“ könnten. Das kann man, wenn man will, als weitere Erklärung für den momentanen Umfrage-Aufstieg der AfD deuten. Aber allein mit parteipolitischen Folgerungen würde man der Reichweite des gesellschaftlichen Zerfallsprozesses, den diese Studie jetzt noch deutlicher als vorherige vermessen hat, kaum gerecht werden. Ungerecht, gespalten, egoistisch, unfähig: Eine neue Studie zeigt drastisch wie nie, welch negatives Bild die Deutschen mittlerweile von ihrem Land haben.
Hier gibt es einen Link zur „Neuen Studie zu gesellschaftlichem Zusammenhalt nach einem Jahr Preiskrise„.
Hier die wichtigsten Thesen:
1.) Das Ungerechtigkeitsempfinden steigt weiter
2.) Fast ein Drittel bleibt unsichtbar
3.) Mehr als die Hälfte beschreibt Deutschland als „gespalten“
4.) Egoismus-Diagnosen verfestigen sich
5.) Die Mehrheit ist unzufrieden mit dem Handeln der Regierung
Die große Gefahr ist möglicherweise diese:
Das Land scheint sich mit sich selbst auf einen Pessimismus geeinigt zu haben, der dann, wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, die schlechten Zustände noch bestärkt oder sie erst richtig hervorbringt.
Macht & Millionen: Scoops – ein Real-Crime-Wirtschafts-Podcast
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Jan Freitag
Business Insider war einst ein Wirtschaftsportal mit überschaubarer Resonanz abseits involvierter Kreise – bis es die Lawine der Gebührenverschwendung beim RBB und damit auch eigene Click-Zahlen ins Rollen brachte. Dabei gehört die Plattform zwar zu Springer, liefert aber seriösen Journalismus, der nichts mit dem Kampagnen-Populismus nebenan zu tun – und einen höchst interessanten Podcast produziert.
Er heißt Macht und Millionen, thematisiert Wirtschaftsskandale aller Art und hat sich in mittlerweile sechs Staffeln zu Recht ein treues Publikum erarbeitet. Jetzt folgt ein Ableger für Real-Crime-Fans. In Macht und Millionen: Scoops unterhält sich Chefredakteur Kayhan Özgenc mit Redakteurin Solveig Gode über aktuelle Skandale aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Zum Auftakt geht es in knackigen 30 Minuten um den Öl- und Gaskonzern Gazprom, genauer: die deutsche Dependance und was es mit der Verstaatlichung von Gazprom Germania nach Russlands Überfall auf die Ukraine auf sich hat. Stimmlich klingen Özgenc und Gode dabei oft boulevardesk. Inhaltlich aber machen sie Sachverhalte deutlich, die für Eingeweihte und Laien gleichermaßen erhellend wirken.
So gesehen tut der Business Insider, was Bild & Welt minus Hass & Spaltung bieten könnten: leicht verständliches Infotainment, das Begriffe wie „Asset Swap“ und „Scoop“ ebenso greifbar macht wie die Komplexität kapitalistischer Verflechtungen und fossiler Warenströme. Zusammengenommen: nicht die Neuerfindung des Info-Podcasts, aber ein solides Stück Wirtschaftsjournalismus zum Hören.
Chronist der Gegenwart: Stephan Lambys Doku über die Ampelkoalition
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Dirk Liesemer
Ehrlich gesagt bin ich hin- und hergerissen, aber letztlich möchte ich diese Dokuserie doch empfehlen: Seit dem ersten Tag der Amtsübernahme von Olaf Scholz begleitet der Filmemacher Stephan Lamby die Protagonisten der rotgrüngelben Regierung mehr oder weniger auf Schritt und Tritt durch die Welt und dokumentiert dabei fast minutiös den politischen Tidenhub in der Koalition sowie darüber hinaus.
