Fremde Federn

Reformstaatsvertrag, Politikstil-Wechsel, Myers-Briggs

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Weshalb sich der KI-Hype im Kreis dreht, wie der Klimawandel das Flutrisiko verdoppelt und warum die Labour-Regierung bereits erste Erwartungen enttäuscht hat.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst Forum (früher piqd) eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. Formum.eu versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wie sich der KI-Hype im Kreis dreht

piqer:
Jannis Brühl

Jürgen Geuter alias „tante“ ist einer der pointiertesten Kritiker der Tech-Ökonomie von links. Dieser knappe Text von ihm weist auf ein zentrales Problem des KI-Hypes hin: Viele Unternehmen setzen KI-Projekte in den Sand – nicht, weil es bei IT-Projekten eben eine hohe Quote des Scheiterns gibt. Sondern weil mit KI umzugehen äußerst schwierig ist und verschiedene Voraussetzungen benötigt. Deshalb scheitern KI-Projekte sogar doppelt so oft wie andere IT-Projekte.

Aber Geuter geht noch weiter. Er sieht einen fundamentalen Fehler, wie Organisationen über KI nachdenken.

It’s not that those tools save time or whatever, it’s that they are “a way to start integrating AI”. It’s fully decoupled from what it can actually meaningfully do and is turned into a totem

Sprich: Es geht bei KI nicht darum, Probleme zu lösen, sondern um … KI! Die Diskussionen darüber ebenso wie ihr Einsatz drehen sich in diesem lauten Hype im Kreis. Das sei das Problem an der „leeren Innovation“, die so viel Zeit, Energie und Geld in Unternehmen aufsauge – ohne dafür wirklich Verbesserungen zu bringen. Ein Anstoß, die Wahrnehmung von KI im Speziellen und von Software-„Lösungen“ im allgemeinen kritisch zu hinterfragen.

Als unterhaltsamen Bonus bezeichnet der Text LinkedIn als „the most wretched hive of drivel and boosterism“: 😉

Der Klimawandel verdoppelt das Flutrisiko

piqer:
Nick Reimer

Extremwetter-Ereignisse werden häufiger und intensiver, sagt die Attributionsforschung. Diese untersucht den Einfluss des Klimawandels auf Hitze, Stürme und Fluten. Es lässt sich nämlich  mittlerweile sehr gut bestimmen, wie stark der Klimawandel ein Wetterextrem ausformt.

Beispielsweise die Hochwasserkatastrophe 2021, die im Juli in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen mindestens 180 Menschen das Leben gekostet hatte. Eine Studie, an der der Deutsche Wetterdienst DWD beteiligt war, ergab, dass die Erderwärmung die Eintrittswahrscheinlichkeit solcher Katastrophen um einen Faktor zwischen 1,2 und 9 erhöht. Oder die Hitze im Mai und Juni in Mexiko und den USA: Der menschengemachte Treibhauseffekt macht solch hohe Temperaturen 35-mal wahrscheinlicher.

Nun kam eine Studie zu den jüngsten Hochwassern in Mitteleuropa zu dem Schluss: Ohne Klimawandel wären solch verheerende Extremwetter deutlich seltener. Die Niederschläge des Sturms „Boris“ vom 12. bis 15. September seien der stärkste bisher erfasste Vier-Tage-Regen in Mitteleuropa seit Beginn entsprechender Aufzeichnungen 1940 gewesen, teilte die Wissenschaftler-Initiative World Weather Attribution mit.

Der Studie zu Folge ist das Hochwasser, das gerade aus Polen, Tschechien, Österreich und Rumänien abfloss, mittlerweile doppelt so wahrscheinlich geworden, wie Klaus Haslinger vom österreichischen meteorologischen Dienst Geosphere auf dem Extremwetterkongress 2024 in Hamburg erläuterte. Mit seinem Team untersuchte Haslinger und sein Team in einer Studie, wie die Erderwärmung Regen über Mitteleuropa „mehr“ macht. „Je wärmer die Luft wird, desto mehr Feuchte kann sie aufnehmen, die dann als Regen herunterkommt“, sagte Haslinger, der dem Hamburger Kongress life zugeschaltet war. Fluten werden dadurch höher.

Zukunft für die Öffis?

piqer:
Marcus von Jordan

Leonhard Dobusch war mal im ZDF-Fernsehrat der „Internetmensch“ und ist jetzt im ZDF-Verwaltungsrat. Seit Jahren erklärt der sachlich die Medienpolitik – auch den Medienpolitiker’innen, schätze ich.

