Fremde Federn

RCEP, rechtsextreme Resterampe, Meeting-Flut

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Akademiker sitzen nur noch in Meetings herum, wie Griechenlands Wirtschaft heute läuft und warum China noch nicht am Zenit seiner Macht ist.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst Forum (früher piqd) eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. Formum.eu versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Ostasien – die weltgrößte Freihandelszone

piqer:
Thomas Wahl

Während sich Europa in vielen Wertediskussionen, Problemfeldern und Herausforderungen zu verzetteln scheint, entsteht in Ostasien die wohl weltgrößte Freihandelszone – RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership). So wird das Transatlantische Freihandelsabkommen (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) zwischen der EU und den USA seit 2013 verhandelt und besonders von außerparlamentarischen Organisationen, die sich selbst als Zivilgesellschaft bezeichnen, mit vielen Details wütend bekämpft. Dagegen konnte das ostasiatische Abkommen nach 31 Verhandlungsrunden in acht Jahren zu Ende verhandelt werden. Mit einer während der Covid-Pandemie virtuellen Unterzeichnungszeremonie im November 2020 wurde ein sogenanntes megaregionales Freihandelsabkommen offensichtlich ganz pragmatisch realisiert.

Die meisten Länder implementierten es 2022, die Philippinen und Indonesien letztes Jahr, es ist also jetzt in Kraft für ganz Ostasien (ausser für Myanmar, aus politischen Gründen). Es umfasst die zehn Mitglieder der Vereinigung südostasiatischer Länder (Asean) sowie Australien und Neuseeland, die Volks­republik China, Japan und Südkorea. Obwohl Indien beim Abschluss nicht mehr dabei war, ist das Gewicht dieses Handelsblocks gewaltig: Die RCEP umfasst eine Bevölkerung von 2,4 Milliarden Menschen (30,3 Prozent der Weltbevölkerung), ein regionales Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 25 873 Milliarden US-Dollar (30,6 Prozent des globalen BIP), einen regionalen Handel im Wert von 10 173 Milliarden Dollar (29,1 Prozent des Welthandels) und rund 31 Prozent der weltweiten Direktinvestitionen. Der Handel innerhalb der RCEP macht 44,1 Prozent des Aussenhandels der Mitgliedstaaten aus, für die Asean-Länder deckt das Abkommen sogar 50 bis 60 Prozent der jeweiligen ­Exporte und Importe ab.

Es konstituiert sich also eine Freihandelszone aus Partnern mit durchaus kontroversen Wertetraditionen auf Basis offensichtlich gemeinsamer Interessen und mit gemeinsamen Regeln. Die ASEAN brachte die wirtschaftliche Schwergewichte der Region an einen Tisch. Auch wenn Indien aus dem Prozess ausstieg, vereint RCEP Wettbewerber wie Japan und Südkorea sowie Japan und China zum ersten Mal in Freihandelsbeziehungen. Sie sind damit Teil einer die ganze Region Ostasien umfassenden Freihandelszone mit einem einheitlichen Regelwerk. Etwas, was mit TTIP zwischen der EU und den Vereinigten Staaten mit ihrer (angeblich?) gemeinsamen Wertebasis bis heute nicht gelingen will. Man muß sagen, das zeigt einerseits eine klare Schwäche des Westens und ist gleichzeitig ein Einschnitt von historischer Bedeutung, nicht nur für Ostasien. Laut Wikipedia umfasste

RCEP ….. in der ursprünglich beabsichtigten Form (mit Indien) Staaten mit insgesamt ca. 3,6 Milliarden Menschen und einem Bruttoinlandsprodukt von etwa 17 Billionen US-Dollar, ohne Indien sind es zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch rund 2,2 Milliarden Menschen. Es betrifft (ebenfalls Stand 2020) knapp 30 Prozent des Welthandels, mit Indien wären es etwa 40 Prozent (zum Vergleich: die Europäische Union repräsentiert rund 33 % des Welthandels). Da für Asien, im Unterschied zu Europa, ein weiteres Bevölkerungswachstum prognostiziert wird und insbesondere für die Volksrepublik China ein weiterer starker Anstieg des Bruttoinlandsprodukts, wird die RCEP auch ohne Indien künftig die größte Handelszone der Welt sein.