Es ist nicht so, dass man unglaublich viel Neues erfährt, aber spannend ist es schon, diesem Räderwerk samt Pressetross einmal aus der Nähe zuzuschauen, auch wenn es zuweilen fast wie eine Homestory wirkt, was in der Abmischung aber okay ist.
Irritierend finde ich, dass man als Zuschauer nur ahnt, wie sehr die beiden zeitgeschichtlichen Großkonflikte – der Krieg in der Ukraine und der Klimawandel – über Kreuz liegen und die politischen Prozesse immer wieder eskalieren lassen. Gerade hier hätte Lamby aufgrund der Nähe zu seinen Protagonisten seine Vorteile ausspielen können. Denn den Kampf gegen den Klimawandel hatte sich diese Regierung ja auf die Fahnen geschrieben. Warum dieser Konflikt nicht leitmotivisch herausgearbeitet wurde, gerade auch im Gespräch mit den Protagonisten, bleibt rätselhaft.
Trotzdem ist die Serie empfehlenswert, schon allein um sich zu vergegenwärtigen, wie viel Stress heutzutage im politischen Geschäft herrscht. Und das zeigen die drei bisher veröffentlichten Filme eindrucksvoll – trotz stets akkurat aufgeräumter Ministerialbüros.
7 Tipps für Medien, um besser übers Klima zu berichten
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Simon Hurtz
Der Sommer ist heiß, mal wieder. In Kanada und Kalifornien brennt der Wald, mal wieder. Aber können wir jede Hitzewelle und jedes Extremwetterereignis wirklich mit Sicherheit auf den Klimawandel zurückführen? Ist es richtig, wenn wir schreiben, dass die Erderhitzung dazu beiträgt, dass Naturkatastrophen zunehmen?
Solche Fragen stellen sich Redaktionen regelmäßig. Im Idealfall werden solche Meldungen von Redakteurinnen und Reportern geschrieben, die sich auf Klimathemen spezialisiert haben. Das klappt aber nicht immer. Vielen Medien fehlt es dafür an Ressourcen und Fachwissen, zudem lassen sich nicht alle Schichten in Randzeiten mit Klimaexpertïnnen besetzen.
Was also tun? In der taz gibt Sara Schurmann sieben Ratschläge, wie Medien ihre Klimaberichterstattung schnell und nachhaltig verbessern können:
- Kontext liefern
- Klima immer und überall mitdenken
- Strukturelle Probleme anerkennen
- Redaktionen mehr Fachwissen ermöglichen
- Verzögerungsnarrative einordnen
- „False Balance“ vermeiden
- Lösungen kritisch mitberichten
Ich habe im vergangenen Dreivierteljahr an den Seminaren des Oxford Climate Journalism Network teilgenommen. In der Theorie war mir die existenzielle Dimension der Klimakrise auch davor bewusst. Aber es ist doch noch einmal etwas anderes, wenn führende Forscherïnnen in eindrücklichen Vorträgen erzählen, wie drastisch wir Menschen die Erde verändern – und wie wenig Zeit uns noch bleibt, die schlimmsten Folgen abzumildern.
Auch deshalb halte ich fundierten Klimajournalismus für so wichtig. Denn wissenschaftliche Fakten zu berichten, ist eben nicht „aktivistisch“ oder „unparteiisch“, wie Sara anmerkt:
Der Begriff „False Balance“ war für viele Journalist*innen vor der Coronapandemie genauso nebulös wie „Inzidenz“ oder „R-Wert“. In Bezug auf die Klimaberichterstattung scheint die Bedeutung auch heute für viele noch unklar. Dabei kann „False Balance“ zu jeder möglichen Detailfrage erzeugt werden: Dazu etwa, welche Rolle E-Fuels auf dem Weg zur Klimaneutralität spielen, mag es politisch unterschiedliche Meinungen geben – wissenschaftlich ist die Frage relativ eindeutig zu beantworten. Journalistisch jedoch unterbleibt diese Einordnung oft, aus Unwissen, oder aus der Angst heraus, „parteiisch“ zu wirken.