Hier ordnet er den „Vorschlag der Länder für einen Staatsvertrag zur Reform öffentlich-rechtlicher Medienangebote“ ein. Es gibt nicht wenige deutliche Schritte nach vorne, aber man kann eben auch zurückbleiben, wenn man stehen bleibt, und so reicht das digitale Grundverständnis an entscheidenden Stellen immer noch nicht aus, um zu verstehen, wie völlig widersinnig das Konzept der Vermeidung von „Presseähnlichkeit“ ist. Dobusch zitiert hier seine eigene, sieben (!) Jahre alte Aussage dazu:

Presse im Internet ist ein multimedialer Mix aus Text, Bild, Video- und Audiomaterialien. Presseähnlichkeit als Kriterium hat sich damit überlebt. Vielmehr geht es um die Grundsatzfrage, ob es beitragsfinanzierten Journalismus online geben soll oder nicht. […] Denn den Textanteil online zu reduzieren […] bedeutet letztlich vor allem eines: einen qualitativ schlechteren, öffentlich-rechtlichen Rundfunk im digitalen Zeitalter. […] Dieser Weg ist kurzfristig falsch und unterminiert langfristig die Legitimität öffentlich-rechtlicher Angebote im Netz.

Noch mal oberflächlich gesagt: Die Öffis sollen sich mit Text im Netz beschränken, weil sie sonst den Zeitungsverlagen Konkurrenz machen würden. Ich kann mir keinen noch so verbohrten Verlags-Lobbyisten mehr vorstellen, der das immer noch als Problem sehen würde. Aber ich kann mir viel nicht vorstellen.

Interessant für mich auch das Thema „Öffis und Europa“.

Hinzu kommt die gesetzliche Aufforderung, Vernetzung und Kooperation mit anderen öffentlich-rechtlichen Medien in Europa in diesem Bereich zu forcieren.

Da gibt es bei der EBU seit Jahren eine Unit, die Übersetzungs-Software baut und bei der glaube ich neun internationale Anstalten (in Deutschland nur der BR) übersetzte Inhalte poolen. Gezielt suchen und finden kann man die allerdings bis jetzt nicht. Ich versuche schon seit bald 1,5 Jahren eine Kooperation für Forum zu organisieren, sodass wir spannende, übersetze Inhalte bekommen und die EBU ein nutzernahes Outlet – was soll ich sagen?… Don Quijote wäre stolz auf mich.

Schafft die Labour-Regierung den Politikstil-Wechsel?

piqer:
Silke Jäger

Vor der Wahl des britischen Unterhauses im Juli wurde ordentlich Bilanz gezogen und der Vorgänger-Regierung ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt. Keir Starmer, der Labour-Chef und seit dem 5. Juli 2024 der neue Premier-Minister Großbritanniens, versprach neben zahlreichen Reformen einen neuen Politikstil. Er gewann die Wahl unterm Strich damit, dass er vieles anders machen wollte als die konservativen Tories.

Viele Wähler:innen erwarteten, dass dieses Versprechen eine solidere Unterstützung der von Armut Betroffenen, ein Ende der undurchsichtigen Spendenflüsse und eine grundlegende Reform der sozialen Sicherungssysteme beinhalten würde. Doch zumindest bei den ersten beiden Punkten dieser Liste scheinen die Erwartungen bereits enttäuscht zu werden. Der Heizkostenzuschuss für bedürftige Rentner:innen wird gestrichen und sowohl das Ehepaar Starmer als auch die Vize-Vorsitzende der Labour-Partei und Ministerin für Wohnungsbau, Angela Rayner, fallen dadurch auf, dass sie seit 2019 luxuriöse Geschenke von großzügigen Spendern angenommen haben.

Die Finanzministerin Rachel Reeves sagt, sie habe ein 25 Milliarden großes Loch im Haushalt gefunden. Damit begründet Keir Starmer nun zahlreiche Einschnitte für Menschen, die auf den Sozialstaat angewiesen sind. So will er beispielsweise Leute, die sich soziale Leistungen erschleichen, härter sanktionieren. Doch auf der anderen Seite soll das britische Königshaus 45 Millionen Pfund mehr von den Steuerzahlern erhalten.