Während vor allem die westliche Welt vor dem Klimawandel zittert und sonst

kaum noch Projekte und Visionen hat und sich auf Deglobalisierung, Derisking und weitergehende Disruptionen einstellt, hat sich Ostasien in eine gute Ausgangsstellung für die nächste Globalisierungsrunde gebracht. Konfrontiert man Beteiligte mit der vor allem in den USA ­geläufigen Annahme, die RCEP sei «China-driven», stösst man auf einhellige und bestimmte Ablehnung. Die Verhandlungen seien durchgängig unter indonesischem Vorsitz geführt, die zentrale Rolle der Asean sei von allen Beteiligten respektiert worden und das Ergebnis trage die «Handschrift» der Staatenvereinigung.

Offensichtlich ist auch die Tatsache, das 7 der 15 RCEP-Länder auch an der konkurrierenden CPTPP (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership) teilnehmen – neben Japan, Australien und Neuseeland auch vier ASEAN-Staaten, nämlich Singapur, Brunei, Malaysia und Vietnam – kein Hinderungsgrund gewesen.

Sicher werden die sich überlagernden Regelsysteme von RCEP (2022) und CPTPP (2018) in der Region Konsequenzen haben. Was aber kein Grund war, schon vorab endlos über mögliche Probleme zu diskutieren.

Dass die beiden Initiativen sich gegenseitig beeinflussen und in einem Konkurrenzverhältnis standen, war schon während der Verhandlungen ­offensichtlich. Im Falle der sieben Länder, die in beide Prozesse involviert waren, nahmen oft dieselben Diplomaten und Experten an beiden Verhandlungen teil und brachten dement­sprechend ihre Ambitionen und laufend gemachten Erfahrungen ein, zumal die CPTPP früher startete und deutlich rascher vorankam.

So zitiert der empfohlene Artikel den ehemaligen indonesische Handelsminister Wirjawan, der meinte, dass

 es für durchschnittliche Laoten, Kambodschaner und Indonesier vor allem um Arbeitsplätze geht, die mit Fabriken ent­stehen, bevor wir anfangen, uns über Datenschutz und -sicherheit, geistiges Eigentum und Menschenrechte zu unterhalten.

Ein Verständnis für diese Haltung und solchen Pragmatismus wünscht man sich dringend auch in Europa.

Nein, China ist nicht am Zenit seiner Macht

piqer:
Emily Kossak

Ob aus Schadenfreude oder Erleichterung, rund um den Globus reibt man sich die Hände angesichts der wirtschaftlichen Situation Chinas: Die Wachstumsraten betragen „nur noch” um die vier bis fünf Prozent jährlich, die Bevölkerung überaltert, junge Leute haben es schwer, Arbeit zu finden.

Journalist*innen und Autor*innen stellen unter dem Stichwort “Peak China” fest: Das wirtschaftliche Wunder Chinas ist vorbei, das Land werde nicht mehr an den USA vorbeiziehen (der Guardian hat “Peak China” gar eine ganze Serie gewidmet).

Das ist ein vorschnelles Urteil, zeigt der Politikwissenschaftler Evan S. Medeiros in der Foreign Affairs. Warum dieser Text lesenswert ist, lässt sich mit einem Zitat zusammenfassen:

Statt die Ängste und Hoffnungen des Westens auf China zu projizieren, sollten westliche Politiker verstehen, wie Chinas Führung ihr Land und ihre eigenen Ambitionen wahrnimmt.

Der “Peak China” Diskurs verkörpert die klassischen Merkmale der Berichterstattung über China: Kurzsichtigkeit und Orakeln über die Zukunft des Landes. Und, wie Medeiros schon so treffend sagte, Projektionen westlicher Hoffnungen anstatt Erforschung der chinesischen Ziele.

Medeiros Artikel ist ein treffender Gegenentwurf, der, ohne sich Illusionen zu machen, fragt: Welche Ziele strebt Xi Jinping an, und warum nimmt er dafür einen wirtschaftlichen Niedergang in Kauf? Er erinnert dabei auch an folgendes:

Wenn man aus den vergangenen 40 Jahren eine Lehre ziehen kann, dann die folgende: Der Kommunistischen Partei Chinas und ihrer Wirtschaftsführung gelingt es beinahe immer, sich gegen alle Widrigkeiten durchzuboxen.

Der Text ist ein reality-check, aus dem man mit Antworten anstatt Fragen herausgeht – und gleich mal googelt, was Xi Jinping eigentlich mit der „Großen Verjüngung Chinas“ meint.