Naomi Klein über die gefährliche Macht der Verschwörungstheorien
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Ole Wintermann
Die Corona-Pandemie hat Verschwörungstheorien befördert, die für viele Bürger einen gefährlichen Doppelgänger der politischen Realität konstruiert haben, so Naomi Klein in einem sehr lesenswerten Interview im „New Yorker“.
Dramaturgischer Ausgangspunkt zu ihrem neuen Buch „Doppelgänger“ ist ihre Erfahrung, dass sie beständig mit der politischen Vordenkerin der US-Rechten, Naomi Wolf, namentlich verwechselt wird. Naomi Wolf ist nicht nur ihre namentliche Doppelgängerin, sondern auch ihr „rechtes“ Pendant in der politischen Debatte zu aktuellen Themen. Naomi Klein fand es irritierend, dass seit der Pandemie scheinbare inhaltliche Schnittmengen zwischen der äußeren Rechten und der äußeren Linken auftreten. So kritisieren beide Frauen Bill Gates und seine Rolle bei den weltweiten Impfkampagnen, dies jedoch aus vollkommen unterschiedlichen Gründen. Während Klein auf die Gefahren des Geoengeneering hinweist, zeigt Wolf auf vermeintliche Chemtrails. Die linke Massenbewegung protestiert gegen neue Öl-Pipelines in Alaska, die kanadischen Trucker haben gegen die Impfpflicht protestiert. In Deutschland wird dieses Phänomen von der bürgerlichen Rechten als „Hufeisentheorie“ deklariert, um das politisch linke Lager damit zu diskreditieren. Klein´s Buch hat damit absolut starke Relevanz auch für die deutsche Debatte der nächsten Jahre.
Klein appelliert an die Lesenden, misstrauisch zu sein, wenn Verschwörungstheorien einen Doppelgänger der politischen Realität aufbauen wollen, um die Wählenden dazu zu bewegen, gegen demokratische Systeme vorzugehen. Im deutschen Sprachgebrauch könnte man in diesem Kontext vielleicht von einem politischen Scheinriesen sprechen; für real existierende Probleme, in deren Wahrnehmung es von beiden politischen Lagern keine signifikanten Unterschiede gibt (Beispiel: prekäre Arbeitsverhältnisse), werden von Rechtsaußen scheinbare Lösungen präsentiert, die sich aber bei genauerem Hinsehen als Scheinlösungen erweisen. Bis der Scheinriese aber als solcher erkannt wird, ist bereits der erste Schritt hinein in antidemokratisches Denken vollzogen worden. Mit Blick auf den Rechtsaußen-Protagonisten Steve Bannon sagt Klein:
„What Bannon did with the forgotten everyman is what he’s been doing more recently with the angry everymom, and that’s who my doppelgänger represents to him—the frazzled covid mom who feels mocked and dismissed. He says, “Come on over,” and then he moves very quickly from masks and vaccines to “critical race theory” and transphobia.“
Klein bezieht sich explizit auf den deutschen Begriff der „Querdenker“, als sie im Interview auf diese Art der Nutzung linker Denkmuster für rechtsextremes Gedankengut hinweist. Spannender Weise erwähnt sie in dem Kontext auch die Hufeisentheorie, trennt dabei jedoch zwischen traditionellen Linken und „grünen Linken“ und erteilt der Theorie damit eine Absage. Politische Einheizer wie Bannon nutzen die feinen aber entscheidenden Differenzen, um die Menschen mit sogenannten „gefälschten Skandalen“ („Graichen“ lässt grüßen) in die Irre zu führen. Mit Blick auf Deutschland, wo derzeit ebenfalls eine Person versucht, sich als deutscher Steve Bannon aufzubauen, sollten wir die Analyse von Klein immer mitdenken und uns so vor dem Virus des rechten Populismus schützen.