Immerhin hat er den streikenden Jungärzten Angebote gemacht, sodass sie ihren Protest (vorerst) niederlegten. Und auch die rassistischen Unruhen nach dem Mord an drei kleinen Mädchen in Nordengland Anfang August konnte er relativ schnell beruhigen – auch wenn im Nachgang 1.000 Häftlinge aus den privatisierten Gefängnissen entlassen werden mussten, weil die Gefängnisse völlig überfüllt waren. Über die Privatisierung von Gefängnissen wird in UK bereits seit Jahren heftig diskutiert.

Heute will Starmer auf dem Labour-Parteitag eine Rede halten. Viele erwarten weitere Ankündigungen von Sparmaßnahmen. Solange sich jedoch die Parteispendenkultur nicht ändert und der Staatshaushalt Prioritäten im Sinne der Privilegierten setzt, dürfte sich der Eindruck der Bevölkerung weiter erhärten: „Politiker sind alle gleich“ und „Es ist egal, wen ich wähle: Es ändert sich nichts.“ Ein neuer Politikstil geht anders.

Auch wenn der Eindruck in dieser Pauschalität nicht stimmt – das Gefühl der Ernüchterung droht den Blick zu trüben für die Ideen, die tatsächlich im Kontrast zur Politik der Vorgänger-Regierung stehen.

Dieses kurze Hörstück gibt einen kompakten Überblick zu den Diskussionen über die Labour-Regierung.

Wie wissenschaftlich sind Persönlichkeitstests wie Myers-Briggs?

piqer:
Theresa Lachner

Mitfühlend, idealistisch, fantasievoll und visionär, sensibel? Na klar, das bin doch ich! Zumindest, wenn ich meinem Myers-Briggs-Testergebnis INFJ glaube.

ISFP, ENTP oder doch ESFJ? Wer diese merkwürdigen Buchstabenkombinationen in Dating-Profilen oder auf Lebensläufen sieht, weiß, dass das Gegenüber einen Myers-Briggs-Persönlichkeitstest gemacht hat. In meiner Bubble war das vor etwa zehn Jahren der letzte Schrei, zumindest bis die kostenlosen Onlinefragebögen bei denselben Menschen immer wieder unterschiedliche Resultate erbrachten. So ganz wissenschaftlich scheint das Prinzip „Es gibt genau 16 Persönlichkeitstypen und jede*r von uns entspricht genau einem davon“ dann wohl doch nicht zu sein?

Michael Hobbes und Aubrey Gordon debunken in ihrem viel gelobten Podcast „Maintenance Phase“ normalerweise Diäten und Wellnesstipps, in dieser Folge nehmen sie sich nicht nur der Geschichte des Myers-Briggs-Tests an, sondern auch alle anderen Arten von Persönlichkeitstests unter die Lupe. Das Problem liegt auf der Hand: Die Ergebnisse beruhen auf subjektiven, weil selbst berichteten Daten.

Du bist sehr selbstkritisch. In dir steckt noch sehr viel ungenutztes Potenzial. Du hast das Bedürfnis danach, von anderen Menschen gemocht und bewundert zu werden. Du bist ein*e unabhängige*r Denker*in und verlässt dich nur auf Fakten, die bewiesen werden können.

„Klingt total nach mir!“ – dachten sich auch die Student*innen von Betram Forer, einem Psychologen, nachdem 1949 der Forer Effekt benannt wurde. Er gab seinen Student*innen einen Persönlichkeitsfragebogen und wertete eine Woche später die Ergebnisse aus – auf einer Skala von 1 bis 5 fanden die Student*innen ihre Persönlichkeit mit 4.3 ziemlich akkurat repräsentiert. Dumm nur: sie alle hatten dieselben Antworten erhalten. Und diese stammten aus einem Astrologiemagazin vom Kiosk. Der Forer Effekt besagt: Je schmeichelhafter die Ergebnisse sind, die so ein Test ergibt, für umso akkurater halten wir sie.

Deswegen glauben wir einem Horoskop, das Großes für uns bereithält, oder uns sagt, dass wir uns Mittwoch lieber schonen sollten, weil wir so hart gearbeitet haben, auch so besonders gerne.

Die Geschichte des bis heute in Firmen-Assessment und Datingapps genutzten Myers-Briggs-Tests ist ähnlich hanebüchen und wird in dieser Maintenance Phase-Folge genüsslich zerpflückt. Nicht nur für introvertierte Skeptiker*innen mit Mondphase im Wassermann hörenswert.