Wie läuft Griechenlands Wirtschaft heute?

piqer:
Jürgen Klute

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 2. Juli 2024 unter dem Title „Reports raise questions about some economic policy decisions“ auf dem englischsprachigen griechischen Nachrichtenportal MacroPolis. Der Beitrag gibt einen Einblick in die aktuelle makroökonomische Entwicklung Griechenlands.

Berichte stellen einige wirtschaftspolitische Entscheidungen in Frage

Zwei Berichte, die letzte Woche veröffentlicht wurden [in der letzten Juni-Woche] – der geldpolitische Bericht der Bank von Griechenland und der Quartalsbericht des parlamentarischen Haushaltsbüros – haben Themen beleuchtet, die die Regierung in den letzten Monaten unter den Druck der Oppositionsparteien gesetzt haben und die Zweifel an einigen politischen Entscheidungen der regierenden Konservativen aufkommen lassen.

Die Bank von Griechenland (BoG = Bank of Greece) sieht einen nachhaltigen und relativ stabilen Wachstumspfad auf kurze Sicht, wobei die Schätzung für dieses Jahr bei 2,2 Prozent, dann 2,5 Prozent im Jahr 2025 und 2,3 Prozent im darauffolgenden Jahr liegt. Die diesjährige Schätzung der BoG ist etwas bescheidener als die Prognose des Finanzministeriums von 2,5 Prozent.

Die griechische Zentralbank weist darauf hin, dass diese Schätzungen Risiken unterliegen, die sich aus möglichen unerwarteten Wendungen der geopolitischen Ereignisse in der Ukraine und im Nahen Osten ergeben. Die griechische Zentralbank betont jedoch auch, dass ein anderes Problem, das die Wachstumsaussichten unter den aktuellen Pfad drücken könnte, die geringe Inanspruchnahme von EU-Mitteln im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität [RRF = Recovery and Resilience Facility*] ist, ein Problem, das seit der Gründung des EU-Konjunkturfonds aufgrund seines engen Zeitrahmens und der bürokratischen Herausforderungen in Griechenland besteht.

Es wird unterstrichen, dass selbst die Darlehenskomponente, die über Geschäftsbanken vergeben wird und nicht den langwierigen Verfahren der Bewilligung von Fördermitteln durch den Staat unterliegen, nicht so schnell voranschreitet, wie man es sich wünschen würde. Die Auszahlung der Darlehen hinkt den für die vorläufig genehmigten Projekte vorgesehenen Beträgen um etwa 3,5 Mrd. Euro hinterher, da die Banken mit ihrer endgültigen Genehmigung zurückhaltend sind. Die RRF könnte bis 2026 bis zu 1,5 Prozent zum BIP-Wachstum beitragen, wobei die Nichtausschöpfung ihres Potenzials dazu führen wird, dass das Wachstum hinter den derzeitigen Schätzungen zurückbleibt.

Zu den weiteren Faktoren, die die Prognosen negativ beeinflussen könnten, gehören Naturkatastrophen aufgrund des Klimawandels, eine Verschärfung der Arbeitsmarktbedingungen und schleppende Reformen, die Produktivitäts- und Wettbewerbsverbesserungen behindern.

Die Bank von Griechenland spricht auch ein für die griechischen Behörden unangenehmes Thema an, nämlich die Tatsache, dass die Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt die griechischen Haushalte finanziell überfordern, da der Anstieg der Immobilienpreise das verfügbare Einkommen deutlich übersteigt. Einer der Faktoren, der zur Verdrängung griechischer Haushalte vom Immobilienmarkt geführt hat, ist die Nachfrage aus dem Ausland, die durch das Goldene Visum und durch Plattformen für die kurzzeitige Vermietung [z.B. Airbnb] verursacht wird.

Die BoG begrüßt die jüngsten Maßnahmen der griechischen Behörden zur Verschärfung der Anforderungen für das Goldene Visum und zur Regulierung des Marktes für kurzfristige Vermietungen. Dies geschah jedoch erst auf Druck der Opposition, insbesondere der PASOK, und auch erst, nachdem diese Entwicklung tiefe Spuren hinterlassen hatte, obwohl die Daten deutlich zeigen, dass der griechische Immobilienmarkt aufgrund eines erheblichen Angebotsmangels besonders empfindlich auf Nachfragedruck reagieren dürfte.

Ein weiteres, für die griechische Regierung schmerzhaftes Thema wurde vom parlamentarischen Haushaltsbüro (PBO) angesprochen. Demnach entfallen von einer kumulierten Inflation von 16 Prozent von Ende 2019 bis zum ersten Quartal 2024 mehr als 9 Prozent auf die Unternehmensgewinne und nur 4 Prozent auf die Arbeitskosten. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass ein Großteil des Preisanstiegs, der nach der Erholung von der Pandemie und der durch den Ukraine-Konflikt ausgelösten Energiekrise ein globales Phänomen war, in Griechenland inländische und strukturelle Merkmale aufweist.

Die Oppositionsparteien argumentieren seit mehr als zwei Jahren, dass die Regierung die Verschlimmerung der Situation zugelassen hat, weil sie sich von dem durch die Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) geschaffenen fiskalischen Spielraum blenden ließ, der zu mehreren Unterstützungsinitiativen führte, die in Form von Verkäufen und Gewinnen einfach in den Kassen der Oligopole landeten.

In diesem Zusammenhang argumentiert der PBO, dass eine Senkung des Mehrwertsteuersatzes auf bestimmte Waren angesichts des geringen Wettbewerbs und der geringen Aufsicht auf dem griechischen Markt nicht das gewünschte Ergebnis bringen würde, da sie höhere Gewinne zur Folge hätte und die Preise nicht senken würde, was sich wiederum negativ auf die Mehrwertsteuereinnahmen und die Steuereinnahmen auswirken würde.

Einige positive Entwicklungen an der finanzpolitischen Front ergaben sich aus Berichten dieser Woche, wonach Griechenland und die Europäische Kommission in Verhandlungen eingetreten sind, um den finanzpolitischen Kurs auf der Grundlage festzulegen, dass die Ausgabenobergrenze gemäß den jüngsten SWP-Regeln um 3% pro Jahr steigen darf. Beamte des Finanzministeriums haben offenbar mitgeteilt, dass dies einen ausreichenden fiskalischen Puffer schafft, um das 880-Millionen-Euro-Paket an politischen Interventionen, das die Regierung für das nächste Jahr plant, umzusetzen.

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[* Die RRF ist Teil des NextGenerationEU-Förderprogramms und eine Förderlinie, die Zuschüsse und Darlehen zur Unterstützung von Reformen und Investitionen in den EU-Mitgliedstaaten bereitstellt.]

In […] stehende Passagen sind Erläuterungen des Übersetzers.

Wie der Klimawandel Wohlstand und Erinnerung vernichtet

piqer:
Ole Wintermann

Der vom Menschen gemachte Klimawandel zerstört Wohlstand. Vor dieser einfachen Weisheit werden nach wie vor weitestgehend die Augen verschlossen. Dies betrifft nicht nur viele Ökonomen, die sich nicht mit dem Ernst der Lage auseinandersetzen wollen, sondern auch viele Bürger, die nach wie vor glauben, sie könnten ihre Vorstellung von materiellem Wohlstand ohne Rücksicht auf Verluste ewig fortsetzen. In der Zeitung Nantucket Current wird der Fall von Jane und Ben geschildert. Sie haben im Jahre 1988 am westlichen Ende von Nantucket ein Sommerhaus direkt am Wasser gekauft. Damals war das Wasser circa 200 Meter von ihrem Haus entfernt. Im Laufe der letzten 40 Jahre hat sich das Wasser aufgrund des Meeresanstiegs und der Stürme immer mehr dem Haus genähert und bereits die Nachbarhäuser, die vor diesem Haus lagen, verschlungen.

Jane und Ben verzweifeln seit Jahren, weil sie wussten, dass auch ihr Haus innerhalb der nächsten Jahre verschwinden und vom Meer verschlungen werden wird. Sie haben das Haus, das auf 1,9 Million $ geschätzt worden war, nun zu einem Preis von 200.000 $ verkaufen müssen. Dabei hatten sie das Glück, dass der Käufer ein Philanthrop ist und für die restlichen Monate, denen das Haus an Lebensdauer zugesprochen wird, einige Pläne für die Vermietung umsetzen und danach auch das Land weiter nutzen will.

D.h. innerhalb weniger Jahre hat sich der Preis dieser Immobilie um 90 % reduziert, da der Klimawandel die Bedingungen so verändert hat, dass das Haus quasi nutzlos geworden ist. Der Artikel geht auf die finanziellen und emotionalen Schmerzen ein, die mit dieser Erkenntnis verbunden sind und es wird geschildert, dass mit dem Haus auch die Erinnerungen an gemeinsame Familienzeiten untergehen werden. Die Geschichte sollte uns zu denken geben, wie der Klimawandel ganz konkret Wohlstand vernichtet und wir uns selber weiter „in die Taschen lügen“, da wir mit der Anhäufung von Konsumgütern längst mehr Wohlstand vernichten als neu schaffen.

Die AfD sammelt die rechtsradikalen Schmuddelkinder der EU auf

piqer:
Jürgen Klute

Unter dem Titel „Die Rechtsaußen-Parteien im EP sortieren sich um“ habe ich hier am 09.07.2024 auf einen Euractiv-Artikel hingewiesen, der die Neubildung der rechtsextremen Fraktion „Patrioten für Europa“, die von dem ungarischen Präsidenten Viktor Orbán und dem österreichischen Rechtsaußenpolitiker Herbert Kickl initiiert wurde, zum Thema hat.

Mittlerweile hat sich eine weitere rechtsextreme Fraktion unter der Führung der deutschen AfD gebildet. Die AfD hat sich mit ihrer unsäglichen Haltung zu Deportationen und zur paramilitärischen nationalsozialistischen Organisation „SS“ so weit in eine rechtsextreme Schmuddelecke begeben, dass sie aus der ebenfalls rechtsextremen EP-Fraktion ID kurz vor der Europawahl ausgeschlossen wurde.

Fraktionslose Abgeordnete haben im Europaparlament deutlich weniger Einfluss als die in Fraktionen organisierten Abgeordneten. Deshalb hat die AfD – nachdem auch nach der Wahl klar war, dass keine der anderen rechtsextremen Fraktionen mehr mit der AfD zusammenarbeiten will – sich um die Gründung einer neuen rechtsextremen Fraktion bemüht. Nach dem ein erster Anlauf scheiterte, hat der zweite Anlauf nun zum Erfolg geführt. Allerdings um den Preis, dass die AfD nur noch an der rechtsextremen Resterampe die nötige Zahl von MdEP aus der erforderlichen Anzahl von Ländern aufsammeln konnte. Der Name dieser neuen EP-Fraktion lautet „Europa der souveränen Nationen“.

Gareth Joswig hat sich für die taz die Zusammensetzung dieser neuen rechtsradikalen Fraktion genauer angeschaut. Damit gibt es nun vier rechtsextreme Fraktionen im Europäischen Parlament: EKR, ID, Patrioten für Europa und Europa der souveränen Nationen. Das ist einerseits erschreckend. Andererseits ist diese Aufteilung aus demokratischer Sicht machpolitisch vorteilhafter als eine große gemeinsame rechtsextreme Fraktion, die nach der EVP die zweitgrößte Fraktion im EP gewesen wäre und damit deutlich mehr politische Gestaltungsmacht gehabt hätte als diese vier Fraktionen.

Akademiker sitzen nur noch in Meetings herum

piqer:
Rico Grimm

Wer nicht mit seinen Händen arbeitet, sitzt entweder vor einem Computer – oder immer öfter in einem Meeting. Die Meeting-Flut, die viele von uns wahrnehmen, ist real. Seit 1990 ist die Zahl der Meetings, in denen US-Angestellte sitzen, um 50% gestiegen.

Und der Text, den ich euch heute empfehle, ist eine Erlösung für uns Meeting-Geplagten. Wegen solcher Sätze:

Perhaps the most common critique is that many meetings are theatrical presentations of information best conveyed in an email.

Derek Thompson, der Autor, beschreibt auch, was Meetings eigentlich anrichten: Jede 25-minütige Unterbrechung zieht einen Rattenschwanz toter Zeit nach sich, ca. 30 Minuten. Das heißt, dass ein „kurzes“ Meeting fast immer automatisch ein langes ist. Im Text finden wir keine direkte Lösung, aber sie liegt eigentlich auf der Hand: Bei jedem Meeting dreimal nachfragen, ob es nötig ist!

Thomas Müntzer – der Linksaußen der Reformation und wir heute

piqer:
Thomas Wahl

Wenn ich mich richtig erinnere, meinte Ernst Bloch in den revolutionsschwangeren Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg, das Müntzer wieder aktuell werde. Auch wenn wir heute wieder in unruhigen Zeiten leben, nähert sich Arno Widmann dem Phänomen Münzer nicht von dessen Rolle als revolutionärer Anführer im Bauernkrieg her. Er lenkt den Blick auf eine kurze Predigt – Münzer’s sogenannter Fürstenpredigt. Im gewissen Sinn deutet er Müntzer als Wutbürger – könnte man sagen.

Der Priester Thomas Müntzer (ca. 1489-1525) war ein früher Verbündeter Martin Luthers. Die radikalen Ansichten Müntzers führten jedoch zum Zerwürfnis zwischen den beiden. Und so wurde Müntzer

1521 …. aus Zwickau verbannt und floh nach Prag. Er wurde 1523 Pastor in Allstedt in Thüringen und heiratete eine ehemalige Nonne. Im selben Jahr verfasste er die erste rein deutsche Liturgie. …. Die Fürstenpredigt, stammt aus dem Jahr 1524. Er ruft darin die weltlichen Fürsten auf, für eine radikale Gesellschaftsreform einzutreten und sich nicht mit Luthers konservativen Vorstellungen zufrieden zu geben. 1525 war Müntzer einer der Anführer des Bauernkrieges in Thüringen und wurde nach der Schlacht von Frankenhausen (Mai 1525) enthauptet. ….

Die Fürstenpredigt ist wohl Müntzers bekanntester Text und verkündet

eine glühende, utopische Apokalyptik, welche den Eindruck des unmittelbar bevorstehenden Gottesurteils verbreitet.

Widman versucht nun diese Apokalyptik und auch die Rolle des Thomas Müntzers, wie sie etwa in Wikipedia dargestellt wird, für unsere Zeit zu deuten. Müntzer sah sich in seiner Zeit als der Prophet Daniel.

Er weiß, „daß der Geist Gottes sich jetzt vielen auserwählten, frommen Menschen offenbart: eine treffliche, unüberwindliche, zukünftige Reformation wird von großen Nöten sein. Und es muß ausgeführt werden, es wehre sich gleich ein jeglicher wie er will.“ Das Gottesreich wird kommen. Aber nur, wenn die Fürsten dafür sorgen, dass die Gottlosen vernichtet werden. Die haben kein Recht zu leben. Wenn die Fürsten dieser Aufgabe nicht nachgehen, dann müssen die Untertanen sich gegen sie erheben.

Dabei ist Müntzer stolz auf seine Fähigkeit, seine Ansichten als die Gottes auszugeben. Was sicher nicht als Aufklärung im modernen Sinn verstanden werden kann. Aber wir wissen natürlich, dass Menschen sich auch heute

die Verstandesarbeit gerne abnehmen lassen. Von Vorgesetzten oder Meisterdenkern. Wer sich zum Beispiel durch marxistisch-leninistische Texte oder andere Jargons bewegt oder sie gar geschrieben hat, der weiß, wie leicht man hinübergleitet in von anderen bereitete Pfade und wie schwierig es ist, seine eigene Sprache zu finden. Wir weisen nicht mehr, wie Müntzer es tat, Zitate nach. Aber auch wir reden in festen Formeln, auf deren gebetsmühlenartiger Wiederholung wir – oft sogar Gerichte zu Hilfe rufend – bestehen.

Und Müntzer predigt die Vernichtung von jedem, der sich zwischen ihn und sein Bild Gottes schiebt.

Es geht in der „Fürstenpredigt“ um nichts anderes. Wir erfahren nichts über Gott, nichts über das Himmelreich. Stattdessen erklärt Müntzer: „Christus hat befohlen mit großem Ernst (Luk. 19) und spricht: „Nehmet meine Feinde und würget mir sie vor meinen Augen.“

Widman macht deutlich, Müntzer aber auch Luther und andere wurden vom Zorn geleitet. Um dann zu warnen, dass in diesen Zornpolitiken damals der europäische Humanismus zerrieben wurde.

Zornbeben haben immer wieder die Geschichte durchgerüttelt. Rache mag süß sein, aber sie zerstört nur. Das ist eine sehr alte Erkenntnis. Seit knapp zweitausend Jahren ist sie uns vertraut.Das hindert uns aber nicht daran, uns von den nächsten Zornpolitikern vor ihren Karren spannen zu lassen.

Nehmen wir uns das zu Herzen, Apokalypse und Hass sind offensichtlich sehr schlechte Ratgeber.